Das Establishment erleidet einen Pyrrhussieg

Frankreich Wie erwartet gewinnt der naivste Kandidat knapp den ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen. Es ist der als unabhängig maskierte Kandidat der Eliten.

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Am 22. April 2012 gewann Françoise Hollande mit 28,6% der Stimmen knapp den ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen gegen Nicolas Sarkozy (27,2%), Marine Le Pen (17,9%) und Jean-Luc Mélenchon (11,1%) landeten abgeschlagen auf dem dritten und vierten Platz. Die Stichwahl am 6. Mai gewann Hollande ein wenig komfortabler mit 51,6% der Stimmen, vor allem aber gewann seine Sozialistische Partei die Parlamentswahlen am 10. und 17. Juni 2012 (während meiner ersten Radtour Genf-Nizza) und hatte mit ihren Bündnispartnern bis 2014 eine Mehrheit in beiden Parlamentskammern. Hollande blieb ohne politische Handlungsoptionen, konnte keines seiner Vorhaben durchsetzen und genoss während meiner zweiten Radtour Genf-Nizza im Juni 2014 noch Zustimmungswerte um 12%.

Heute hat Emmanuel Macron (etwa 24%) den ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen wohl etwas vor Marine Le Pen (etwa 22%) gewonnen, den zweiten Wahlgang am 7. Mai wird er aller Voraussicht nach sehr deutlich gewinnen. Die Parlamentswahlen am 11. und 18. Juni wird seine Partei En marche! aller Voraussicht nach nicht gewinnen. Es handelt sich auch nicht eigentlich um eine Partei, sondern um die Antithese zur Parteiendemokratie, nämlich eine Wahlkampfbewegung für den Führer Emmanuel Macron, welche nach dessen eigenen Worten die „als steril empfundenen parteiischen Spaltungen“ überwinden soll (Quelle: Wikipedia). Der Führerbezug geht hin bis zu den gleichen Initialen und der Gründung im Geburtsort von Emmanuel Macron. Einzelne Parlamentarier verschiedener Parteien (Sozialisten, Radikale Linke, Rechts-Mitte-Partei UDF, liberale Partei Mouvement démocrate, Pendant der Grünen Parti écologiste) unterstützen diese Bewegung. Nett ausgedrückt kann man von einer Volksfront-Bewegung gegen Le Pen, gegen den Nationalismus an sich und für eine Perspektive Frankreichs in der EU und im westlichen Bündnis reden. Die bekannteren Unterstützer sind die ehemalige Außenhandelsministerin Nicole Bricq und der Bürgermeister von Lyon Gérard Collomb (Sozialisten), der ehemalige Minister für den Öffentlichen Dienst und die Reform des Staates Renaud Dutreil (UDF), der ehemalige Wirtschafts- und Finazminister Jean Arthuis (damals UDF, jetzt Parlamentarier einer zentristischen Kleinpartei), François Bayrou (Präsident des Mouvement démocrate) und François de Rugy (Vorsitzender der Parti écologiste und Vizepräsident der französischen Nationalversammlung).

Emmanuel Macron ist in jeder wesentlichen Hinsicht der Kandidat des Establishments – in seinen neoliberalen Anschauungen, seiner unkritischen Haltung zur konfrontativen westlichen Außenpolitik und als Spitzenabsolvent der École nationale d’administration (ENA). Aus den „Enarques“ konstituieren sich traditionell die politischen und ökonomischen Eliten Frankreichs. Oberflächlich betrachtet hätte man vielleicht François Fillon die Rolle des Kandidaten des Establishments zuordnen können, dieser aber unterstützt den konfrontativen außenpolitischen Kurs nicht. Eben das dürfte ihn die französische Präsidentschaft gekostet haben, die ihm sonst sicher in den Schoß gefallen wäre.

Emmanuel Macron ist auserkoren, für Frankreich das zu werden, was Tony Blair für Großbritannien und Gerhard Schröder für Deutschland war – der formell aus der Sozialdemokratie stammende Politiker, der das Land auf einen neoliberalen Kurs bringt. Anders als Tony Blair und Gerhard Schröder kann er allerdings nicht damit rechnen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung diese Umgestaltung akzeptiert, schon weil er nicht auf einen Politiker der konservativen Seite folgt. Mit dem Verweis auf die wirtschaftliche Stärke Deutschlands ist in Frankreich nicht gut zu argumentieren und das Argument ist auch hanebüchen. Weder können alle westlichen Länder ihre Beschäftigungsquote dadurch erhöhen, dass sie mit im Vergleich zu ihrer Arbeitsproduktivität und zum Ausbildungsstand ihrer Arbeitskräfte billigen Löhnen einen Außenhandelsüberschuss von 7-9% erzielen, noch ist das in irgendeiner Weise sinnvoll. Die Produktion von Waren und Investitionsgütern eigens zum Verbrauch in anderen Ländern ist nationalökonomisch gesehen für die Masse der Bevölkerung ein Verlustgeschäft- sie nutzt nur den Kapitaleignern der Firmen, die dadurch Eigentum in anderen Ländern erwerben.

Obwohl Macron als Enarque außerordentlich gut vernetzt ist, wird es ihm schwerfallen, ohne eine Parlamentsmehrheit zu regieren. Dass er eine solche organisieren kann, ist angesichts der Stimmenverteilung im heutigen Wahlgang eher unwahrscheinlich. Die Anhänger Le Pens und Mélenchons kann man sicher der Gegenseite zurechnen, einen großen Teil der Wähler Fillons und Hamons wohl auch. Hinzu kommt, dass es En marche! zwar möglicherweise gelingen wird, wie beabsichtigt in allen Wahlkreisen zur Parlamentswahl Kandidaten aufzustellen, dass es aber höchst unwahrscheinlich ist, dass sich die Fraktion hinterher auf eine kohärente Politik wird einigen können.

Unwahrscheinlich ist auch, dass Macron die Nerven haben wird, sein angekündigtes Programm gegen Widerstand durchzusetzen. Er hat bereits vor der Wahl mit Kritik am deutschen Außenhandelsüberschuss und dem Verlangen nach mehr Polizei den Augenblicksstimmungen der Öffentlichkeit nachgegeben. Er erscheint selbstverliebt und wird deshalb einem Liebesentzug durch die Öffentlichkeit schwer standhalten können. Die Attraktivität des jungen Revolutionärs wird ihm schnell abhandenkommen, wenn die Öffentlichkeit bemerkt, dass ein 40jähriger ehemaliger Investmentbanker der Firma Rothschild keine sehr plausible Besetzung für diese Rolle ist.

Der Verlauf der diesjährigen französischen Präsidentschaftswahl ist allerdings weniger frankreichspezifisch als der erste Augenschein nahelegt. Der Kandidat der etablierten Eliten fand es nötig, als Unabhängiger anzutreten. Das hatten wir bereits bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl. Die Parteien zeigen Auflösungserscheinungen. Das ist auch an den Republikanern in den USA zu beobachten. Aus ehemals debattierenden Parteien mit erkennbaren politischen Profilen werden Einpersonen-Veranstaltungen (Projekt Lindner, Projekt Merkel, Projekt Schulz-Zug). Wer das Prinzip nicht begreift, riskiert das politische Aus. Obwohl erhebliche Teile der deutschen Bevölkerung bis hin zur Absurdität auf der „Öko“- und „Bio“-Welle schwimmen, muss die Partei der Grünen befürchten, bei den Bundestagswahlen im Herbst an der 5%-Hürde zu scheitern und warum: Weil sie noch eine Partei mit vielen unabhängigen Köpfen ist.

Die Parteiendemokratie befindet sich in einer schweren Krise. Wenn Macron Erfolg haben will, wird er sie in Frankreich überwinden müssen. Die Chancen dafür stehen sehr schlecht. Wahrscheinlicher ist, dass in Frankreich ein weiteres Kapitel des Versagens der Parteiendemokratie in den Augen der Bevölkerung geschrieben wird. Sollte Macron allerdings doch der Übergang von einem Parteiensystem zu einer rein technokratischen Elitenherrschaft gelingen, den er anstrebt, so wird auch das der Parteiendemokratie in anderen europäischen Ländern nicht guttun.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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