Das Phänomen Greta Thunberg

Infantilismus Die politischen Eliten hofieren eine Sechzehnjährige mit kruden Ideen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Als ich ein vierzehnjähriger Junge war, war mein Vater derart ignorant,

dass ich es kaum aushalten konnte, wenn er zugegen war.

Nachdem ich das einundzwanzigste Lebensjahr erreicht hatte,

stellte ich jedoch erstaunt fest, wieviel er in den sieben Jahren gelernt hatte.

Mark Twain

Diagnose

Zugegeben, das Twain-Zitat habe ich aus der aktuellen 9. Nummer der „42“ entwendet, dem Magazin für kritisches Denken der ETH Zürich und es taucht dort auch im gleichen Kontext auf. Darüber befindet sich allerdings ein Artikel, dessen Autor ganz anders argumentiert als ich es im Folgenden tue. Das Twain-Zitat setzt also einen Kontrapunkt zu dem Artikel. Genau das ist ein Kennzeichen kritischen Denkens. Ein Sachverhalt wird von verschiedenen Seiten betrachtet. Die aktuelle Annäherung an die Wahrheit wird im Diskurs gefunden. Sie steht nicht schon unabhängig von Argumenten fest. Selbst wenn man sich dann auf eine Annäherung geeinigt hat, so versteinert diese nicht zum Dogma. Sie ist weiterhin ein Objekt des Skeptizismus. Scheinbar können das viele Interessengruppen nicht mehr akzeptieren und wollen lieber feststehende Partikularwahrheiten deklarieren. So kann Gesellschaft nicht funktionieren.

Mich interessiert in diesem Blog weniger Greta Thunberg selbst, die ich für eine im Großen und Ganzen normale Teenagerin halte, Asperger-Syndrom hin oder her. Dass Teenager rebellieren, ist nun wirklich nicht unüblich und irgendein Grund findet sich für die Rebellion. Wenn sie gereift sind, ihre Ideen abgemildert und verfeinert haben und selbst die Geschicke der Gesellschaft bestimmen, setzen sie in der Regel auch einige der Ideen um. So entwickelt sich die Gesellschaft – ob immer zum Besseren, sei dahingestellt.

Mich interessiert die Reaktion der Gesellschaft auf Greta Thunberg, denn so unerheblich das Mädchen selbst für die Geschicke der Welt sein mag (die Halbwertszeit von Medienmoden ist recht kurz), so erschreckend ist die Diagnose, die aus dieser Reaktion folgt.

Und hier habe ich nun doch noch eine eigene Anekdote. Sie spielt 1969 in der DDR in der Schulklasse meines älteren Bruders. Es war sein erstes Schuljahr. Ein anderer Junge brach plötzlich in Tränen aus. Die Klassenlehrerin wandte sich ihm zu und fragte, was denn geschehen sei. Gerdchen schaute aus dem Fenster und antwortete: „Draußen ist so schönes Wetter und wir müssen hier drin sitzen.“ Die Lehrerin hat Gerdchen erklärt, warum das so sein muss. Sie hat ihn nicht gehen lassen. Gerdchen hat das überwunden und am Ende der Schulzeit ist aus ihm etwas Ordentliches geworden. So einfach waren die Dinge, als noch jeder verstand, dass Erwachsene ein paar Dinge besser einschätzen können als Kinder.

Das politische Programm der Greta Thunberg

Ich habe keinen längeren Text der schwedischen Schülerin oder Nicht-Schülerin gefunden, in dem sie erklären würde, was sie nun genau erwartet und wie das funktionieren soll. Zugegebenermaßen wäre das von einer gerade sechzehn Jahre alt Gewordenen auch etwas viel verlangt – aber genau das ist mein Punkt. Dennoch hätte natürlich mal jemand mit ihr über ihre Sorgen und ihre Schlussfolgerungen daraus reden müssen. Natürlich nicht der UN-Generalsekretär oder andere führende Politiker oder Manager. Das ist einfach nur absurd, auch wenn dem UN-Generalsekretär das Gespür für diese Absurdität abging. Ihre Eltern hätten es tun sollen und ihre Lehrer. Wenn die schon nicht dazu in der Lage waren, hätten es die Leute mit politischer Erfahrung und einer Ahnung von der Komplexität der Welt tun müssen, die sich um sie gekümmert haben, ehe sie auf internationalen Konferenzen auftauchte, mit nichts als ein paar undurchdachten Absätzen Text in der Hand.

Immerhin gibt es den Text, der „viral“ gegangen ist und den ich in der Mitschrift der Geneva Business News analysiere. Irgendjemand muss ja mal auf die Argumente antworten – oder auch auf deren Fehlen.

Nach dem Vorstellungssatz enthält der erste Absatz etwas Chuzpe bezüglich der eigenen Wirkmacht und dann eine Aneinanderreihung diffuser Anschuldigungen gegen die Zuhörer bei der Klimakonferenz der UN in Polen. Sie trat dort für Climate Justice Now! auf, eine 2007 gegründete Organisation, deren ursprüngliche Homepage auf dem Stand von 2012 einfror und auch seitdem durch die Erderwärmung nicht wieder geschmolzen ist (ja, ich weiß, dass es auch eine aktuelle gibt).

Der erste inhaltliche Absatz endet mit der Feststellung, es sei die einzig vernünftige Reaktion, die Notbremse zu ziehen. Das wird nicht näher begründet und Greta Thunberg führt auch nicht aus, was sie darunter versteht. Nehmen wir mal an, sie wolle alle CO2-Emissionen sofort stoppen. Die Menschheit würde dadurch von heute auf morgen kollektiv ins Mittelalter zurückfallen, Hungersnöte, ein Zusammenbruch der medizinischen Versorgung und Massenmigration von Norden nach Süden wären die Folge. Während man einen Zug durch eine Notbremse stoppen kann, würde das bei der Energieversorgung durch fossile Brennstoffe ganz offensichtlich ein apokalytisches Szenario sein. Tut nichts zur Sache für Greta-Thunberg-Anhänger.

Dann kommt der Satz, mit dem Greta Thunberg unbedingt Recht hat, nur auf andere Art, als sie denkt. „Ihr seid nicht reif genug, zu sagen, wie die Lage ist.“ Das Kind sagt, der Kaiser sei nackt und in der Tat ist der Kaiser auch nackt. Greta Thunberg trifft fortwährend auf unreife Erwachsene, auf allen Ebenen. Deren Unreife kann man daran erkennen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, Kindern und Teenagern Grenzen zu setzen. Und die Politiker, die sie trifft, sind eben auch nicht reif genug, Greta Thunberg zu erklären, wie die Lage wirklich ist, mit einem Bevölkerungswachstum aus dem unweigerlich ein steigender Energiebedarf folgt und mit einer komplex und global verflochtenen Weltwirtschaft, in der es keine einfachen und radikalen Lösungen für irgendetwas geben kann. Die Positionen, welche die Politiker verteidigen müssten, haben sie lange vorher selbst geräumt, um sich bei irgendwie grünen Wählern mit zumeist großem eigenem ökologischen Fußabdruck anzubiedern.

Im nächsten Satz behauptet Greta Thunberg, dass unsere Zivilisation geopfert würde, ohne das irgendwie zu begründen. Fakt ist, dass Lebenserwartung, der Gesundheitszutand und Lebensstandard weltweit ungebrochen steigen und die Zahl hungernder oder unter der absoluten Armutsgrenze lebender Menschen abnimmt, obwohl die Gesamtzahl der Menschen stark zunimmt. Die technologisch-industrielle Wirtschaftsweise ist beeindruckend erfolgreich und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass dieser Trend demnächst gebrochen würde.

Später meint sie, Politiker sollten sich auf das konzentrieren, was gebraucht würde, statt auf das, was politisch möglich sei. Man kann die Naivität nicht weiter treiben. Politik kann im besten Fall ein Bemühen sein, das Gebrauchte auch politisch möglich zu machen – nur ist eben nicht eindeutig feststellbar, was das Gebrauchte ist. Genau dieser Punkt ist Gegenstand der politischen Diskussion, die Greta Thunberg nicht versteht.

Im vorletzten Absatz, bevor sie zum Schluss wieder die Zuhörerschaft beleidigt, stellt sie fest, wenn Änderungen innerhalb des Systems nicht möglich seien, müsse man eben das System ändern. Einen Vorschlag für ein anderes, das wenigstens das Gleiche leistet wie das gegenwärtige hocheffiziente, macht sie nicht.

Das mag auch auf dem Niveau einer Sechzehnjährigen keine hervorstechend intelligente Argumentationsweise sein, aber es geht an. Man muss bei Greta Thunberg selbst nicht von Infantilismus reden. Bei vielen Erwachsenen, die diese Rede haben viral werden lassen und bei vielen Journalisten und einigen Politikern, die ihr beipflichten, hingegen schon.

Ist ihr Asperger-Syndrom relevant?

Man darf sich die Frage stellen, ob es unfair ist, Greta Thunbergs Auftreten und Gedankenwelt auch unter dem Aspekt ihres Asperger-Syndroms zu diskutieren oder ob gerade das vonnöten ist. Zu den Diagnosekriterien nach Gillberg zählen „Soziale Beeinträchtigung“, „Eingegrenzte Interessen“ (darunter: repetitives Verfolgen der Aktivität) und gewisse Defizite im Sprachverständnis (Ironie, nichtwörtliche Bedeutungen) und sprachlichen Ausdruck (pedantische Sprache). Im englischen Sprachraum, verwenden Asperger-Autisten selbstironisch den Begriff „Wrong Planet Syndrome“, ein Gefühl, auf einem falschen Planeten zu leben, auf dem sie die Regeln und die anderen Bewohner nicht verstehen. Vielleicht bin ich ja allein damit (als Wissenschaftler habe ich selbst einen gewissen Autismus, ein Spock-Syndrom sozusagen), aber mir scheint, dass ihr Auftreten und ihr Text zu diesen Befunden passen. Hier noch eine Selbstdiagnose der Autistin Temple Grandin, die eine Kapazität auf dem Gebiet von Anlagen für die kommerzielle Viehhaltung ist: „Ich weiß nicht, was eine vielschichtige Emotion in einer zwischenmenschlichen Beziehung ist. Ich verstehe nur einfache Emotionen wie Wut, Furcht, Glück und Traurigkeit.“

Interessanter als die Person Greta Thunberg ist aber wieder die Reaktion ihrer Umgebung. Dass ihre Sichtweise viral ging, verwundert kaum, denn heutzutage scheinen in westlichen Ländern viele unter einem „Wrong Planet Syndrom“ zu leiden, ohne im Geringsten autistisch zu sein. Obwohl das als Erklärungsmuster für eine ganze Reihe politischer Phänomene einen gewissen Wert haben mag, ist es hier doch nur von mildem Interesse, denn auf die Aktivisten, Politiker und Journalisten, die das Phänomen Greta Thunberg gemacht haben, dürfte es in der Mehrheit nicht zutreffen. In diesem Zusammenhang gibt es jedoch einen sehr unappetitlichen Aspekt – die Instrumentalisierung der Greta Thunberg und ihres Asperger-Syndroms.

Instrumentalisierung

Wenn ein (damals) fünfzehnjähriges, mild autistisches, von einer fixen Idee beseeltes Mädchen jeden Freitag die Schule schwänzt und mit einem Plakat vor dem Parlament steht, passiert normalerweise gar nichts (außer, dass verantwortungsvolle Eltern und Lehrer versuchen, ihr das auszureden). Jemand hat in diesem Verhalten eine Chance gesehen, die eigenen politischen Ziele zu befördern, im Falle von Ingmar Rentzhog, auch wirtschaftliche Ziele. Ob das Asperger-Syndrom eine Krankheit ist, ist umstritten. Dass diese Leute im umgangssprachlichen Sinne krank handeln, sollte eigentlich nicht strittig sein. Greta Thunberg hat schon eine depressive Phase durchlebt, in der sie aufhörte zu sprechen und zeitweilig sogar zu essen.

Ich würde sogar so weit gehen, denen, die mit Greta Thunberg Politik machen, die Instrumentalisierung ihres Asperger-Syndroms vorzuwerfen. Die Beißhemmung, die kritische Geister angesichts dieses Handicaps befällt, ist wohl eingerechnet worden, als einige Leute fanden, dass Greta Thunberg ein ausgesprochen gutes Zugpferd vor ihrem Karren abgeben könnte. Thunberg ist wegen ihres Syndroms durch diese Leute auch leichter manipulierbar, denn eine der Folgen ist, dass sie Manipulationsversuche schlechter erkennt.

Rechtspopulisten freilich haben keine Beißhemmung und das war abzusehen. Eine sechzehnjährige Autistin, die schon eine depressive Phase durchlaufen hat, einem vorhersagbaren Shitstorm auszusetzen, scheint mir nicht gerade für hohe ethische Maßstäbe zu sprechen.

Über die Chancen der Rechtspopulisten sagt all das auch etwas aus. Wenn die etwas verkniffene, ältere Halbschwester von Pippi Langstrumpf mit ihren Defiziten im sozialen Verständnis die liberalen Politiker und Journalisten der westlichen Welt vor sich hertreibt, sollte das Gleiche den Rechtspopulisten nicht schwer fallen. Die sind zwar im Großen und Ganzen Idioten, aber von sozialen Situationen, dem Staat, der Wirtschaft und den Grundlagen der Politik verstehen sie um Größenordnungen mehr als Greta Thunberg – übrigens auch mehr als diejenigen, die das Mädchen instrumentalisieren. Fragen Sie sich mal, wie viele Mittelklasse-Eltern es prima finden, dass ihre Kinder freitags demonstrieren, statt zur Schule zu gehen, selbst wenn sie „irgendwie grün“ sind. Das Ganze mag sich in der Echokammer derjenigen, die sich für intellektuelle Eliten halten, ganz nett anfühlen. Eine gesellschaftliche Mehrheit wird es dafür nicht geben, bei Weitem nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

Kommentarfunktion deaktiviert

Die Kommentarfunktion wurde für diesen Beitrag deaktiviert. Deshalb können Sie das Eingabefeld für Kommentare nicht sehen.