Demokratie nach Kiewer Art

Ukraine Trotz der penetranten Propaganda haben 48% der Ukrainer ein positives Bild von Russland. Die anti-russischen Kräfte wollen deshalb freie und faire Wahlen verhindern.

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Die Ausgangslage

Der Soziologe Vladimir Paniotto zeigt sich überrascht über die Ergebnisse einer Langzeitstudie zur gegenseitigen Einschätzung von Ukrainern und Russen. Als Ende Februar dieses Jahres die anti-russischen Kräfte nach einer westlichen Medienkampagne an die Macht kamen, die aber nur zu einem kleinen Teil auf die Ukraine durchgeschlagen war, hatten 80% der Ukrainer ein positives Bild von Russland. Dieser Wert steht in diametralem Gegensatz zu dem Eindruck, den uns die deutschen Medien zu diesem Zeitpunkt zu vermitteln versuchten. Die anti-russische Zielrichtung des Maidan und seiner westlichen Unterstützer war in der ukrainischen Gesellschaft eine Minderheitsposition.

Erstaunlicherweise blieb sie selbst nach der Abspaltung der Krim durch Russland eine Minderheitsposition, obwohl erwartungsgemäß die positive Meinung über Russland stark an Popularität verlor, jedoch nur auf 52%. Sechs Monate zum Teil haarsträubender Propaganda von Kiewer Seite und der Krieg im Donbass haben diesen Wert nur noch wenig beeinflusst, was Paniotto paradox findet. Inzwischen hat nur noch eine Minderheit von 48% ein positives Russland-Bild, aber diese Minderheit ist eben so groß, dass die scharf anti-russische Regierungspolitik das Land spalten muss. Paniotto bemerkt noch, dass die Zustimmung zu Russland natürlich zu einem großen Teil aus der Ostukraine käme, aber eben nicht nur (meine Hervorhebung). Gleichzeitig haben inzwischen nur noch 32% der Russen ein positives Bild von der Ukraine. Paniotto redet von unerwiderter Liebe. Meine eigenen Beobachtungen von vor anderthalb Wochen in Russland, zugegebenermaßen nur unter Intellektuellen, legen eher nahe, dass die Russen weiter eine positive Grundstimmung gegenüber der Ukraine an sich haben, nur eben die Ende Februar an die Macht gekommenen Kräfte stark ablehnen.

Wie auch immer, der Einfluss der anti-russischen Kräfte droht durch den Waffenstillstand im Donbass, eine mögliche Einigung mit der Ostukraine und insbesondere durch die Parlamentswahl am 26. Oktober 2014 drastisch zu schwinden. In fünf von sechs Umfragen seit Ende August liegt die nationalistische Swoboda konsistent unterhalb der 5%-Hürde für den Einzug ins Parlament. Die eine Umfrage, in der die Swoboda auf 9.4% kommt, darf man getrost als Ausreißer oder methodisch fragwürdig betrachten, zumal darin auch Timoschenkos Vaterland ein auffällig höherer Wähleranteil prognostiziert wird, als in allen anderen Umfragen. Analysten führen den Einbruch des Wähleranteils der Swoboda (10,45% der Stimmen bei der Parlamentswahl 2012) auf die Unfähigkeit ihrer Minister in der Regierung Jazenjuk, auf das Verhalten des ehemaligen Generalstaatsanwalts Machnitzkij und insbesondere auf die Unfähigkeit in der lokalen und regionalen Administration der Westukraine zurück, wo die Swoboda Ende Februar die Macht übernommen hatte. Viele von der Swoboda enttäuschte nationalistische Wähler hätten sich daraufhin der Radikalen Partei von Oleh Liaschko zugewandt, deren Wähleranteil in den sechs Umfragen bei 10-14% liegt, die aber erwarten muss, sich gegenüber dem Block Poroschenko (um 40%) in einer Oppositionsrolle wiederzufinden. In dieser Situation findet ein Machtkampf mit nichtdemokratischen Mitteln statt.

Das Lustrationsgesetz

Am 16. September hat das ukrainische Parlament in dritter Lesung und öffentlicher Abstimmung knapp (231 Ja-Stimmen von 450 Abgeordneten) das Gesetz über die Lustration angenommen. Die Abstimmung fand unter dem Druck von Schlägern statt, die den Abgeordneten Vitaly Zhuravsky in eine Mülltonne warfen und mit brennenden Reifen Straßen blockierten. Einer der Ko-Autoren des Gesetzes, Leonid Yemets, äußerte sich so: “Wir haben Abgeordneten der Partei der Regionen erklärt, die Annahme des Gesetzes sei besser für sie, als wenn sie in Mülltonnen landen.” Ziel ist eine Säuberung des Staatsapparats von allen Personen, die während der durch reguläre Wahlen zustande gekommenen Präsidentschaft von Janukowitsch, Verantwortung getragen haben. Ich empfehle jedem Leser, die entsprechende Wikipedia-Seite zu besuchen und einen Moment über das dort abgebildete Logo des ukrainischen Lustrationskomitees zu reflektieren.

In ihrem Artikel „Die heilige Lustration – Warum es die einen trifft und die anderen nicht“ fällt die Glavcom-Journalistin Katerina Peshko ein vernichtendes Urteil über dieses Gesetz. Sie argumentiert, dass von der Lustration all diejenigen ausgenommen seien, die jetzt an der Macht sind. Alle, die zwischen dem 25. Februar 2010 und dem 22. Februar 2014 zusammengenommen mindestens ein Jahr ein hohes Amt innehatten, werden für 10 Jahre von allen Ämtern im Staatsapparat ausgeschlossen. Was immer man über das Vorgehen der Regierung Asarow unter Janukowitsch gegen die Demonstranten zwischen dem 21. November 2013 und dem 22. Februar 2014 denkt: Jeder, der vor oder kurz nach dem 21. November aus seinem Amt ausgeschieden ist, war einfach nur Mitglied einer durch demokratische Wahlen zustande gekommenen Administration, die sich als Kollektiv nichts hatte zuschulden kommen lassen.

Das Gesetz hat 400 Ergänzungen, die einigen Abgeordneten, die mit „Ja“ stimmten, nicht einmal bekannt waren. Die wesentlichste Ausnahme sind Personen in Wahlämtern, wodurch beispielsweise Poroschenko selbst nicht der Lustration unterliegt. Allerdings war Poroschenko 2012 auch nur weniger als ein Jahr Minister im ersten Kabinett Asarow, genauer gesagt 256 Tage. Diese Ausnahme half aber auch, die Zustimmung einiger Abgeordneter aus der Partei der Regionen zu erlangen. Dadurch bekommen die Parlamentswahlen am 26. Oktober zusätzlich die Bedeutung, dass sie für fast die Hälfte der bisherigen politischen Eliten der Ukraine die einzige Möglichkeit sind, weiter Politik zu betreiben. Darauf komme ich später zurück.

Ein Schlupfloch wurde auch für all diejenigen „Wendehälse“ geschaffen, die an der „Anti-Terror-Operation“ (ATO) im Donbass teilgenommen haben. Dieses Schlupfloch soll auch die Kontinuität des Geheimdienstes gewährleisten, denn Personen, die zu Sowjetzeiten eine Hochschule des KGB (außer in technischen Fächern) absolviert haben, unterliegen auch der Lustration. Der gegenwärtige Geheimdienstchef Valentin Nalyvaychenko wäre daher zu entlassen, wird aber wohl als Teilnehmer der ATO definiert werden und sein Amt behalten.

Der auf Lustrationsgesetze spezialisierte Rechtsanwalt Valery Andrejewskij hält laut Katerina Peshko das Gesetz für ein Säuberungsgesetz in der Logik der Sowjetmacht, nicht für eine Lustration. Der Direktor eines Zentrums für Situationsanalyse, Vitaly Bala, stimmt mit ihm überein. Er hält das Gesetz für ein Instrument zur Beeinflussung der Wahlen. Es könne als Werkzeug der gegenwärtigen Regierung benutzt werden, mit dem diese ihre Opponenten bekämpfen könne.

Nachdem Poroschenko vor anderthalb Wochen auf einer Pressekonferenz selbst zugegeben hatte, dass das Gesetz unter fragwürdigen Umständen beschlossen worden sei und angekündigt hatte, es könne nur nach einer umfangreichen Konsultation mit der Öffentlichkeit in Kraft treten, hat er es am 3. Oktober unterzeichnet. Konsultationen hat es keine gegeben. Poroschenkos Pressesekretär Svyatoslav Tsegolko gab dessen Äußerung zu der Unterschrift folgendermaßen wieder: „Ich habe die Entscheidung getroffen, das Gesetz zu unterzeichnen. Die Lustration wird stattfinden! Der Staatsapparat wird von den Agenten des KGB und von der Führung der Partei der Regionen gesäubert.“ (Hervorhebung von mir). Damit gibt Poroschenko offen zu, dass ein wesentliches Ziel des Gesetzes die Verdrängung von politischen Kräften ist, welche die Präsidentschaftswahl 2010 und die Parlamentswahl 2012 gewonnen hatten. Die Parlamentarische Kommission des Europarats hat die Venedig-Kommission damit beauftragt, dieses Gesetz zu überprüfen.

Versuche der Wahlbeeinflussung

Der Analyst Vadim Karasev hat darauf hingewiesen, das Oleh Liaschko eine “Lustration der Straße” zu organisieren versuche. Der Prozess der Lustration benötige einen legitimen Führer. Nach der Meinung Karasevs, sei der von Amnesty International und Human Rights Watch wegen seiner Aktionen im Donbass verurteilte Führer der nationalistischen Radikalen Partei, Oleh Liaschko, dafür am besten geeignet. Die Bürger würden „unter Führung eines außerordentlichen Vollstreckers zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen“. Gemeint ist damit, dass Politiker anderer Meinung verprügelt und in Mülltonnen geworfen werden. Es sei logisch, dass der führende Radikale des Landes den nationalen Radikalismus leite, der zu radikalen Veränderungen im Lande führen werde. Wer sich als Deutscher bei solchen Bildern und Bemerkungen nicht an Beschreibungen der Zustände von 1932/1933 erinnert, will partout etwas nicht sehen, das offensichtlich ist.

Am 30. September wurde der oppositionelle Abgeordnete Nestor Shufrych, der am 26. Oktober wieder als Kandidat bei der Parlamentswahl antreten will (nationaler Listenplatz 7 des Oppositionsblocks), von Angehörigen des Rechten Sektors krankenhausreif zusammengeschlagen und dann in einen Müllkübel geworfen und mit grüner Farbe besprüht. Shufrych wollte in Odessa im Rahmen seines Wahlkampfes eine Pressekonferenz abhalten. In der gleichen Aktion wurde Mykola Skoryk, Stellvertreter des Oblast-Rats Odessa und früherer Gouverneur der Oblast Odessa zusammengeschlagen.

Der Sprecher des Rechten Sektors, Artem Skoropadsky, sagte, man werde in einer Art Volks-Lustration verhindern, dass Leute mit "zweifelhafter Reputation" bei der Parlamentswahl antreten. Inzwischen hat Shufrych gesagt, er fühle sich nicht als Opfer und werde die Pressekonferenz nachholen, sobald der Verband abgenommen sei. Dazu lade er auch die Leute vom Rechten Sektor ein, die sich mit ihm doch mit Argumenten auseinandersetzen sollten, nicht mit Gewalt.

Eine Kampagne läuft auch gegen Valeriy Khoroshkovskyi, einen ehemaligen Minister, der schon im Dezember 2012 zusammen mit Poroschenko aus der Regierung Asarow ausschied, weil er diese Regierung für reformunfähig hielt. Er tritt am 26. Oktober auf der Liste von Tihipkos Partei Starke Ukraine an. Drei Abgeordnete des Blocks Poroschenko hatten ihn von den Wahllisten entfernen lassen wollen, weil er sich vom 28. Dezember 2012 bis zum 21. September 2014 nicht in der Ukraine aufgehalten habe. Das Wahlgesetz schließe Kandidaten aus, die sich in den letzten fünf Jahre vor der Wahl nicht in der Ukraine aufgehalten haben. Dieser Ansicht widersprach das Oberste Verwaltungsgericht der Ukraine und ließ Khoroshkovskyi zur Wahl zu. Der stellvertretende Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, Andrej Magera, bemerkte dazu, dass Gesetz sei so unklar formuliert, dass man auf dessen Grundlage so gut wie jeden Kandidaten ausschließen könne, weil man kaum jemanden finde, der in den letzten fünf Jahren nicht irgendwann mal für eine (medizinische) Behandlung oder einen Urlaub im Ausland gewesen sei.

Daraufhin strengte der Abgeordnete der Radikalen Partei von Oleh Liaschko im Kiewer Stadtparlament, Igor Mosiychuk, der ebenfalls ein Kandidat für die Parlamentswahlen am 26. Oktober ist, ein weiteres Verwaltungsgerichtsverfahren gegen die Zentrale Wahlkommission im Fall Khoroshkovskyi an. Er bringt nun das neue Argument auf, Khoroshkovskyi habe den Rang eines Generals und Militärangehörige dürften nicht als Kandidaten bei Parlamentswahlen antreten. Er sagte, die “Patrioten” müssten jede Anstrengung unternehmen, um Khoroshkovskyi aus dem neuen Parlament fernzuhalten, wenn nötig mit Gewalt (meine Hervorhebung).

Derweil will die Swoboda die Parlamentswahlen in den nicht von der Kiewer Regierung beherrschten Territorien untersagen. Der eigentliche Beweggrund ist klar: Die einzige der letzten sechs Wahlumfragen, in der die Swoboda die 5%-Hürde überspringt, wurde in den Oblasten Luhansk und Donezk nur in den Gebieten durchgeführt, in denen Kiew das Sagen hat. Offiziell begründet die Swoboda ihren dementsprechenden Gesetzentwurf, über den am 7. Oktober abgestimmt werden soll, aber natürlich anders. Im 41. Wahlkreis in Donezk würde der Kommunist Igor Kalyetnik kandidieren, der am 16. Januar ein “diktatorisches Gesetz” organisiert habe und im 105. Wahlkreis in Luhansk der Bürgermeister der Stadt, Sergei Kravchenko, der das illegale Referendum im Mai unterstützt habe. Der folgende Satz ist wörtlich übersetzter Originalton von Glavcom: “Der Führer der Swoboda sagte auch, dass die nationalistische Fraktion dem Parlament bereits den Gesetzentwurf N5123 unterbreitet habe, der die Wahlkommission verpflichte zu erklären, dass die Wahl in den Wahlkreisen nicht stattfinden werde, in denen die ATO noch laufe."

Fazit

In der Ukraine sind totalitäre Tendenzen unübersehbar. Noch gibt es Institutionen, wie das Oberste Verwaltungsgericht und die Zentrale Wahlkommission, die sich diesen Tendenzen entgegen stellen. Nachdem die “Lustration” erfolgt ist, wird dieser Widerstand aller Wahrscheinlichkeit nach gebrochen sein. Etwa die Hälfte der politischen Eliten des Landes wird verdrängt sein und etwa die Hälfte der Bürger wird keine politische Vertretung ihrer Interessen mehr haben.

Man könnte etwas weniger schwarz sehen, denn die Wahl wird aller Wahrscheinlichkeit nach der Block Poroschenko gewinnen und er wird im Parlament entweder eine absolute Mehrheit erreichen oder eine Koalitionsregierung mit gemäßigten Kräften bilden können und wollen. Poroschenko selbst will eine einige Ukraine, neigt bisher nicht zur politischen Vernichtung seiner Gegner und weiß, dass die Ukraine ohne eine minimale Übereinkunft mit Russland nicht stabilisiert werden kann.

Klar ist aber auch, dass Leute wie Liaschko, Jazenjuk, Turtschinow, Arsen Awakow, Andriy Parubiy, Julia Timoschenko, Tjanibok von der Swoboda, Jazenjuk, der gewalttätige Gouverneur von Dnjepropetrowsk, Ihor Kolomoyskyi, sowie der Rechte Sektor ihre Niederlage nicht akzeptieren werden. Vielen von ihnen haben ja schon ihre Niederlagen von 2010 und 2012 nicht akzeptiert und diesmal haben sie paramilitärische Kräfte zur Verfügung. Der Ukraine stehen weitere unruhige Monate bevor.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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