Denn sie wissen nicht, was sie tun

Covid-19 Die Gutenberg Covid-19 Studie erklärt sehr gut, warum und wie die Wissenschaft derzeit die Gesellschaft fehlleitet.

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Am 20. Dezember hat ein Team der Mainzer Universitätsmedizin in einer großen PR-Aktion Zwischenergebnisse der Gutenberg Covid-19 Studie vorgestellt. Bereits der Name der Studie ist PR – Gutenberg hatte gar nichts mit Infektionskrankheiten zu tun. Selbst die Mainzer Universität schmückt sich nur mit dem Namen des größten Sohnes der Stadt, ohne dass es einen historischen Bezug gäbe. Die Präsentation fand ein großes Medienecho. In einer Zeit stark zurückgehender Infektionen lechzt der deutsche Journalismus nach Botschaften, mit denen man den Angstzustand der Bevölkerung aufrechterhalten kann. Und solch eine Botschaft wurde hier geliefert: 40% aller wissentlich oder unwissentlich Covid-19-Infizierten haben „Long Covid“. Sie beklagen sich noch Wochen bis Monate nach der Infektion über Abgeschlagenheit, Kurzatmigkeit oder andere Beschwerden.

Da kann schon mal übersehen werden, dass 22% aller nicht Infizierten sich ebenfalls über solche Beschwerden beklagte, wie der Sprecher der Studie, Prof. Philipp Wild, gegenüber dem SWR einräumte. Andere Medien unterschlugen diese Information. Das kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen, dem Team der Gutenberg Covid-19 Studie hingegen schon. Diese Information findet sich nämlich weder in der Pressemitteilung noch in den Schaubildern der Präsentation auf dem Dashboard. Ich darf ohne jede Unfairness feststellen, dass Pressemitteilung und Präsentation die Öffentlichkeit irreführen.

Immerhin erfährt man aus der Pressemitteilung, dass nur etwa 5% der Studienteilnehmer infiziert waren. Es lässt sich dann leicht nachrechnen, dass reichlich zehnmal so viele nicht infizierte Teilnehmer über Beschwerden klagten wie infizierte. Wonach genau die Teilnehmer gefragt wurden, erfährt man zwar nicht. Wenn es allerdings um Symptome ging, die während der Corona-Krise irgendwann neu aufgetreten sind, dann liegt der Verdacht nahe, dass sie bei den nicht Infizierten den Covid-Maßnahmen und der Corona-Stimmung geschuldet sind. Angesichts dessen, dass die Inzidenz unter nicht Infizierten reichlich halb so groß ist wie unter Infizierten, dürfte dann der Anteil der Maßnahme-Geschädigten auch unter den Infizierten erheblich sein. Insgesamt ist das Bild also dem vom Team und den Medien verbreiteten entgegengesetzt – die Belastung der Gesellschaft durch die Maßnahmen ist wohl sehr viel größer als diejenige durch die Infektionen.

Die Probleme gehen aber noch tiefer. Was ebenfalls keinen Eingang in Pressemitteilung oder Präsentation fand, von Wild gegenüber dem SWR jedoch eingeräumt wurde, ist Folgendes. Die Symptome sind unspezifisch. Es gibt keine Definition von Long Covid, die den üblichen Standards der Diagnostik entsprechen würde. Wild sagte dem SWR, man könne daraus nicht schließen, dass es Long Covid gar nicht gäbe. Das stimmt. Die bisherige Studie kann diese Frage gar nicht beantworten, weil ihr Design dazu ungeeignet war. Nur verbreiten das Team und die Medien eben die Behauptung, dass 40% der Infizierten Long Covid hätten. Das ist, strenggenommen, Betrug.

Wenn man die Frage betrachtet, ob es Long Covid überhaupt als spezifisches Krankheitsbild gibt und wie hoch dann die Inzidenz ist, muss man die erfassten Beschwerden infizierter Teilnehmer von denjenigen trennen, die nach jeder schweren Krankheit – oder auch nach einem Unfall – üblicherweise für längere Zeit auftreten. Nichts spricht dagegen, solche Beschwerden am Beispiel von Covid-19 detaillierter zu untersuchen. Das kann auch dann sinnvoll sein, wenn es Long Covid nicht gibt oder dieses sehr selten ist. Alles spricht aber dagegen, der Öffentlichkeit einzureden, dass die in der Studie abgefragten Beschwerden spezifisch für eine durchlaufene Covid-19-Infektion seien. Wer so etwas tut, hat längst den Boden verlassen, auf dem intellektuell redliche Wissenschaftler stehen.

Wonach die Mainzer Mediziner eigentlich genau gefragt haben, geht weder aus der Pressemitteilung noch aus der kurzen Präsentation hervor. Ich habe deshalb recherchiert, ob die Zwischenergebnisse irgendwo im Detail publiziert wurden, sei es auch nur vorab als Manuskript. In den Verlautbarungen des Teams findet sich dazu nichts. Meine Suche auf medRxiv blieb erfolglos. Angesichts der kurzen Zeit bis Weihnachten habe ich sowohl die als Kontakt angegebene Sprecherin der Unternehmenskommunikation Universitätsmedizin Mainz, Barbara Reinke, als auch Herrn Wild per E-Mail angefragt. Im Fall Wild bekam ich die „Automatische Antwort“, dass er bis zum 3. Januar nicht erreichbar sei. Von Frau Reinke bekam ich gar keine Antwort.

Auch aus der wenigen verfügbaren Information kann man aber bereits schließen, dass die Mainzer Universitätsmediziner nicht wissen, was sie tun. Sollte ich das nicht netter sagen? Wenn das in Mainz ein Einzelfall wäre, hätte ich mich sicher diplomatischer ausgedrückt. Angesichts dessen, dass derartige Fehlinformation der Gesellschaft durch die Wissenschaft im Fall von Covid-19 seit März 2020 dominiert und dass die Gesellschaft die Situation deshalb gravierend falsch einschätzt, ist Nettigkeit jedoch aus meiner Sicht inzwischen nicht mehr angebracht.

Folie 12 der Präsentation stellt die Behauptung auf, die Daten würden belegen, dass bewusstes Abstandhalten das Infektionsrisiko um die Hälfte verringert und das ständige Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes um ein Drittel. Tatsächlich ist der prozentuale Anteil Infizierter unter denjenigen geringer, die angegeben haben, ständig Abstand zu halten (3.0%), als unter denjenigen, die das nie oder selten tun (6.2%). Er ist auch bei denjenigen geringer, die sehr getreu Masken tragen (3.5%), als bei denjenigen, die angeben, das nur gelegentlich oder häufig zu tun (6.1%) und denjenigen, die es selten oder nie tun (6.2%). Dem Team scheint allerdings nicht aufgefallen zu sein, dass das ganz sicher keine unabhängigen Variablen sind. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass beide Verhaltensweisen sehr stark korrelieren. Man kann daher nicht ohne Weiteres schließen, dass sie beide schützen. Das ist nun wirklich ein Anfängerfehler bei der Auswertung von Daten.

Schließen kann man aus diesen Daten nicht einmal, dass auch nur eine dieser Verhaltensweisen schützt. Vielleicht waschen sich die besonders Vorsichtigen ja auch häufiger die Hände und verkehren überwiegend mit anderen Vorsichtigen und das erklärt schon den ganzen Effekt. Oder die besonders Vorsichtigen haben weniger Sex oder weniger Sexualpartner. Wir wissen all das nicht und wir wissen auch nicht, ob es etwas ausmacht und wieviel. Da sogar unter Personen im gleichen Haushalt die Übertragungswahrscheinlichkeit in Studien in New York nur 38% und in Zuhai (China) nur 32% betrug, ist selbst die Sexhypothese nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen.

Das Schließen auf Einzelursachen ohne multivariate Analyse der Daten macht die vorgestellten Ergebnisse ungültig. Die öffentliche Präsentation solcher Schlussfolgerungen gibt zudem Anlass zu der Frage, ob das Team überhaupt eine sinnvolle Studie designen und durchführen kann. Wer Daten so analysiert, ist beim Entwerfen von Fragebögen zur Datenerfassung sicher überfordert. Wenn man Fehlschlüsse vermeiden will, ist die Datenerfassung viel schwieriger als die statistisch saubere Analyse. Aber vielleicht ist es ja auch gar nicht das Ziel, Fehlschlüsse zu vermeiden.

Es ist wirklich kein Einzelfall. Viele Leser werden die Diskussion um Long Covid bei Kindern kennen. Angesichts der Berichterstattung der Medien über die Ergebnisse des Universitätsklinikums Freiburg werden sie wohl der Meinung sein, dass es dieses Krankheitsbild gibt. Untersuchungen der Lungenfunktion durch Gruppen aus Bochum und vom Karolinska Institut in Stockholm haben jedoch keine Unterschiede zur nicht infizierten Kontrollgruppe gefunden. Erschöpfungssyndrome nach Infektionskrankheiten gibt es, aber das ist unabhängig davon, ob die Infektion Covid-19 ist. Die Daten der Gruppe aus Bochum liegen, im Gegensatz zu den in Mainstream-Medien publizierten Behauptungen aus Mainz und Freiburg, als wissenschaftliches Manuskript (Preprint) vor und sind daher prinzipiell überprüfbar. Die Bochumer Gruppe folgt keinem ideologischen Muster. So hat sie auch untersucht, ob das Tragen von Masken im Unterricht die kognitiven Fähigkeiten von Kindern beeinträchtigt und ebenfalls in einem Preprint veröffentlicht, dass ein solcher Effekt nicht zu beobachten sei.

Der Mechanismus zur Verbreitung falscher „wissenschaftlicher“ Ergebnisse ist ein allgemeiner. Die Mainzer und Freiburger, die das Panikmuster der Gesellschaft bedienen, tauchen in den Medien auf, die Bochumer nicht. Diese Medienpräsenz lenkt Forschungsgelder. Wir haben es hier mit einem Selektionsdruck zu tun, der integre und zuverlässige Forschung ins Hintertreffen geraten läst und gleichzeitig das unbedachte Verbreiten falscher Sensationsmeldungen belohnt. Das gibt es nicht erst seit März 2020. Im Fall von Covid-19 sind die Folgen für die Gesellschaft allerdings dramatisch.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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