Der Gutmensch – eine Gegenvorstellung

Unwort des Jahres 2015 Wenn es das Wort „Gutmensch“ nicht schon gäbe, man müsste es erfinden.

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In einem ausführlich diskutierten Artikel hat Michael Jäger in dieser Woche die Wahl des Wortes „Gutmensch“ zum Unwort des Jahres gut geheißen und sich dafür eingesetzt, dieses Wort nicht mehr zu gebrauchen. Als Wahlschweizer mache ich mich potentiell mit der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gemein, wenn ich es benutze, denn die SVP hat mit den „Netten“ in „die Linken und die Netten“ einen ähnlichen Kampfbegriff gefunden.

Nichts liegt mir ferner als SVP-Nähe, polemisiert doch die SVP auch gegen hochqualifizierte deutsche Zuwanderer in der Schweiz, deren einer ich bin. Das Beispiel macht aber schon deutlich, warum ich auf das Wort „Gutmensch“ nicht verzichten will und nicht verzichten werde. Ich möchte auch weiterhin das Wort „nett“ in einem bestimmten Tonfall mit der Bedeutung „unangebracht nett“ benutzen können, weil es das Phänomen des unangebracht Netten nun einmal gibt. Meine Meinungsverschiedenheit mit der SVP besteht darin, unter welchen Umständen Nettigkeit unangebracht ist. Meine Meinungsverschiedenheit mit Pegida besteht (unter Anderem) darin, in welchen Fällen man von Gutmenschentum reden sollte.

Wozu benötige ich das Wort „Gutmensch“? Ich kann hier Michael Jäger selbst als Kronzeugen aufrufen, der eine gute Definition gegeben hat, auf diese aber seltsamerweise im weiteren Verlauf seines Artikels nie wieder eingegangen ist: „Es kann den Gesinnungsethiker meinen, der die Folgen seiner Tat nicht mitbedenkt, oder den Menschen, der nicht an das Böse und Schlechte glauben will.“ Mit dem Zusatz, dass mitunter das Erste eine Folge des Zweiten ist, kann ich diese Definition akzeptieren.

Dieser Typ Mensch ist heutzutage nicht selten und öffentlich gut sichtbar. Weil dem so ist, braucht man einen kurzen und prägnanten Begriff, um ihn zu bezeichnen, und „Gutmensch“ ist eben dieser Begriff. So lange die Unwort-Jury keinen besseren vorschlägt, werde ich mir diesen nicht nehmen lassen. Real existierende Phänomene und Entwicklungen wäre ja sonst gar nicht mehr diskutierbar oder nur noch sehr umständlich. Unsere Sprache würde verarmen, wenn wir diesen Begriff verrenten würden.

Nun glaube ich nicht an eine Verschwörung, mit der öffentliche Meinungsführer bezwecken, die Diskussion eben dieser Phänomene und Entwicklungen zu unterbinden. Zugleich würde ich aber auch nicht ausschließen wollen, dass genau das der unterbewusste Antrieb für die Diffamierung eines gut geprägten Worts ist. Als ich das Wort vor einer Woche in einem eigenen Artikel verteidigt habe, bekam ich den doppelbödigen Kommentar, dass die Unwort-Jury 2011, als „Gutmensch“ an zweiter Stelle genannt wurde, wohl auch nur mit Gutmenschen besetzt gewesen sei. Auch das würde ich, gemäß der von Michael Jäger gegebenen Definition, nicht ausschließen wollen. Wie immer dem auch sei, das Wort wird nicht verschwinden, weil dieser Typ Mensch unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht verschwinden wird.

Das soll er auch gar nicht. Es kann um eine Gesellschaft nicht so schlecht bestellt sein, in der sich der Typus des Gutmenschen herausbilden und über weite Strecken sogar die öffentliche Diskussion bestimmen kann. Es ist dies eine Gesellschaft, in der viele Taten gar keine gravierenden Folgen haben und in der das Böse und Schlechte so wenig sichtbar ist, dass der Gutmensch seine Position vertreten kann, ohne sich schon mit seinen ersten Worten selbst zu diskreditieren.

Wenn ich die Wahl habe, möchte ich genau in einer solchen Gesellschaft leben. Die Frage ist derzeit allerdings, ob diese Gesellschaft stabil ist und wenn sie nicht stabil ist, ob dann der Gutmensch zu ihrer Stabilisierung oder ihrer Destabilisierung beiträgt. In diesem Punkt habe ich eine Meinungsverschiedenheit mit Michael Jäger und den meisten, die sich in der Diskussion zu seinem Artikel geäußert haben. Deren Überzeugung ist, dass der Gutmensch gerade unter den gegenwärtigen Bedingungen das Gute in der Gesellschaft verteidigt. Meine Meinung habe ich vor einer Woche auf die kurze Formel gebracht, dass der Gutmensch ein Anti-Mephisto ist: Er ist ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und oft das Böse schafft.

Das mag etwas polemisch wirken, denn statistisch würde man wohl erwarten, dass der Gutmensch nur in 50% der Fälle das Böse schafft, wenn er die Folgen seiner Handlungen nicht mitbedenkt. Aber der Teufel ist eben ein Eichhörnchen. In der Regel gibt es mehr Handlungsoptionen, die zu einem schlechten Ergebnis führen, als solche, bei denen es am Ende gut herauskommt.

In der Diskussion zu Michael Jägers Artikel wurde bemängelt, diejenigen, die das Wort „Gutmensch“ verwendeten, hätten keine Gegenvorstellung. Nichts leichter als das: Der verantwortungsvolle Mensch ist ein Gesinnungsethiker, der die wahrscheinlichen Folgen seiner Taten mitbedenkt und dem bewusst ist, dass das Böse und Schlechte mit eingerechnet werden muss und in einer scharfen Auseinandersetzung niemals auf nur einer Seite lokalisiert ist.

Habe ich mir das zu leicht gemacht? Vielleicht muss ich noch etwas deutlicher machen, was der verantwortungsvolle Mensch hat, das dem Gutmenschen fehlt. Und vielleicht muss ich an dieser Stelle konkret werden und erklären, warum die Antworten des Gutmenschen auf die Migrantenkrise die Folgen nicht mitbedenken und sehr wahrscheinlich die gute Gesellschaft destabilisieren werden.

Den Gutmenschen schaudert es, wenn er über denjenigen, dem man die Führung anvertrauen möge, die folgenden Worte Lao-tses liest (in der Übersetzung von Erwin Rousselle): „Der Berufene ist nicht menschlich. Für ihn sind die hundert Sippen wie stroherne Opferhunde.“

Diese Stelle findet sich unter den Sprüchen eines legendären Weisen, der nach dem Ausweis seiner anderen Sprüche ein Gesinnungsethiker war. Lao-tse, oder wer immer diesen Spruch geschrieben hat, hatte etwas verstanden, das dem Gutmenschen fremd ist. Entscheidungen, die das Wohlergehen einer sehr großen Gruppe von Menschen betreffen, sind individuellen Rücksichten nicht unterworfen.

Wenn der Zustrom von 1 Million Migranten pro Jahr (nach der gegenwärtigen Zustromrate von täglich etwa 3000 mitten im Winter und auf bisher nicht absehbare Dauer) in ein Land mit 80 Millionen Einwohnern dessen staatliche Stabilität gefährdet, wovon man wohl ausgehen muss, dann haben die individuellen Schicksale der Migranten als Entscheidungsgrundlage geringe Priorität.

Die Antwort des Gesinnungsethikers, der die Folgen seiner Handlungen mitbedenkt, ist dann die folgende: Jede Handlung ist zu unterlassen, die geeignet ist, diesen Zustrom noch weiter anschwellen zu lassen. Jede Möglichkeit muss geprüft werden, mit der dieser destabilisierende Zustrom verringert werden kann. Von diesen Möglichkeiten müssen diejenigen genutzt werden, die hinreichend sind, um Staat und Gesellschaft zu stabilisieren. Gibt es unter diesen eine Auswahl, so ist die Auswahl so zu treffen, dass den Migranten möglichst geringe Härten zugemutet werden.

Der Gutmensch dagegen fühlt sich gut, wenn er eine „Willkommenskultur“ propagiert und die Bilder dieser Willkommenskultur in die Welt sendet, direkt dorthin, von wo der Migrantenstrom ausgeht und wo die Menschen entscheiden, ob auch sie sich auf den Weg machen. Das heißt, die Folgen der eigenen Handlungen nicht mitzubedenken.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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