Der Unscheinbare

Strategie Wer hier eine Ähnlichkeit mit der Realität erkennt, muss Verschwörungstheoretiker sein.

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Noch nie war eine so hochrangige Runde ohne Tagesordnung oder auch nur Ankündigung des Themas einberufen worden. Die Einladung war direkt vom Präsidenten Sun Pre an den inneren Führungszirkel gegangen. Schon der Umstand war selten, dass eine solche Einladung als vertraulicher Kurierbrief kam und den Vermerk enthielt: „Von einem Agendaeintrag ist abzusehen.“ In der Vergangenheit war das nur vorgekommen, wenn es um eine Bedrohung der inneren Sicherheit oder um die Erwägung von Kriegshandlungen ging.

Sun Pre selbst hielt die Eröffnungsrede. Sie war kurz. „Die Ignoranz und Gier unseres weltpolitischen Gegners haben uns lange geschützt. Nachdem wir nun auf einem ersten wichtigen Gebiet weltweiter Technologieführer sind, wird die Lage kritisch. Wir müssen damit rechnen, dass der Gegner Widerstand gegen unsere weltpolitische Machtübernahme zu organisieren beginnt. Dadurch würden wir auch in unserer inneren Entwicklung beeinträchtigt, denn Innen und Außen können nur gemeinsam fortschreiten. Dass diese Situation eintreten würde, ist uns seit etwa zwei Jahrzehnten bewusst. Wir sind also nicht unvorbereitet. Ich übergebe das Wort an Slu Pan.

Der Geheimdienstchef war ein imposanter Mann mit größerem Charisma als Sun Pre und ein hervorragender Organisator. Seine Analysen waren immer scharfsinnig und selten angreifbar, nur wusste niemand von uns, wieviel davon seinem Kopf entsprang und wieviel demjenigen seiner Mitarbeiter. Diesmal sagte Slu Pan nur kurz: „Ich werde gar nicht reden.“ Er wies auf eine unscheinbare Person an seiner Seite. Ich war nahe daran, mir die Augen zu reiben. Dass Slu Pan zu diesem Treffen im engsten Kreis einen Unbekannten mitgebracht hatte, hätte mir längst aufgefallen sein müssen. Ich blickte mich um und sah die gleiche Verblüffung in den Gesichtern der anderen.

“Der Vortreffliche meidet den Kampf, solange sein Sieg nicht feststeht. Länger meidet er ihn nicht. In diesem Kampf wird kein Schuss fallen. Fallen wird der Gegner.“ Der Unscheinbare verneigte sich mit einem leichten Lächeln vor Kin Thur. „Das Militär bildet unsere Reserve. Denn auch der Vortreffliche kann überrascht werden.“ Kin Thur sprach ruhig, sanft, und dennoch fest, wie er das stets tat: „Wer führt unseren Angriff?“ Der Unscheinbare verneigte sich erneut. „Unseren Angriff führt der Gegner selbst. Er hat sich ohne unser Zutun seit langem darauf vorbereitet.“

Unsere Blicke wandten sich zu Sun Pre. Auf dessen Gesicht lag ein Ausdruck tiefer Zufriedenheit. Er kannte den Plan bereits und hatte ihn gutgeheißen. Der Unscheinbare fuhr fort: „Der Gegner hat vor etwa fünf Jahrzehnten Ziel und Richtung verloren. Das reichte ihm aus, um eine planlose Führungsschicht auszubilden und zu etablieren.“ Kin Thur nutzte die Stille: „In der Tat. Einen Enthauptungsschlag braucht es nicht. Warum greifen wir an?“ Der Unscheinbare verneigte sich erneut: „Der Gegner verfügt noch immer über beträchtliche Ressourcen, auch militärische. Wo er selbst agiert, ist er gerade wegen seiner Planlosigkeit schwer berechenbar.“ Kin Thur setzte den Gedanken des Unscheinbaren fort: „Zwar verliert er seine Kriege. Selbst wenn er militärisch gesiegt hat, was immer seltener wird, verliert er sie in der Folge politisch. Aber er richtet beträchtlichen Schaden an.“ „Eben.“ sprach der Unscheinbare. „Dieser Schaden beginnt, unser Schaden zu werden.“

„Der Gegner führt den Angriff selbst. Das ist neu und gut. Wie führen wir den Gegner?“ fragte Kin Thur. „Allerdings,“ gab der Unscheinbare zu, „benötigt es ein Großereignis, um die Selbstzerstörungskräfte des Gegners massiv in Marsch zu setzen. Wir sollten aus dem Vorrat apokalyptischer Szenarien wählen, die beim Gegner im Schwange sind. Anschließend wird es einfach. Die Sache ist dann mit kleinen Steuerbewegungen zu lenken.“ „Zumal wir zunächst nur ein Chaos erzeugen wollen.“ warf Kin Thur ein. Der Unscheinbare verneigte sich noch einmal. „Im Detail wird es wie ein Chaos aussehen. Das große Bild ist dasjenige einer geordneten Implosion. Die geordnete Implosion minimiert die Kollateralschäden.“

„Gibt es ethische Probleme?“ ließ sich Sun Pre vernehmen. „Im Vergleich zu einer militärischen Unternehmung“ – wieder die Verneigung des Unscheinbaren gegen Kin Thur – „sind sie geringer. Der Zusammenbruch des Gegners ist unausweichlich. Geistig ist er ja bereits erloschen. Wir beschleunigen das nur, minimieren die Schäden, und können diesen Ländern hinterher unsere Stabilität anbieten. Wer nicht einmal sich selbst führen kann, der wird geführt. Das ist keine ethische Frage. Im Detail werden einige unschöne Dinge geschehen müssen.“

„Es wird kein Schuss fallen.“ bestätigte Kin Thur, „Was aber ist mit denjenigen, die den Angriff bemerken?“ Der Unscheinbare lächelte: „Die meisten derer sind so einflusslos, dass man sie besser gewähren lässt, als die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Ihre Erkenntnis wird sich nicht verbreiten. Ehe der Gedanke sich in der Führung des Gegners durchsetzen könnte, wird es zu spät sein, um es noch zuzugeben. Allenfalls muss man ein paar Leute lächerlich machen, die das zu früh aussprechen.“ Der Unscheinbare verhielt kurz. „Aber?“ fragte Kin Thur. „Über die Leute in den eigentlichen Führungspositionen müssen wir die Kontrolle behalten. Am besten ist es, wenn sie in dem Glauben für uns arbeiten, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Am zweitbesten ist Druck oder Erpressung, deren eigentlicher Urheber aber unbekannt bleiben muss. Wo selbst das nicht hilft und die Person über substantiellen Einfluss verfügt, kann ein Attentat nötig werden.“ Nun verneigte sich zur Abwechslung Kin Thur vor dem Unscheinbaren. „Am besten ist es wiederum, wenn es gar nicht nach Attentat aussieht.“ spann er dessen Gedanken fort. „Am zweitbesten ist es, wenn niemand den eigentlichen Urheber vermutet. Die Führung des Gegners wird alles daransetzen, dass der dritte Fall nicht eintritt, weil sie dann mit einem Schlag völlig kompromittiert wäre.“ Der Unscheinbare nickte: „Die gegnerische Führung wird es vorziehen, schleichend kompromittiert zu werden. In dieser einen Frage verhält sie sich rational.“

Weitere Planungen gab es in unserem Kreis nicht. Als das Ereignis eintrat, erkannten wir es ziemlich schnell. Am Ende machte es nicht einmal etwas aus, dass einer der höchstrangigen Führer des Gegners früh Lunte roch. Der Mann wurde schon vorher als ein Narr angesehen, den nur ein Betriebsunfall in sein Amt gebracht hatte. In der Folge des Ereignisses verlor er es auch. Der Rest ist Geschichte, wie man beim Gegner sagte. Den Unscheinbaren habe ich nie wiedergesehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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