Der Zustand der Republik in Weimar

Gewaltenteilung Das Regierungshandeln in Deutschland weckt ungute Erinnerungen.

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Die zuletzt eher regierungskritische Zeitung WELT hat gemeinsam mit den ARD-„Tagesthemen“ eine Umfrage bei Infratest Dimap zu Sorgen wegen der Pandemie in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sind bemerkenswert. Nur noch 27% machen sich Sorgen, dass sie selbst oder Mitglieder der eigenen Familie sich infizieren werden. Die am häufigsten geäußerte Sorge ist mit 79% diejenige, dass Kinder wegen eingeschränkter Betreuungs- und Schulangebote in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden.

Vor diesem Hintergrund gewinnt ein Urteil des Weimaraner Familienrichters Christian Dettmar vom 8. April 2021 eine neue Dimension. Dettmar hatte nach einer Kindswohl-Beschwerde einer Mutter die Aufhebung der Maskenpflicht und weiterer vom Thüringer Bildungsministerium angeordneter Maßnahmen an den Schulen angeordnet, die ihre beiden Kinder besuchten. Er stützte sich dabei auf drei Gutachten von Prof. Christof Kuhbander, Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie VI an der Universität Regensburg, von Prof. Ulrike Kämmerer, außerplanmäßige Professorin und Immunologin am Universitätsklinikum Würzburg und von Prof. Ines Kappstein, Humanärztin und Krankenhaushygienikerin. Das anonymisierte Urteil einschließlich der drei vollständigen Gutachten ist öffentlich zugänglich.

Der Freistaat Thüringen kam dem Urteil nicht nach. Vielmehr ließ er die Wohnung des Richters durchsuchen, wie am 27. April 2021 bekannt wurde. Dazu muss man wissen, dass die Exekutive in Deutschland Weisungsrecht gegenüber der Staatsanwaltschaft hat, die diese Durchsuchung anordnete. Ein Richter muss einen solchen Beschluss genehmigen, die Initiative aber geht vom Staat aus. Die Staatsanwaltschaft begründete die Durchsuchung mit einem Anfangsverdacht auf Rechtsbeugung und führte aus, es gäbe „Anhaltspunkte dafür, dass der Beschuldigte willkürlich seine Zuständigkeit angenommen hat, obwohl es sich um eine verwaltungsrechtliche Angelegenheit handelte, für die ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist“. Am 19. Mai 2021 kassierte das Oberlandesgericht (OLG) Jena den Beschluss des Familienrichters Christian Dettmar mit der fast gleichlautenden Begründung, die gerichtliche Kontrolle staatlicher Anordnungen zum Corona-Schutz obliege allein den Verwaltungsgerichten. Gleichwohl deckt diese Entscheidung das Vorgehen der Staatsanwaltschaft nicht, denn das OLG Jena hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falls ausdrücklich Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof zugelassen. Damit räumt das OLG ein, dass in diesem Fall unterschiedliche Rechtsauffassungen möglich sind, was der Behauptung eines Anfangsverdachts auf Rechtsbeugung zuwiderläuft.

Christian Dettmar wird mittlerweile von dem sehr prominenten Strafverteidiger Gerhard Strate vertreten, der das Verfahren gegen seinen Mandanten als unzulässig und unbegründet bezeichnet und den Vorwurf der Rechtsbeugung als völlig abwegig. Das Bundesverwaltungsgericht Leipzig bejahte am 16. Juni 2021 die Zuständigkeit von Familiengerichten für Fragen der Kindswohlgefährdung, schloss aber aus, dass ein Familiengericht eine Anordnung gegenüber Behörden treffen könne, letzteres obliege tatsächlich nur den Verwaltungsgerichten. Dem Vernehmen nach hat die Mutter der beiden Kinder ihre Rechtsvertretung inzwischen mit der vom OLG zugelassenen Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof beauftragt.

Am Dienstag, dem 29. Juni hat nun die Staatsanwaltschaft mindestens acht weitere Hausdurchsuchungen im Zusammenhang mit diesen Vorgängen durchgeführt und dabei in großem Umfang Datenträger sowie auch die originale Gerichtsakte des Verfahrens beschlagnahmt. Sie hat ferner den dienstlichen E-Mail-Verkehr der Gutachterin Prof. Ulrike Kämmerer am Universitätsklinikum Würzburg gespiegelt, die auch Bundestagskandidatin der Partei dieBasis ist. An der Beschlagnahme des dienstlichen Rechners von Frau Kämmerer ist sie gescheitert, weil dieser Computer dem Klinikum gehört. Die Hausdurchsuchungen betrafen neben Ulrike Kämmerer erneut Christian Dettmar selbst, die Mutter der beiden Kinder, ihren Rechtsbeistand, die anderen beiden Gutachter, die Christian Dettmar bestellt hatte, sowie eine Chorfreundin von Christian Dettmar. Die Chorfreundin ist mit dem Kabarettisten Ulrich Masuth verheiratet, einem Bundestagskandidaten der Partei dieBasis. Weiter betroffen war der Richter Matthias Guericke, der keine Verbindung zu diesem Fall hat, aber in einem anderen Fall eine staatliche Corona-Maßnahme außer Kraft gesetzt hat.

Die Sicht einiger Betroffener und von Juristen kann man einem Video entnehmen, dass die Stiftung Corona Ausschuss am Abend des 29. Juni als Lifestream auf YouTube gesendet hat. Dis Diskussion beginnt aufgrund technischer Probleme erst bei Minute 9. In diesem Video äußert sich unter anderem ein weiterer Bundestagskandidat der Partei dieBasis, der Lehrstuhlinhaber für Bürgerliches Recht, Verfahrens- und Unternehmensrecht an der Universität Bielefeld, Professor Martin Schwab. Schwab war zuvor Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin. Er weist darauf hin, dass die Thüringer Landesregierung Beteiligte im ursprünglichen Verfahren war und nun selbst die Staatsanwaltschaft gegen ihre Verfahrensgegner in Gang gesetzt hat. Dabei hat sie sich in den Besitz der Verfahrensakte gebracht. Es gibt aus der Verhandlung vor dem OLG Jena Hinweise darauf, dass diese Akte Informationen zu von der Landesregierung veröffentlichten falschen Daten enthält. Das Ehepaar Masuth war gerade in den Ferien in Slowenien. Die Nachbarin, welche die Durchsuchung beobachtet hat, hat ihnen berichtet, dass sich die Beamten auch für ein Auto der Partei dieBasis interessiert hätten, das im Hof stand.

Nun kenne ich die Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht in allen Details. Es dürfte sich aber wohl um den ersten Fall handeln, in dem auf der Basis eines Vorwurfs der Rechtsbeugung Hausdurchsuchungen bei Prozessbeteiligten bis hin zu Fachgutachtern stattgefunden haben. Ich trete gewiss niemandem zu nahe, wenn ich feststelle, dass diese Durchsuchungen nur deshalb stattgefunden haben, weil der Fall eine politische Dimension hat. Ich darf also hier von politischer Justiz reden - muss das wohl sogar tun.

Eine angenehm neutrale Diskussion über den Streit um die Maskenpflicht bei Schülern findet sich auf den Seiten der Rechtsanwaltskanzlei Haug & Höfer. Die Autoren schreiben: „Die Welt ist nicht durch ein Virus, sondern durch die zu seiner Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen in zwei unversöhnliche Lager gespalten“ und fährt in Bezug auf die Justiz fort „Ein Teil wird sich am Ende durchsetzen, und die Vorstellung, wie er mit den Unterlegenen abrechnen wird, ist grauenhaft. Dass ein Richter den anderen wegen den seinen Entscheidungen zugrundeliegenden Ansichten für strafwürdig hält, ist nur ein erster Vorgeschmack auf das, was kommt.“ Ich möchte auf einen Punkt hinweisen, der in der Formulierung bereits implizit ist, aber leicht überlesen wird. Es steht durchaus nicht fest, welche Seite sich am Ende durchsetzen wird. Das könnte die Panikreaktion der Thüringer Landesregierung erklären.

Eine weitere Frage von Interesse ist, warum sich in der Partei dieBasis und in der Stiftung Corona Ausschuss so viele Juristen finden und warum seit Monaten recht viele Corona-Maßnahmen der Exekutive von Gerichten kassiert wurden. Diese Frage ist relativ einfach zu beantworten. Juristen werden in ihrer Ausbildung immer wieder darauf hingewiesen, dass Entscheidungen verhältnismäßig und begründet sein müssen. Kommt dazu noch etwas Zivilcourage, ein unterentwickelter Opportunismus und ein nicht (mehr) so großes Karrierestreben, ist der Maßnahmenkritiker schon fertig. Das wäre kein Problem, wenn die Exekutive Kritikern mit Argumenten begegnen würde. Die Bereitschaft und auch Fähigkeit, rational zu argumentieren, scheint der Exekutive allerdings in den letzten Jahren abhandengekommen zu sein. Ohne diesen Willen und diese Fähigkeit der Exekutive ist eine offene Gesellschaft auf Dauer undenkbar. Tatsächlich sind dann sogar Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung undenkbar, denn wenn die Exekutive argumentativ auf verlorenem Posten steht, kann sie die Judikative bei Strafe ihres eigenen Untergangs nicht gewähren lassen.

Das Problem ist auch kein rein juristisches. Wie Haug & Höfer sagen: „Diese Spaltung zieht sich quer durch alle Teile der Gesellschaft…“ und „Es scheint aber so zu sein, dass die Wissenschaft in dieser Frage in zwei Lager gespalten ist: Das eine Lager ist das nach § 2 Infektionsschutzgesetz zum Bundesministerium für Gesundheit gehörende Robert-Koch-Institut, welches die Maskenpflicht für unverzichtbar hält. Zu diesem Lager gehören durchaus auch noch andere namhafte Mediziner und Biologen. Unübersehbar gibt es jedoch auch noch ein anderes Meinungslager, dessen Vertreter gleichfalls mit Professorentiteln bedacht wurden.“ Das gilt für andere wissenschaftliche Befunde zu Corona-Maßnahmen ebenfalls. Die Gutachten im Weimaraner Prozess gehen übrigens, wie man leicht nachlesen kann, auf Argumente beider Seiten und auf von beiden Seiten zitierte Studien ein.

Was nun die Auseinandersetzung unter Wissenschaftlern betrifft, hat auch diese punktuell den argumentativen Raum verlassen. Der oben bereits erwähnte Herr Kuhbandner, einer der Gutachter im Weimaraner Prozess, war meines Wissens der Erste, der auf die Widersprüche in den Daten des Deutschen Intensivregisters DIVI im Herbst 2020 hingewiesen hat. Während die behauptete Zahl der Covid-19-Intensivpatienten stark stieg, blieb die Gesamtzahl der Intensivpatienten konstant. Diese Entwicklung setzte sich auch nach Kuhbandners Wortmeldung auf Telepolis noch lange fort, begleitet von einer ständigen Propaganda über eine drohende Knappheit an Intensivbetten. Gleichzeitig wurde die Gesamtzahl der gemeldeten Intensivbetten kleiner. Dieser Frage ging später Professor Matthias Schrappe fundierter nach. Schrappe hat früher die Universitätsklinik Marburg geleitet und war Stellvertretender Vorsitzender des von der Bundesregierung einberufenen Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Das Thesenpapier seiner Gruppe wurde am 16. Mai 2021 veröffentlicht und am 17. Mai aktualisiert. Am 9. Juni stellte der Bundesrechnungshof fest, dass es auch aus seiner Sicht zu Unregelmäßigkeiten gekommen war. Dazwischen lag ein am 29. Juni von der WELT referiertes E-Mail von Christian Drosten an Hedwig François-Kettner aus Schrappes Arbeitsgruppe, das vom 18. Mai datiert. Darin behauptet Drosten eine „Vielzahl von Denkfehlern, falschen Argumenten und haltlosen Anschuldigungen“, ohne allerdings auch nur einen einzigen Punkt zu konkretisieren. Drosten beendete sein E-Mail mit einer Drohung: „In diesen Tagen werden die Medien dieses und auch frühere Machwerke Ihrer Gruppe analysieren.“ Damit stellt sich Christian Drosten außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. Nebenbei bemerkt haben die Medien die Dokumente gerade nicht analysiert, sondern mit Metaargumenten versucht, diese schlechtzumachen. Während es in der Politik heutzutage weitgehend akzeptiert ist, rationale Argumente durch bloße Anschuldigungen zu ersetzen, gilt das für die Wissenschaft nicht. Die Vermutung drängt sich auf, dass das E-Mail von Drosten die gleiche Ursache hat wie die von der Erfurter Staatsanwaltschaft in Gang gesetzten Hausdurchsuchungen: Das Fehlen rationaler Argumente, um eine Auseinandersetzung auf dieser eigentlich gebotenen Ebene zu führen.

Wohin wird das führen? Einschüchterungsversuche funktionieren immer nur bei einem Teil der Zielpersonen. Der andere Teil – und gerade die Selbstbewussteren, Stärkeren, denen andere unbewusst folgen – reagiert mit stärkerem Widerstand. Die Lage eskaliert immer weiter. Aber auch diejenigen, die sich einschüchtern lassen, sind damit nicht für die Seite der Einschüchterer gewonnen. Sie ballen die Faust in der Tasche – vorerst. Wenn sich aber dereinst die Gelegenheit ergeben sollte, werden sie die Faust aus der Tasche ziehen und draufhauen und zwar wegen der erlittenen Demütigung viel härter als diejenigen, die sich nie hatten einschüchtern lassen.

Das mag sehr abstrakt klingen. Werden wir konkreter. Die Exekutive, also die politische Elite, setzt sich wiederholt und immer stärker in Widerspruch zu professionellen Eliten, die ihrem Sachverstand folgen. Sie bedeutet diesen, dass sie kein Interesse an einem Austausch von Argumenten hat, sondern sich mit roher Gewalt durchsetzen wird, so lange sie eben die Macht hat. Es scheint mir nur logisch, dass die professionellen Eliten ein politisches System aufgeben werden, das seine Fehler nicht mehr korrigiert, sondern auf diesen besteht. Die Angehörigen der professionellen Elite neigen nicht zum Umsturz. Aber ob sie einem von anderen in Gang gesetzten Umsturz potentiell Widerstand entgegensetzen, diesen tolerieren oder sogar unterstützen würden, ist ganz und gar nicht egal.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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