Des Kaisers neue Impfung

Kein Weihnachtsmärchen Außer dem Schutzengel ist hier nichts erfunden.

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Mein Schutzengel quatscht dazwischen. „Guck‘ mal, die haben den guten Weichkäse in der Tannenrinde.“ Ich stoppe den Einkaufswagen abrupt. Vom Absatz überm Kühlregal krachen eine Plastikstiege und ein paar Mineralwasserflaschen herunter. Sie treffen das Tetrapack mit dem Apfel-Mango-Saft. Die Verkäuferin, die diesen Sturz durch das Herunterfahren der Rollos mit den Weihnachtsbildern verursacht hat, ruft mir etwas zu. Knapp hinter meinem Rücken stürzt eine zweite Plastikstiege zu Boden. Mein Schutzengel arbeitet eben sehr präzise. Im Tetrapack klafft ein fünf Zentimeter langer Riss. Ich schiebe den Einkaufswagen aus der Saftpfütze und lege die beschädigte Packung in die schuldige Stiege.

Als ich wieder stehe, zupft mich mein Schutzengel am Ärmel. „Aber jetzt besorgst Du Dir einen Termin für die Auffrischungsimpfung!“ fordert sie. „Ich bin noch nicht an der Reihe, Angelika.“ antworte ich. „Erzähl nichts!“ braust sie auf. „Dein zweiter Impftermin war am 8. Juni. Heute ist der 4. Dezember. Du solltest den Termin schon organisiert haben.“ Wenn sie so ist, braucht es viel Geduld und Ruhe. Ich erkläre ihr, dass noch nicht alle erstgeimpft sind. „Die das wollen, schon.“ trumpft mein Schutzengel auf. „Weißt Du etwa nicht, dass Auffrischungsimpfungen in Deiner Altersgruppe die Kliniken stärker entlasten als Erstimpfungen junger Leute?“ Na, vielen Dank für die Feinfühligkeit. Ich weiß das schon, aber die Regierung will zuerst die Unwilligen impfen lassen. „Das ist doch kompletter Blödsinn!“ stellt Angelika fest. Dem ist wohl nichts zu entgegnen.

Inzwischen sind wir in meiner Wohnung angelangt. Zuerst räume ich die entsafteten Einkäufe in den Kühlschrank und dann schaue ich in meinen E-Mail-Eingang. Die Covid-19-Taskforce einer der besten Universitäten Europas schreibt an alle Universitätsangehörigen. Ab Montag dürfen Speisen und Getränke in Innenräumen nur noch sitzend eingenommen werden. Das diene zur Eindämmung des Infektionsgeschehens und man schließe sich in diesem Punkt ganz der Regierungsmeinung an. Mein Schutzengel redet beruhigend auf mich ein. Weil sie das noch nie getan hat, macht es mich leicht aggressiv. „Das ist doch kompletter Blödsinn!“ entfährt es mir. Sie wechselt in einen Ton, von dem sie weiß, dass ich ihn besser vertrage. „Ich hatte Dich auch für intelligenter gehalten.“ mokiert sie sich. „Was hattest Du denn von denen erwartet?“ Von wem jetzt, Taskforce oder Regierung? „Es ist heute wirklich hoffnungslos mit Dir,“ seufzt mein Engel, „von beiden natürlich.“ Ich gebe ihr Recht. Die Regierung ist ja nackt. Mein Schutzengel schweigt.

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Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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