Die Erde – Ein Wintermärchen (1)

Der kalte Planet Bei unserer Suche nach rationalen Wesen trafen wir auf eine seltsame Spezies

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Die 1. Woche

Aus der Atmosphäre dieses Planeten fiel in unregelmäßigen Abständen kristallines Wasser aus. Ihre Biochemie lief in wässrigem Milieu ab. Die Entwicklung der hiesigen Lebewesen musste daher behindert sein. Dennoch hatten wir schon beim Anflug auf das Sternsystem Anzeichen einer technischen Zivilisation gefunden. Unser Auftrag war die Erforschung rationaler Spezies, so dass ich entschied, in eine einwöchige Voruntersuchung einzutreten.

Als wir uns nach der ersten Woche trafen, vertrat Chefingenieur Dren die Negativposition. Ich war nicht überrascht. Schließlich hatte ihm die schiefstehende Rotationsachse des Planeten schon beim Anflug missfallen. „Es handelt sich wohl kaum um rationale Wesen. Jede rationale Spezies, die wir kennen, kennt ihrerseits das demographische Grundgesetz. Das Optimum der Lebensbedingungen sozialer Wesen liegt knapp unterhalb der Sättigungspopulation des Planeten. Diese Spezies hat die Ozeane überhaupt nicht und die Landfläche nur teilweise besiedelt. Zudem“ – hier hob Dren die Stimme - „ist ihr Planet eindeutig zu kalt. Wenn die Spezies rational wäre, würde sie ihn heizen.“

Die Positivposition nahm zu meiner Verwunderung unsere Archäologin Afasia ein: „Die Spezies hat sich auf diesem kalten Planeten nur so weit verbreiten können, weil sie über Technologie verfügt. Jede technologische Zivilisation, die wir kennen, wurde von einer rationalen Spezies aufgebaut.“

An diesem Punkt schien mir alles Nötige gesagt und ich schloss das Treffen. „Es bestehen einerseits erhebliche Zweifel an der Rationalität der Wesen und andererseits erhebliche Zweifel an ihrer Irrationalität. Daher entscheide ich, die Voruntersuchung um eine Woche zu verlängern. Dabei sind zwei Punkte zu klären. Erstens: Warum heizen sie ihren Planeten nicht? Zweitens: Steigt ihre Population an oder sinkt sie? Ohne den Ergebnissen vorgreifen zu wollen, halte ich die zweite Frage für wichtiger. Wenn diese Spezies ihre Technologie nicht aus sich selbst heraus entwickelt hat, muss sie sich im Niedergang befinden und die Population sollte sinken.“

Die 2. Woche

Bei unserem nächsten Treffen diskutierten wir wie üblich zuerst das unwichtiger erscheinende Problem. Ich war regelrecht verdutzt, als die Linguistin Parlanda das Wort zur Heizungsfrage ergriff. Nach ihrem Eröffnungssatz jedoch waren alle hellwach. „Sie heizen ihren Planeten.“ Dren entgegnete: „Woher willst Du das wissen? Meine Messungen zeigen, dass die gegenwärtige Temperatur innerhalb der Schwankungsbreite der letzten 10‘000 Jahre liegt. Und“ – wieder hob er seine Stimme - „diese Schwankungsbreite ist klein gegenüber dem Temperaturdefizit des Planeten.“ Parlanda antwortete gelassen: „Über diese Daten verfügen sie selbst.“ Den aufkommenden Tumult beschwichtigte sie mit den Worten: „Die Übersetzungsprogramm läuft erst seit zwei Stunden. Ihr bekommt nach dem Treffen alle sofort Zugriff.“ Dann fuhr sie fort: „Sie verfügen auch über einigermaßen detaillierte Daten für die letzten 200 Jahre. Diese zeigen einen signifikanten Temperaturanstieg, der mit den Daten zu ihrer Heizmethode korreliert. Sie reichern die Atmosphäre mit Spurengasen an, welche die Nettoabsorption der Solarstrahlung durch den Planeten erhöhen.“

„Eine der effizientesten Methoden“ bemerkte unsere Klimatologin Gorjatschi an Dren gewandt. „Wenn schon.“ antwortete der, „Warum ist es dann immer noch so kalt?“ Parlanda spielte ihren Wissensvorsprung weiter aus: „Sie heizen erst seit 150 Jahren.“ Afasia spitzte die Ohren. „Zudem“- jetzt ließ Parlanda die Bombe platzen – „tun sie es gar nicht mit Absicht. Es ist ein Nebeneffekt ihrer Energietechnologie.“ An dieser Stelle mischte sich unser Logiker Nondatur ein. „Du hattest zuvor bemerkt, dass sie diesen Nebeneffekt selbst erkannt haben. Sie haben vielleicht unabsichtlich begonnen zu heizen. Aber woher willst Du wissen, dass sie es immer noch unabsichtlich tun? Du kannst in zwei Stunden unmöglich all ihre Diskussionen zu dem Thema analysiert haben.“ Parlanda senkte die Stimme und sprach betont langsam: „Es ist eines der beherrschenden Themen ihrer öffentlichen Diskussion. Sie wollen den Temperaturanstieg begrenzen, möglichst sogar umkehren.“ Mitten in die sich verbreitende Fassungslosigkeit ließ Dren das Verdikt fallen: „Die Spezies ist irrational.“ Afasia entgegnete blitzartig: „Um das zu schlussfolgern, müsstest Du ihre Beweggründe kennen. Und Du müsstest diese an ihrem eigenen Wissensstand messen, nicht an Deinem.“

Wiederum erschien mir genug gesagt zu sein, aber nur zum ersten Punkt. „Und wie ist es nun mit ihrer Population?“ fragte ich in die Runde. „Sie steigt recht schnell.“ antwortete Afasia. Unser Demograph Zensus ergänzte: „Zu schnell, gemessen an ihrem technologischen Niveau. Die Datenbasis ist noch etwas dünn, aber es gibt Anzeichen für eine künftige Knappheit an verfügbaren Ressourcen.“ Parlanda meldete sich schon wieder zu Wort: „Das muss wohl noch genauer untersucht werden. Ihre Diskussionen ergeben kein einheitliches Bild davon, wie sie ihre Ressourcen verteilen und ob sie diese überhaupt an ihrer technologischen Kapazitätsgrenze nutzen.“ Dren hakte wieder ein: „Du meinst, sie verteilen irrational und sie produzieren irrational?“

Ich fasste zusammen. „Es gibt weiterhin Anzeichen für Rationalität, aber vermutlich stärkere für Irrationalität. Wir verlängern die Voruntersuchungen um eine weitere Woche.“ Dren nickte etwas widerwillig, Afasia nickte erfreut. „Die folgenden Fragen erscheinen mir dringlich. Erstens: Kennt die Spezies die Optimaltemperatur ihres Planeten? Zweitens: Aus welchen Beweggründen wollen sie aufhören, ihn zu heizen? Drittens: Wie begründen sie selbst ihre Populationsplanung?“ Parlanda blickte stolz drein. Ihr Übersetzungsprogramm würde in der nächsten Woche das Hauptwerkzeug unserer Forschung sein.

Die 3. Woche

Ich hatte meine Besatzung noch nie so verunsichert gesehen, wie zu Beginn unseres dritten Wochentreffens. Diesmal meldete sich Nondatur als erster: „Es hat sich bei den Untersuchungen eine vierte Frage ergeben. Ist eine logische Analyse der Diskussionen dieser Spezies überhaupt angemessen und wenn nicht, muss man dann nicht sofort auf Irrationalität schließen?“ Obwohl wir üblicherweise neue Fragen zuerst diskutierten, stellte ich diese zurück. „Dieses Problem könnte bedeutsamer sein als die anderen. Wir werden es deshalb zum Schluss diskutieren.“

Gorjatschi begann: „Sie wissen wohl ungefähr, wo die Optimaltemperatur des Planeten liegt. Sie wissen zumindest, dass die Durchschnittstemperatur in der Vergangenheit bisweilen deutlich höher war und dass damit verbunden die Lebensbedingungen auf dem Planeten besser waren. Ich habe bei ihnen zwar nirgends eine wirklich gute Abschätzung der Optimaltemperatur gefunden. Über das Temperaturdefizit auch für die eigene Spezies sind sie jedenfalls informiert. Es liegt auch für sie auf der Hand, dass ihr eigenes Leben bei höheren Durchschnittstemperaturen weniger technologischen Aufwand erfordern würde und dass sich dadurch ihre Nahrungsbasis vergrössern würde. Weiterhin wissen sie, dass eine höhere Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre einen zusätzlichen positiven Effekt auf die Nahrungsbasis hätte.“ Dren blickte triumphierend und bemerkte: „Dennoch wollen sie aufhören zu heizen. Ich würde das irrational nennen.“

Afasia blieb betont unemotional: „Sie befürchten, dass die atmosphärischen Turbulenzen bei einem schnellen Temperaturanstieg mehr katastrophale Wetterereignisse zeitigen werden, dass Population aus einigen Gebieten umgesiedelt werden muss und dass Infrastruktur in diesen Gebieten wertlos wird.“ Ich griff ein: „Ein valides Argument. Wie sieht denn aus ihrer Sicht die Kosten-Nutzen-Analyse aus?“ Parlanda bemerkte trocken: „Sie haben gar keine. Sie versuchen bestenfalls, die Kosten des Temperaturanstiegs gegen diejenigen einer Umstellung ihrer Energiebasis abzuwägen. Selbst das geschieht kaum. Der Nutzen des Temperaturanstiegs wird gar nicht in Betracht gezogen.“ Nondatur fügte hinzu: „Aber wie wir wissen, wissen sie, dass es einen potentiellen Nutzen gibt. Diese Diskussion kann nicht logisch analysiert werden.“

„Ist denn ihre Populationsplanung rational?“ fragte ich. Zensus erwiderte: „Sie haben gar keine.“ Dren sagte dazu nicht einmal etwas, sondern lehnte sich nur zurück. Die Zeichen schienen auf Abreise zu stehen. Jedoch - Afasia gab nicht auf. „Das ist nicht ganz exakt. Sie sind in Länder organisiert. Ein Land, in dem 18,5% der Gesamtbevölkerung lebt, hat eine Populationsplanung.“ Dren entgegnete: „Wenn es eine rationale Spezies wäre, hätten die anderen Länder die Idee sofort aufgegriffen. Die chinesische Populationsplanung ist schließlich erfolgreich.“ Unser Chefingenieur schien sich recht breit informiert zu haben. Unbeirrt fuhr Afasia fort: „Die Spezies hat ihre Technologie selbst entwickelt. In der Tat schreitet sie technologisch noch immer fort.“ Sie sah Dren an. „Das ist so.“ gab der widerwillig zu. „Dann ist eben die Hypothese widerlegt, dass nur rationale Spezies Technologien entwickeln können.“ Das allerdings ließ Nondatur nicht gelten. „Sie haben eine rational begründete Wissenschaft und sind auf rationalem Weg auf ihr Technologieniveau gekommen.“ Afasia fügte hinzu: „Die Entwicklung war langsam und das Ergebnis ist mäßig. Aber es gab eine Entwicklung und es gibt ein Ergebnis.“

An diesem Punkt präzisierte Nondatur sein Eingangsproblem. „Wir können das Problem nicht allein aus der Sicht dieser Spezies verstehen, denn es gibt gar keine logisch konsistente Sichtweise dieser Wesen. Ihr Gruppenverhalten ist sichtlich irrational, obwohl es in China rationale Komponenten zu geben scheint. Allerdings gibt es rationale oder zumindest zeitweise rationale Individuen, welche die Wissenschaft und Technologie der Spezies entwickeln.“ Afasia fasste sofort nach. „Die Spezies befindet sich im Grenzbereich von Rationalität und Irrationalität. Wenn wir rationale Spezies verstehen wollen, gehört dieser Grenzbereich zu unserem Forschungsauftrag. Ich beantrage die Eröffnung einer Volluntersuchung.“ Parlanda schaute mich belustigt an.

„Dem Antrag ist stattgegeben.“ entschied ich. Dren nickte wieder einmal wiederwillig. In der kommenden Woche befassen wir uns vor allem mit den folgenden zwei Fragen. Erstens: Wie kann es sein, dass eine Spezies für eine längere Dauer im Grenzbereich zwischen Irrationalität und Rationalität verharrt? Zweitens: Geht ihre Entwicklung als Gesamtspezies in Richtung höherer oder niedrigerer Rationalität. Wie immer“ - fügte ich mit Blick auf Nondatur an – „ist es willkommen, zusätzliche Probleme aufzuwerfen, gerade in einer Volluntersuchung. Wir treffen uns in einer Woche.“

(Fortsetzung folgt)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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