Die Erde – Ein Wintermärchen (2)

Der kalte Planet Bei unserer Suche nach rationalen Wesen trafen wir auf eine seltsame Spezies

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Was bisher geschah

Die 4. Woche

„Gorjatschij lässt sich entschuldigen.”, eröffnete ich unser Treffen, „Sie hat sich bei einem Ausflug auf den Planeten erkältet und ist in Quarantäne. Natürlich nichts Ernstes. Ich hätte sie nicht dorthin gelassen, wenn die dortige Biochemie mit unserer kompatibel wäre. Es hat sich in ihr nur einer der Keime ausgebreitet, die wir zur Beschäftigung unserer Immunsysteme mitführen. Aber wir sind halt auf der Sicherheitsstufe gelb.“

Parlanda schien ihre Woche Ruhm sehr genossen zu haben und wollte mehr davon. Sie eröffnete schon wieder die Diskussion. „Ich habe mich mit der Frage beschäftigt, wie die Menschen – so nennen sie sich – ihre Rationalität selbst einschätzen. Dabei bin ich auf einen Test gestoßen, der unserem Kognitionstest ähnelt. Nur benutzen sie ihn nicht wie wir zur medizinischen Diagnose, sondern um Individuen zu vergleichen.“ Zensus warf ein: „Dann müssen bei ihnen gesunde Individuen verschiedene Kognitionskoeffizienten haben. Welchen evolutionären Vorteil nimmst Du dafür an?“ Statt Parlanda antwortete Afasia. „Ihre technische Zivilisation ist auf einer evolutionären Zeitskala so jung, dass sie praktisch nur dem Evolutionsdruck vernunftloser Wesen unterlagen. Vom evolutionären Standpunkt aus gesehen sind sie tatsächlich noch eine irrationale Spezies.“ „Du hast ein Wort zuviel im Satz“ riss Parlanda die Rede wieder an sich. „Ihre technische Zivilisation ist nicht gerade beeindruckend, aber doch schon so weit entwickelt, dass sie keinem Evolutionsdruck mehr unterliegen. Wenn sich die Verteilung der Kognitionskoeffizienten überhaupt noch auf genetischem Wege verändert, wird sie sich eher verbreitern.1 Sie selbst sprechen übrigens vom Intelligenzquotienten und fassen darin alle Kognitionskoeffizienten in einer Zahl zusammen. Diese irrsinnige Reduktion komplexer Zusammenhänge auf eine einzige Zahl ist bei ihnen zum Zweck vereinfachter Vergleiche allgemein verbreitet.“

„Vielleicht ist das gar nicht relevant.“, gab Zensus zu bedenken, „Wie breit ist denn die Verteilung?“ Parlanda ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Sie normieren den Mittelwert auf 100. Ihr summarischer Kognitionskoeffizient ist nicht exakt normalverteilt, aber die Annäherung durch eine Normalverteilung ist gut. Allerdings normieren sie auch noch die Standardabweichung auf 15 Punkte, so dass der Zahlenwert außer in Vergleichen gar nichts mehr aussagt. Um Dir aber einen Eindruck zu geben: Im Mensa Admission Test liegt der Mittelwert der eigentlichen Messung bei 86,5 und die Standardabweichung bei etwa 17, also bei 20% des Mittelwerts.“ Meine Besatzung schaute ungläubig drein.

„An dieser Stelle brauchte ich die Expertise eines Ingenieurs.“ fuhr Parlanda fort. „Nicht wahr?“ bemerkte Dren mit einer Nonchalance, die wir noch nie an ihm bemerkt hatten. „Ich musste jetzt wissen, welche Kognitionskoeffizienten nötig waren, um ihre technische Zivilisation zu entwickeln.“ Dren übernahm: „Dem Inschenschör ist nichts zu schwör, aber das war nun wirklich einfach. Ich brauchte nur die Fragen ihrer standardisierten Tests anzuschauen, die Punktverteilung, die Umrechnung der Punkte in ihren Intelligenzquotienten und dann die Testfragen mit der kognitiven Tiefe ihrer wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Entwicklungen zu vergleichen, jeweils zum Zeitpunkt der Entwicklung oder Entdeckung. Das Ergebnis ist nicht quantitativ, aber eindeutig. Es brauchte sehr viel mehr als den Mittelwert. Mit anderen Worten: Nur eine sehr kleine Minderheit konnte ihre technische Zivilisation entwickeln und eine sehr kleine Minderheit kann sie weiterentwickeln.“

Zensus stellte die gleiche Frage zum zweiten Mal: „Und wieso ist das nun relevant?“ Parlanda antwortete: „Nur eine sehr kleine Minderheit kann die Grundlagen der technischen Zivilisation verstehen.“ Afasia hakte ein: „Moment mal. Eine Entdeckung nachzuvollziehen ist allemal einfacher als sie zu machen.“ „Das war tatsächlich Parlandas Einwand“, bemerkte Dren, „aber ich hatte das schon geprüft. Man braucht nur ihre aktuellen öffentlichen Diskussionen anzuschauen. Man wird bemerken, dass erstens sehr wenig über technische und wissenschaftliche Aspekte geredet wird und zweitens das Meiste von diesem Wenigen von keiner Sachkenntnis getrübt ist. Ihre öffentliche Diskussion offenbart ein grundlegendes Unverständnis dessen, was ihre Lebensbedingungen zu denen gemacht hat, die sie gegenwärtig sind.“ „Und was folgt nun daraus?“ fragte Zensus.

„Diese Frage müssen sich Parlanda und Dren auch gestellt haben“ bemerkte Nondatur. „Jedenfalls holten sie an diesem Punkt mich in die Kajüte. Kommen wir auf die Fragen des Käptns zurück. Sie waren gut gestellt.“ Er nickte mir zu. „Die Menschen verharren vermutlich so lange im Grenzbereich zwischen Rationalität und Irrationalität, weil die Mehrheit angesichts der Verteilung der Kognitionskoeffizienten beim Übergang zur Rationalität hoffnungslos ins Hintertreffen geriete. Das war natürlich nur eine Hypothese. Wir mussten noch prüfen, ob hohe Kognitionskoeffizienten mit rationalem Verhalten korrelieren. Zur Frage, in welche Richtung die Entwicklung geht, gibt es widersprüchliche Evidenz. Einerseits steigt die mittlere Punktzahl in ihren Intelligenztests langsam, aber systematisch an. Andererseits ist das Niveau ihrer öffentlichen Diskussionen in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch gefallen und der Abfall scheint sich gegenwärtig eher noch zu beschleunigen.“ Nondatur sah mich erwartungsvoll an. „Und“, fragte ich, „korrelieren hohe Kognitionskoeffizienten nun mit rationalem Verhalten?“

„Auf einen ersten Hinweis sind wir gestoßen, als wir etwas Anderes untersuchten.“ antwortete Parlanda. „Kann eine technische Zivilisation stabil sein, deren Grundprinzipien von der Mehrheit nicht verstanden werden und eigentlich auch nicht akzeptiert werden können? Entwickelt hat sie sich unter Bedingungen, unter denen eine Verbesserung der Lebensbedingungen auch für die kognitiv Benachteiligten interessanter war als die eigene Stellung in der Gesellschaft. Inzwischen sind die Lebensbedingungen aber schon sehr gut. Tatsächlich haben wir gefunden, dass es eine große Sehnsucht nach einer Rückkehr zu vortechnischen Zuständen gibt, die sich in den Diskussionen und im Kaufverhalten widerspiegelt.“

„Was ist Sehnsucht?“ hörte ich mich fragen. „Ziemlich ähnlich zu dem Gefühl, das wir empfinden, wenn wir verliebt sind und die geliebte Person entfernt ist.“ antwortete Zensus. „Liebe ist notwendig irrational.“ bemerkte ich.

„Deshalb ist es auch krankhaft, wenn sie sie sich auf abstrakte Ideen richtet, die rational überprüfbar oder diskutierbar sind.“ sagte Nondatur, „Abschnitt 7A des Kognitionstests.“ „Unseres Kognitionstests, um genau zu sein.“ warf Dren ein. „Sie testen das natürlich nicht.“ „Während Ihr es natürlich an ihnen getestet habt.“ gab ich zurück. „Auch das war einfach.“ beschied Dren, bevor Parlanda wieder übernahm: „Sie veröffentlichen unglaubliche Datenmengen über sich selbst in ihrem Internet und deutlich mehr Texte, als ihrem Denkvermögen entspräche. Es war kein Hexenwerk, wie sie sagen würden, 7A als Analyse dieser Daten zu programmieren. Etwas diffiziler ist die Abschätzung ihrer Kognitionskoeffizienten aus diesen Daten. Für einzelne Individuen ist die Unsicherheit ziemlich groß. Da wir aber sehr große Fallzahlen haben, ist die Korrelation recht zuverlässig. Nur brauchen wir sie eigentlich gar nicht.“ Zensus wurde hellwach: „Warum braucht Ihr die Korrelation nicht?“

„Ganz einfach“ sagte Dren, „Jedes Individuum, dem wir mehr als zehn Zeilen Text zuordnen konnten, der nicht zu einer wissenschaftlichen Veröffentlichung gehört, liebt irgendeine abstrakte Idee. Sogar ein Teil dessen, was sie für wissenschaftliche Literatur halten, ist voll davon. Es fehlt ihnen eklatant an gesunder Skepsis. Wir haben keine Einzige und keinen Einzigen gefunden, der 7A bestehen würde. Sie sind durchweg irrational.“ Afasia wehrte sich für die Menschen. „Um genau zu sein, habt ihr nur noch niemanden gefunden, der geistig gesund genug ist, um in unserer Besatzung zu arbeiten.“ Nach einem kurzen Blick auf Dren antwortete Parlanda: „Nun spalte mal kein Streichholz, liebe Afasia. In einer sehr guten Ingenieursnäherung ist diese Irrationalität ein Gendefekt, der die ganze Spezies betrifft.“ Afasia errötete leicht, was ihr sehr gut stand, und murmelte: „Was ist ein Streichholz?“

Ich lenkte die anderen ab, indem ich nachfragte: „Und was ist nun mit der Korrelation?“ „Ach, langweilig.“ sagte Parlanda. „Der summarische Kognitionskoeffizient ist leicht antikorreliert zur Abstrusität der Ideengebäude, die sie lieben. Je weniger Kognition, umso leichter lässt sich widerlegen, was sie für eine unumstößliche Wahrheit halten. Aber auch am oberen Ende ihrer Kognition lässt es sich noch widerlegen.

„Ich fasse zusammen.“, begann ich mein Schlusswort. „Die Spezies ist für uns ungefährlich, weil…“ – hier unterbrach mich die Besatzung im Chor – „irrationale Wesen nicht strategiefähig sind.“ Parlanda grinste mich an: „Also wirklich, Käptn, Du trägst mal wieder Eulen nach Athen.“ Ich grinste zurück. „Ab sofort gilt Sicherheitsstufe grün.“ Die Tür öffnete sich. „Willkommen Gorjatschij“ begrüßte ich die Eintretende. „Eines muss man ihnen lassen.“ gab sie zurück, „sie sind verdammt kälteresistent.“

„Des Weiteren ist die Spezies mit hinreichender Sicherheit irrational.“ Fuhr ich fort. Drens Blick schweifte auf Parlanda. „Jedoch würden wir unseren Auftrag zu eng interpretieren, wenn wir die Untersuchung hier abschlössen. Schließlich haben sie trotz allem eine technische Zivilisation.“ Dren fügte hinzu: „Und einige ihrer wissenschaftlichen und technischen Ergebnisse sind gar nicht so schlecht.“ Ringsum war niemand überrascht, nicht einmal Gorjatschij, die es beim ersten Blick in den Raum bemerkt haben musste. „Wir setzen also eine Woche fort.“ beschied ich.

„Es gibt wieder zwei Hauptfragestellungen. Zwischen dem Niveauverfall ihrer öffentlichen Diskussionen und der immer noch anhaltenden Weiterentwicklung ihrer Technologie besteht ein Widerspruch. Wir sollten herausfinden, ob ihre technische Zivilisation kurz vor der Wende zum Zerfall steht. Damit zusammen hängt der zweite Fragenkomplex, nämlich der ihrer Populationsentwicklung.“ Ich blickte auf Zensus, der diese Woche etwas kurz gekommen war. „Hält ihre technologische Entwicklung mit ihrer Populationsentwicklung Schritt? Befördert die Populationsentwicklung Wissenschaft und Technologie oder behindert sie diese?“ Ich hielt etwas inne und fügte an: „Es gibt noch eine wichtige Nebenfrage, die auf Afasias Einwand zurückgeht. Angesichts einiger erstaunlicher Entdeckungen und Entwicklungen, die sehr sauberes Denken erfordert haben müssen, stellt sich die Frage, ob es nicht doch einzelne rationale Individuen gegeben hat oder gibt.“ Nondatur nickte: „Ich würde das als Kernfrage ansehen. Gibt es nun technische Zivilisation in Abwesenheit rationaler Individuen oder nicht? Wenn wir zurück sind, muss in jedem Fall das Forschungsprogramm der Flotte präzisiert werden. Das sollte so gut wie möglich geschehen.“ Jeder von uns wusste, dass Nondatur eines der erfahrensten Mitglieder des Forschungsrats der Flotte war.

„Noch etwas“, sagte ich, „Parlanda bekommt einen Spezialauftrag“. Sie blickte verwundert auf. „Diesem Raum fehlt es an Dekoration. Du bringst nächste Woche zwei Bilder mit. Eins von Athen und eins von einer Eule.“

Fortsetzung folgt

1Das ist deshalb denkbar, weil Individuen an den Rändern der Verteilung miteinander Nachkommen haben können. Soweit der Kognitionskoeffizient erblich ist, können dadurch zwei Chromosomen mit sehr hohem oder zwei mit sehr niedrigem kognitivem Beitrag kombiniert werden. Andererseits heiraten Menschen mit mittleren Intelligenzquotienten signifikant häufiger als solche an den Rändern der Verteilung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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