Die Lage der deutschen Intensivmedizin

Covid-19 Die öffentliche Darstellung der Situation auf deutschen Intensivstationen widerspricht eklatant der Datenlage.

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Ich bin der festen Überzeugung, dass es allen Kliniken hierzulande möglich ist, sich jederzeit adäquat auf eine veränderte epidemiologische Situation einzustellen. Intensivkapazitäten gibt es derzeit definitiv genug. Darüber hinaus hat das deutsche Gesundheitssystem unter Beweis gestellt, dass innerhalb kürzester Zeit elektiv geplante Eingriffe und Operation gestoppt werden und somit zusätzliche Betten- und Behandlungskapazitäten geschaffen werden können.

Prof. Dr. Uwe Janssens, Präsident der DIVI, in FAZ.net

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Die Äußerung von Herrn Janssens stammt aus einem Interview, das Anna Seidinger für eine am 5. Oktober 2020 erschienene Verlagsbeilage der FAZ mit ihm geführt hat. Im Internet ist es noch aufzufinden, aus der Übersicht der Verlagseilage wurde es allerdings inzwischen entfernt. Irgendjemand muss schon am 15. Oktober in Betracht gezogen haben, dass dieses Interview möglicherweise depubliziert werden könnte und hat es archiviert. Das Interview ist unaufgeregt, sehr sachlich und auch im Ganzen interessant. Herr Janssens konnte das also vor drei Monaten noch. So erfährt man zum Beispiel, dass auf dem Höhepunkt der ersten Covid-19-Welle – bezogen auf die Intensivmedizin war das der 23. April – knapp 17000 Intensivbetten zur Verfügung standen, von denen 2776 mit Covid-19-Patienten belegt waren. Im Interview gab Herr Janssens 30498 verfügbare Intensivbetten an, von denen 9477 frei waren, zudem gab es eine Notfallreserve von etwa 12000 Betten. Damals wurden 245 Patienten intensivmedizinisch wegen oder mit Covid-19 behandelt. Am 1. Januar 2021 waren es 5578, die Zahl lag nie über 5637. Wie kann es sein, dass Herr Janssens am 29. Dezember im heute journal des ZDF gegenüber Claus Kleber so ziemlich das Gegenteil seiner damaligen Aussage „Intensivkapazitäten gibt es derzeit definitiv genug.“ behauptete?

Das magische Verschwinden von Intensivbetten

Zunächst einmal ist die Anzahl belegter Intensivbetten nicht wesentlich gestiegen (Quelle der Daten in diesem Abschnitt: DIVI-Intensivregister). Sie betrug Ende August 19334 und am 5. Oktober 19175, am 1. Januar 2021 waren es 19855. Im Dezember lag sie nie über 20752 (10. Dezember), ein Wert der am 16. Juli (20784) übertroffen worden war, als es keine nennenswerte Zahl von Covid-19-Patienten gab. Das ist einigermaßen erstaunlich, wenn es doch 5333 mehr intensivmedizinisch behandelte Covid-19-Patienten geben soll als zum Zeitpunkt des Interviews. Erstaunlich ist auch, dass bei praktisch gleicher Belegung wie im Sommer einige Krankenhäuser unter großem Mediengetöse behaupten, keine freien Kapazitäten mehr zu haben.

Der Grund – Verzeihung, die Begründung – ist einfach. Am 5. Oktober waren insgesamt 27605 verfügbare Intensivbetten gemeldet, zusätzlich befanden sich 11694 Betten in der Notfallreserve. Am 1. Januar sind insgesamt 23742 Betten gemeldet, 10489 befinden sich in der Notfallreserve. Eine Übersicht über das letzte Quartal 2020 und damit über die zweite Covid-19-Welle gibt Abbildung 1. Wir sollen also glauben, dass in den letzten drei Monaten, während einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, 14% der Intensivbetten einfach so verschwunden sind und außerdem noch 10% derjenigen in der Notfallreserve. Sollten sie tatsächlich physisch verschwunden sein, so müssten die Verantwortlichen belangt werden.

Fehlt es an Personal?

Eine vergleichsweise harmlose Erklärung für den Schwund der verfügbaren Intensivbetten ließe sich aus dem oben zitierten Interview entnehmen. Dort erklärt Herr Janssens, dass in der ersten Covid-19-Welle Personaluntergrenzen außer Kraft gesetzt wurden, die vor der Pandemie garantieren sollten, dass die Krankenhäuser genug Personal für ihre Intensivbettenkapazität vorhalten. Diese Personaluntergrenzen wurden dann wieder in Kraft gesetzt. Diese Erklärung hat allerdings zwei Haken. Erstens müssten sich die auf diese Weise gesperrten Betten in der Notfallreserve wiederfinden, die aber nicht gewachsen, sondern ebenfalls geschrumpft ist. Zweitens würde diese Begründung implizieren, dass mindestens 14% des Personals erkrankt sind oder sich in Quarantäne befinden. Jeder weiß aus eigener Anschauung, dass dieser Anteil in der Gesamtbevölkerung nicht einmal annähernd erreicht wird. Man kann das auch nachrechnen. Die mittlere Zahl positiver Tests pro Tag liegt unter 25000. Wenn wir großzügig mit einer mittleren Erkrankungs- bzw. Quarantänedauer von 20 Tagen rechnen, sind in Deutschland etwa 500000 Personen durch Covid-19 an ihre Wohnung gebunden. Das sind 0.6%. Sollte der Anteil unter dem Krankenhauspersonal um einen Faktor 23 größer sein, so stimmt dort etwas beim Infektionsschutz des Personals nicht. Das wäre dann etwas, worum sich Herr Janssens dringend kümmern müsste, zumal es auch zu nosokomialen Infektionen von Patienten führen würde, auf die ich weiter unten eingehe. Insgesamt bleibt unklar, aus welchen nichtpolitischen Gründen die Zahl deklarierter verfügbarer Intensivbetten so stark gesunken sein könnte. Der Verlust von 14% der Gesamtkapazität lässt sich medial viel spektakulärer ausschlachten als die Zahl vermuten lässt. Das liegt daran, dass vor der zweiten Covid-19-Welle etwa 70% aller Intensivbetten belegt waren, wie es international auch üblich ist. Es sind also satte 46% der zuvor freien Betten ohne ersichtlichen Grund verschwunden. Die restliche Hälfte ist immer noch frei.

Zur psychischen Belastung des Personals

Wen der Umgang mit dem Tod tief verstört, der arbeitet nicht auf einer Intensivstation. Dennoch ist es natürlich belastend, wenn sich die Verhältnisse verschieben zwischen denjenigen, die man retten kann und denjenigen, die trotz aller Bemühungen sterben. Deshalb ist es für die Lageeinschätzung wichtig zu wissen, ob die Sterberate auf den Intensivstationen stark angestiegen ist. Aus den täglichen Lageberichten des Robert-Koch-Instituts (RKI) kann man entnehmen, welcher Anteil der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen stirbt und welcher Anteil diese Stationen lebend verlässt. Diese Daten habe ich für den Dezember 2020 in tägliche Fallzahlen umgerechnet und gemittelt. Der Anteil auf der Intensivstation verstorbener Patienten ist mit 30.5% tatsächlich sehr viel höher als der übliche Anteil auf Intensivstationen versterbender Patienten. Die Mortalität unter allen Intensivpatienten ist nicht so hoch, weil der Anteil der Covid-19-Intensivpatienten unter 30% liegt.

Um diese Daten zu interpretieren, muss man zwei Dinge in Betracht ziehen. Erstens tritt der Tod durch Covid-19 in der Regel infolge einer Lungenentzündung (Pneumonie) ein, wie ich weiter unten näher erläutern werde. Zweitens ist der Anteil von Pneumonie-Patienten generell in der Erkältungszeit und insbesondere während Grippeepidemien ebenfalls erhöht. Beides spielt eine Rolle, wenn wir entscheiden wollen, ob hier eine Situation vorliegt, die sich von Situationen in der Vergangenheit stark unterscheidet.

Die Mortalität von Intensivpatienten mit Pneumonie hat Kim Honselmann genannt Humme in ihrer 2015 erschienenen Dissertationsschrift untersucht. Sie belief sich auf 28% (29 von 103 Patienten), wobei eine signifikant höhere Mortalität unter den nosokomialen Infektionen zu beobachten war, die im Krankenhaus erworben worden waren (52%, 26 von 50), während in Pflegeeinrichtungen erworbene nosokomiale Infektionen nicht auffällig waren. Die Einjahres-Mortalität (nach Entlassung) lag jedoch bei beiden Typen nosokomialer Infektionen über 70%, bei ambulant erworbenen Pneumonien dagegen nur knapp über 50%. Man kann schließen, dass sich Covid-19-bedingte Pneumonien nicht wesentlich von den 2014/15 aufgetretenen Pneumonien unterscheiden.

Die absoluten Zahlen von Sterbefällen in Deutschland liegen in der zweiten Covid-19-Welle weiterhin deutlich unter denjenigen, die um den Höhepunkt der Grippewelle 2018 auftraten. Vor allem aber beträgt der Anteil derjenigen Covid-19 zugeschriebenen Sterbefälle, die auf Intensivstationen aufgetreten sind, im Dezember 2020 nur 33.6% (aus den RKI-Tagesberichten). Damit ist die Zahl der Sterbefälle auf Intensivstationen für eine Epidemiesituation, wie sie in der Vergangenheit alle paar Jahre einmal auftrat, nicht ungewöhnlich hoch. Von einer Notsituation, die einen Lockdown rechtfertigen würde, kann nicht die Rede sein.

Zuschreibung von Sterbefällen zu Covid-19

Dass etwa zwei Drittel der Covid-19 zugerechneten Sterbefälle nicht auf Intensivstationen auftreten, erstaunt sehr. Dieser Umstand kann kaum allein aus der hohen Mortalität von Pneumonie-Patienten nach ihrer Entlassung erklärt werden. Selbst in dem Maße, in dem diese Erklärung trägt, führt die Zählung dieser Sterbefälle lange nach überstandener Infektion zu einem verzerrten Bild des Epidemieverlaufs. Der Hauptgrund für die hohe Zahl von Covid-19 zugeschriebenen Sterbefällen außerhalb der Intensivstationen dürfte jedoch die Falldefinition des RKI sein.

Die Zuordnung kann auf reinen Verdacht erfolgen, ohne dass Covid-19-spezifische Symptome aufgetreten sind oder auch nur ein positiver PCR-Test vorläge. Dazu genügt es, dass die Person entweder Kontakt zu einem „bestätigten Fall“ hatte oder „Teil eines Ausbruchsgeschehens“ war. Diese Definitionen sind sehr breit und bei Abwesenheit von Symptomen und positivem PCR-Test dürfte in den meisten Fällen wohl gar keine Infektion vorliegen. Eine solche Falldefinition kann im Krankenhausmanagement sinnvoll sein, weil man bei der Trennung von Covid-19-Patienten von anderen Patienten zur Vermeidung nosokomialer Infektionen die Wahrscheinlichkeit möglichst geringhalten möchte, dass infizierte Patienten im Normalbetrieb landen. Die Falldefinition des RKI bezieht sich jedoch ausdrücklich auch auf Sterbefälle und bei diesen ist sie unwissenschaftlich und unhaltbar. Es ist davon auszugehen, dass die Mortalität durch Covid-19 überschätzt wird. Zieht man den hohen Anteil von Sterbefällen außerhalb von Intensivstationen in Betracht, so wird sie vermutlich stark überschätzt.

Der Cytokin-Sturm als Sinnbild

Die meisten Covid-19-Infektionen verlaufen asymptomatisch oder leicht. Pneumonien und andere schwere Komplikationen treten hautsächlich aus zwei Gründen auf. Erstens ist das auf die Abwehr der Covid-19-Infektion eingestellte Immunsystem anfällig gegenüber sekundären Infektionen, so dass Patienten viel leichter eine bakterielle Pneumonie erwerben. Dieses Problem trat vor allem am Anfang der ersten Welle auf und kann durch Gabe von Breitbandantibiotika weitgehend beherrscht werden. Auch in diesem Fall ist eine Überreaktion auf die Covid-19-Pandemie allerdings schädlich, wenn die bestehende beste Praxis des Antibiotika-Managements in der Panik außer Kraft gesetzt wird. Dadurch riskiert man das Heranzüchten zusätzlicher Antibiotika-resistenter Keime und damit eine erhöhte Rate nosokomialer Infektionen selbst nach dem Ende der Pandemie.

Die Covid-19-spezifische Komplikation ist der Cytokin-Sturm, der im Mai 2020 in einem Artikel in Cell beschrieben und seitdem stark untersucht wurde. Es handelt sich um eine unverhältnismäßige Reaktion des Immunsystems, die bis zu ihrem Auftreten schwer vorherzusagen ist. Dabei werden in starkem Maße Cytokine produziert, die eine Entzündung verursachen, ohne dass in ausreichendem Maße Interferone produziert würden, die ebenfalls wichtig für die Immunantwort sind. Dadurch richtet sich die Entzündung unspezifisch gegen gesunde Zellen, was den Krankheitsverlauf verschlimmert und zum Tode führen kann.

In dieser Hinsicht ist der Cytokin-Sturm ein Sinnbild für die politische Reaktion auf die Covid-19-Pandemie, wobei die Lockdowns und anderen starken Einschränkungen für gesunde Personen die Rolle der Cytokine spielen. Durch diese unverhältnismäßige Reaktion wird die Gesellschaft geschädigt. Zugleich werden Ressourcen von nötigen Schutz der am stärksten gefährdeten Gruppen abgezogen, was sich in einer hohen Rate nosokomialer Infektionen in Altersheimen und einer damit verbundenen stark erhöhten Inzidenz von Covid-19 in der verwundbarsten Gruppe der über 80-jährigen Personen äußert.

Zu beachten ist dabei auch, dass eine Lockdown-Politik die Rehabilitation von Patienten nach überstandener Covid-19-Infektion erschwert und das Personal im Gesundheitswesen zusätzlich belastet, das ja neben der Arbeit auch ein Leben führt. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist stark zu vermuten, dass der mit dem Lockdown verbundene Stress die mittlere Immunkompetenz verringert. Gleichzeitig gibt es keine Belege, dass Lockdowns einen starken und andauernden Einfluss auf die Inzidenz der Infektion hätten. Modellrechnungen, aus denen das geschlossen wird, sind stark unterkomplex. Die zeitliche Korrelation von Epidemieverläufen und Lockdowns in verschiedenen Ländern legt nicht nahe, dass sie funktionieren.

Fazit

In der ARD-Tagesschau vom 2. Januar 2021 wurde mit dem Ziel der Begründung einer Verlängerung des Lockdowns zweimal behauptet, dass die Belegung der Intensivstationen angestiegen sei. Ausweislich der Daten des DIVI-Intensivregisters (Abbildung 1) handelt es sich dabei um falsche Tatsachenbehauptungen, umgangssprachlich um Lügen. Obwohl die Medien und Politiker diesen Weg bis zur direkten Lüge nur selten gehen, ist eine einseitige Darstellung und grobe Verzerrung der Tatsachen üblich. Daraus folgt eine unverhältnismäßige Reaktion auf die Pandemie, die schweren Schaden anrichtet. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist ein Vertrauensverhältnis. Führende Vertreter der Ärzteschaft sollten sich nicht aus politischen Gründen an der verzerrten Darstellung der Situation beteiligen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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