Die nicht perfekte Impfung

Covid-19 Ohne Auffrischung ist der Impfschutz auch gegen schwere Verläufe viel schlechter

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Dieser Beitrag ist auch als PDF-Datei mit integrierten Abbildungen verfügbar.

Inzwischen hat die deutsche und schweizerische Öffentlichkeit mitbekommen, was in Israel bereits Anfang August in Gesundheitspolitik umgesetzt wurde: Zwei Impfdosen verhindern auch bei hoher Impfquote keine Epidemiewelle und bieten keinen zuverlässigen Schutz vor schweren Verläufen. Mitte August hatte ich die damaligen israelischen Daten analysiert und war zu dem Schluss gekommen, dass das Robert-Koch-Institut von Israel lernen solle. Das hat es offensichtlich nicht getan. Ich war mit Blick auf die damaligen israelischen Daten auch zu dem Schluss gekommen: „Ferner legen sie sehr nahe, dass das Corona-Problem nicht durch Impfungen zu lösen ist.“. Allerdings lagen am 19. August noch keine hinreichenden Erfahrungen mit Auffrischungsimpfungen vor, wie ich weiter unten auch belegen werde. Mein damaliger Schluss könnte also durch die Auffrischungsimpfungen in Frage gestellt werden und wenn nicht, müsste man überlegen, ob die Auffrischungsimpfungen sinnvoll sind. Diese beiden Punkte möchte ich hier untersuchen.

Zunächst müssen wir uns allerdings anschauen, wie gut man aus israelischen Daten auf die Verhältnisse in Deutschland und in der Schweiz schließen kann. Dieser Frage widmet sich Abbildung 1. In drei der vier Kacheln ist auf einer logarithmischen Skala der Anteil verschiedener schwerer Verläufe an der Gesamtbevölkerung dargestellt. Grüne Punkte entsprechen Personen, die im Krankenhaus lagen, rote Personen auf Intensivstationen und dunkelgraue den täglichen Sterbefällen. Im Fall Deutschlands gibt es zur Krankenhausbelegung außerhalb der Intensivstationen keine Daten. Wir sehen zunächst, dass die Epidemie bezogen auf die Gesamtbevölkerung in allen drei Ländern bei allen Kategorien ähnlich schwer ist. Für Deutschland ist ein Vergleich der Krankenhausbelegung nicht möglich, weil dazu keine Daten vorliegen. Auch die Schwankungen zwischen Epidemiewellenkämmen und –tälern sind ähnlich.

Will man vergleichen, wie die Gesundheitssysteme mit der Epidemie zurechtkommen, so verschiebt man dazu am besten Linien eines leichteren Verlaufs vertikal bis sie so gut wie möglich mit Linien des nächstschwereren Verlaufs in Deckung kommen. Die blassgrüne Linie ist der auf diese Weise mit der Intensivstationsbelegung zur Deckung gebrachte Krankenhausbelegung. Die blassrote Linie ist die mit den Todesfällen zur Deckung gebrachte Intensivstationsbelegung. Die nötigen vertikalen Verschiebungen sind ebenfalls in allen drei Ländern ähnlich. In Israel betragen sie 0.78 zwischen Krankenhaus- und Intensivstationsbelegung und 0.88 zwischen Intensivstationsbelegung und Todesfällen. Die Werte für die Schweiz sind 0.78 und 1.3 und für Deutschland derjenige zwischen Intensivstationsbelegung und Todesfällen 1.3. Der Unterschied der zweiten Zahl zu Israel kann zwei Ursachen haben, eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit von Intensivpatienten in der Schweiz und in Deutschland oder eine kürzere mittlere Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation. Wenn es eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit ist, könnte das entweder an besserer Versorgung oder aber daran liegen, dass in der Schweiz und in Deutschland bereits bei geringerer Schwere des Verlaufs eine Aufnahme auf die Intensivstation erfolgt. Dies Fragen können wir nicht klären, sie machen aber für die folgende Diskussion nichts aus.

Man würde nun annehmen, dass die Verhältnisse zwischen den Kategorien schwerer Verläufe nach Anfangsschwierigkeiten im weiteren Epidemieverlauf gleichbleiben oder sich allenfalls verbessern. Im Großen und Ganzen ist das auch der Fall, mit drei Ausnahmen. Zwei davon sind gleich geartet und durch die orangenen Pfeile gekennzeichnet. Während der Herbstwellen 2020 war in der Schweiz und in Deutschland das Verhältnis zwischen Intensivpatienten und Todesfällen für mehrere Wochen schlechter. Da es sich um eine logarithmische Darstellung handelt, ist der Effekt als stark zu bezeichnen. Das deutet entweder auf eine Überlastung des Gesundheitssytems hin oder auf einen deutlichen Anteil von Todesfällen außerhalb von Krankenhäusern. Einen Hinweis auf Letzteres gab es im Herbst 2020 tatsächlich in den deutschen Daten.

Die dritte Anomalie zeigt sich im Oktober und November 2021 in Israel. Dort ist derzeit das Verhältnis zwischen Intensivpatienten und Krankenhauspatienten schlechter. Das könnte allerdings entweder daran liegen, dass bei der gegenwärtig dort nicht angespannten Lage eine Aufnahme auf die Intensivstation eher erfolgt oder, dass die Auffrischungsimpfungen das Verhältnis zwischen leichten und schweren Verläufen verändert haben.

Aus den oben erwähnten Verschiebungen kann man keine Verhältniszahlen zwischen den Verlaufszahlen berechnen. Das liegt daran, dass die Patienten für eine unbekannte Zeitdauer im Krankenhaus liegen, ein Todesfall aber an genau einem Tag auftritt. Will man Verhältnisse berechnen, muss man Daten zu Aufnahmen ins Krankenhaus oder auf die Intensivstationen haben. Diese habe ich nur für Israel finden können, weshalb es die Grafik links unten nur für dieses Land gibt. Weil diese Daten zu stark streuen, habe ich eine kumulative Darstellung gewählt. Über den gesamten bisherigen Epidemieverlauf wurde dort einer von zwei ins Krankenhaus aufgenommenen Patienten auch in die Intensivstation eingeliefert. Zwei von 15 ins Krankenhaus eingelieferten Personen sind verstorben. Fünf von 18 auf die Intensivstation übernommenen Patienten sind verstorben. Auffällig ist, dass sich die Verhältnisse bei Todesfällen in der Welle im Juli bis September 2021 verbessert haben. Das deutet auf einen Impfeffekt hin.

Wie impft Israel und warum so?

In Abbildung 2 ist der Impffortschritt und der Anteil geimpfter Patienten in israelischen Krankenhäusern für verschieden schwere Verlaufsformen gezeigt. In der linken Kachel erkennt man zwei hocheffiziente, hervorragend organisierte Impfkampagnen. Die durchgezogenen Linien entsprechen der zweiten Dosis. Nach einem Impfstart am 20. Dezember 2020 hatte Israel vor Beginn Februar 2021 die Impfquote für Bürger über 60 Jahre auf über zwei Drittel gebracht, in den Altersgruppen 70-89 sogar auf über drei Viertel. In der Altersgruppe über 90 Jahre blieb die Impfquote geringer, was daran liegt, dass in dieser Gruppe für sehr schwache Personen das Impfrisiko zu hoch ist. In den Altersgruppen unter 60 nimmt die Impfquote sukzessive mit dem Alter ab, was rational ist, weil das Risiko eines schweren Verlaufs sehr stark mit dem Alter abnimmt. In der Altersgruppe unter 19 Jahren blieb die Impfquote niedrig. Das deutet darauf hin, dass die Impfung für diese Altersgruppe angeboten, aber nicht stark beworben wurde. Wenn dem so war, hat die israelische Regierung getan, was ich empfohlen hätte. Die erste Impfkampagne erreichte in den höheren, gefährdeten Altersgruppen Anfang März vorerst eine Sättigung.

Das Muster und die Geschwindigkeit wiederholten sich ab Anfang August bei der dritten Dosis, mit etwas geringeren Impfquoten nach der Kampagne, besonders in den jüngeren Altersgruppen (gepunktete Linien).

Welchen Effekt hatten die beiden Impfkampagnen nun auf schwere Verläufe? Zunächst einmal ist das an den direkt von der israelischen Regierung zur Verfügung gestellten Hospitalisierungsdaten in der mittleren Kachel von Abbildung 2 dargestellt. Nach Sättigung der ersten Kampagne in den gefährdeten Altersgruppen Anfang März lag der Anteil geimpfter Personen im Krankenahaus für jede Verlaufsschwere bei etwa 25%. Für die schwersten Verläufe sank er zwischen Mitte April und Mitte Mai sogar auf etwa 12-15%. Das liegt sehr wahrscheinlich daran, dass in der am stärksten gefährdeten Gruppe über 90 inzwischen das Verhältnis zwischen Impf- und Infektionsrisiko etwas anders eingeschätzt wurde.

Ab Anfang Juli kam es zu einer Sommerwelle in Israel bei hoher Impfquote der Gesamtbevölkerung. Nachdem schon zuvor der Anteil geimpfter an leichten Fällen im Krankenhaus stark angestiegen war, geschah das nun auch für die schweren Fälle. Auf dem Höhepunkt der Sommerwelle waren über 60% der schweren Fälle und über 50% der beatmeten Patienten geimpft. Die israelische Regierung, die zu jedem Zeitpunkt über detaillierte, ohne politische Rücksichten und Absichten erhobene Daten verfügte, erkannte das Problem sehr schnell und traf sehr schnell eine Entscheidung. Die Diagnose war, dass der Impfschutz schnell nachlässt. Die Entscheidung war, sofort, bereits ab dem 1. August, und schnell Auffrischungsimpfungen durchzuführen. Die Daten aus Israel, die auch für die deutschen und schweizerischen Behörden verfügbar waren, zeigten spätestens Anfang August ganz klar Eines: Eine hohe Belastung, gegebenenfalls auch Überlastung des Gesundheitssystems konnte durch Erstimpfungen (zwei Dosen) nicht sicher verhindert werden, auch bei praktisch vollständiger Impfung der Bevölkerung nicht. Spätestens Mitte September war klar, dass Auffrischungsimpfungen eine sehr erfolgreiche Strategie waren, um das Problem zumindest abzumildern. Das lag nicht an einem Abklingen der Welle, die zu diesem Zeitpunkt auf ihrem Höhepunkt war (siehe Abbildung 1). Vielmehr war der Anteil Geimpfter an den Patienten für jede Schwere der Verlaufsform wieder deutlich gesunken. Man kann abschätzen, dass die Intensivstationsbelegung durch Covid-19-Patienten ohne Auffrischungsimpfungen am Höhepunkt der israelischen Welle um etwa 35% höher gelegen hätte.

Für eine gesundheitspolitische Entscheidung für eine dringliche Auffrischungsimpfkampagne sollte die bisherige Diskussion ausreichen. Will man allerdings einzelne Personen überzeugen, ist der Anteil Geimpfter an der Krankenhausbelegung keine sehr gute Zahl. Es kommt schnell das Argument auf: Kein Wunder, es sind ja auch so viele geimpft. Sollen sich doch erst einmal die bisher Ungeimpften erstimpfen lassen.

Deshalb schauen wir uns jetzt die rechte Kachel von Abbildung 2 an, in der das relative Risiko geimpfter Personen dargestellt ist. Dazu musste ich auf den Anteil geimpfter Personen normieren, was nicht ganz einfach ist. Ich darf nicht den Anteil in der Gesamtbevölkerung verwenden, denn die Altersverteilung der Krankenhauspatienten ist eine völlig andere als diejenige der Gesamtbevölkerung. Anderseits stehen mir die Hospitalisierungsdaten nicht nach Altersgruppen aufgelöst zur Verfügung. Ich habe daher auf die Impfquote in der Altersgruppe über 50 normiert, die sich in Israel nicht stark von derjenigen über 60 oder über 70 unterscheidet. Damit erhalte ich eine brauchbare Näherung der Impfquote unter Krankenhauspatienten.

Kurz nach vollständig hergestellter Impfwirkung, sinkt das Risiko einer Hospitalisierung auf etwa ein Zehntel derjenigen ungeimpfter Personen, bei sehr schweren Verläufen ist es sogar nur ein Zwanzigstel. Die Wirkung lässt aber schnell nach. Mitte Juli bis Anfang August betrug das Risiko geimpfter Personen für eine Krankenhausaufnahme mit leichtem Verlauf 40-50%. Dass es bereits vor der Auffrischungskampagne etwas sank, ist einem weiteren Anstieg der Erstimpfquote zuzuschreiben, also frischen Erstimpfungen. Das Risiko schwerer Verläufe lag vor den Auffrischungsimpfungen für Geimpfte bei einem Drittel des Risikos Ungeimpfter. Bei den Beatmungen war es etwa ein Viertel. Die Auffrischungsimpfung hat die Verhältnisse wie nach frischen Erstimpfungen wiederhergestellt. Wie lange sie vorhält, ist unklar. Rechtzeitig vor dem Herbst 2022, aber nicht zu zeitig davor, sollte sie vorsichtshalber wiederholt werden.

Nachtrag (27.11.2021)

Auf Anregung von @Grenzpunkt-Null reiche ich hier eine altersgruppenaufgelöste Analyse der Reduktion des absoluten Risikos durch die Impfung nach. Dazu muss ich auf einen anderen israelischen Datensatz zurückgreifen. Die umfangreichen Hospitalisierungsdaten existieren nicht altersgruppenaufgelöst und wie wir unten sehen werden, wäre eine Mittelung des absoluten Risikos über alle Altersgruppen völlig unsinnig. Ein anderer Datensatz verzeichnet alle Hospitalisierungen mit ohne Angabe des Schweregrads und alle Todesfälle jeweils mit Angabe des Impfstatus summarisch über eine Woche aber aufgelöst nach Altersgruppen. Dieser Datensatz weist allerdings ein Problem auf. Fallzahlen zwischen 0 und 5 werden in eine Klasse „<5“ eingeordnet. Dadurch werden die absoluten Risiken in allen Gruppen leicht unterschätzt.

Meine Methodik war die folgende. Ich untersuche einen Zeitraum, in dem die absolute Zahl geimpfter Personen in jeder Altersgruppe hinreichend groß ist, um ein prozentuales Risiko zu errechnen. Geprüft habe ich das für Personen, deren zweite Impfdosis vor mindestens 14 Tagen verabreicht wurde und für solche, bei denen das für die dritte Impfdosis der Fall war. Dabei habe ich eine untere Schwelle von 10‘000 Personen je Kategorie und Altersgruppe verwendet. Das Ergebnis verschiebt sich aber nicht stark, wenn ich bis zu einer Schwelle von 100 hinuntergehe, weil die israelischen Impfkampagnen so schnell sind. Für die vollständige Erstimpfung (14 Tage nach der 2. Dosis) kann ich die Daten ab der Woche auswerten, die am 14. Februar begann. Für die vollständige Auffrischungsimpfung (14 Tage nach der 3. Dosis) ist das ab der Woche der Fall, die am 5. September begann. Ich habe jeweils die mittlere Anzahl der Personen je Altersgruppe und Impfkategorie in der jeweiligen Woche errechnet. Die Fälle pro Woche habe ich durch diese Zahl geteilt und die Wochenrisiken aufaddiert. Multipliziert mit 100 ergeben sie die in Abbildung 3 dargestellten absoluten Risiken in den Zeiträumen vom 14. Februar bis 23. November bzw. vom 5. September bis 23. November.

In der Abbildung sind einige Effekte zu sehen, die in den Medien bereits diskutiert wurden. In der höchsten Altersgruppe 90+ fällt der relative Schutz durch die Impfung (Verhältnis der Balkenhöhen) deutlich geringer aus. Dass in dieser Altersgruppe das absolute Risiko ungeimpfter Personen geringer ist als in der Altersgruppe 80-89, dürfte wohl auf Kontaktarmut bei den sehr alten Menschen zurückzuführen sein. Das Sterberisiko ist unter 50 Jahren auch für ungeimpfte Personen gering. Das Hospitalisierungsrisiko erstgeimpfter Personen ab 70 Jahren war in beiden Perioden höher als für ungeimpfte Personen unter 50 Jahren. Selbst mit Auffrischungsimpfung haben Personen über 70 Jahren ein höheres Hospitalisierungsrisiko als ungeimpfte Personen unter 30 Jahren und ein höheres Sterberisiko als ungeimpfte Personen unter 40 Jahren. Die Schlussfolgerungen bleiben die gleichen, wie für das relative Risiko. Impfungen und Auffrischungsimpfungen in Risikogruppen sind sehr sinnvoll; auch ein Angebot für jüngere Personen ist nicht verkehrt. Eine Begründung für eine allgemeine Impfpflicht lässt sich angesichts der geringen Risiken in jungen Altersgruppen nicht finden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden