Die undichte Stelle von Celle

Hannover Der Fall Lüttig zeigt, dass in der Bundesrepublik Deutschland die offene Gesellschaft noch eine Chance hat, aber auch, in welcher Gefahr sie schwebt.

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Es war einmal ein Loch. Das Loch war in der Gefängnismauer von Celle. Und wie war es dort hineingekommen? Das Loch hatte der niedersächsische Verfassungsschutz in die Mauer gesprengt. Und warum hatte er das getan? Er wollte der RAF eine versuchte Gefangenenbefreiung in die Schuhe schieben.

Das ist leider kein Märchen, sondern tatsächlich geschehen, am 25. Juli 1978. Die niedersächsische Landesregierung war informiert, die GSG9 auch. Es war einmal, zu Zeiten der Strategie der Spannung. Gemessen an dem, was damals in Italien geschah und dort auch gerichtlich aufgearbeitet wurde, war es eine Kleinigkeit. In Deutschland gibt es nur den begründeten Verdacht, dass der Generalstaatsanwalt der Bundesrepublik Deutschland Siegfried Buback am 7. April 1977 mit Wissen oder Beteiligung von Geheimdiensten ermordet wurde und dass das Oktoberfestattentat am 26. September 1980 einen Geheimdienstbezug, diesmal zum Bundesnachrichtendienst, hatte. Sichere Beweise dafür existieren nicht. Der erste Verdacht wird allerdings von Bubacks Sohn Michael vertreten, den ich, wenn auch nur flüchtig, persönlich als vernünftigen Mann und keinesfalls als Verschwörungstheoretiker kenne. Das Oktoberfestattentat fand in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof Bologna am 2. August 1980 statt, bei dem der italienische Geheimdienst SISMI und die Geheimloge Propaganda Due, der auch Silvio Berlusconi angehörte, die Ermittlungsarbeiten durch das Anlegen falscher Spuren behinderten. Bleierne Zeit, in der Tat.

Keine Angst, ich komme noch zum Punkt. Es dauert nur etwas.

Gestern gab die Justizministerin von Niedersachsen, Antje Niewisch-Lennartz, bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Göttingen gegen den Generalstaatsanwalt von Celle, Frank Lüttig, wegen des strafrechtlichen Anfangsverdachts der Weitergabe von Geheiminformationen an Dritte ermittelt. Sieben Fälle betreffen das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff. In diesem Fall ist die Staatsanwaltschaft später im Hauptverfahren gescheitert. Gleichwohl hat Wulff sein Amt verloren, nicht zuletzt wegen der Durchstechereien, für die mutmaßlich der Generalstaatsanwalt von Celle verantwortlich ist. Dafür, dass wahrscheinlich ein Generalstaatsanwalt durch ungesetzliches Handeln zum Sturz des Staatsoberhaupts beigetragen hat, war die Reaktion der deutschen Medien seltsam verhalten.

Ermittelt wird im Fall Lüttig noch gegen eine zweite Person, deren Name aus aus ermittlungstaktischen Gründen nicht bekannt gegeben wird. Das würde ich auch so halten. Vielleicht machen ja aus diesem Anlass noch eine dritte, vierte, oder fünfte Person Fehler. Wulff jedenfalls hatte sich als Ministerpräsident von Niedersachsen in der Landes-CDU Feinde gemacht, unter anderem den Justizminister, der damals Lüttig zum Generalstaatsanwalt ernannte und der jetzt, nachdem die CDU die Macht in Niedersachsen verloren hat, Landtagspräsident ist.

Noch delikater ist allerdings der achte Fall potentieller Indiskretion von Lüttig. Hier geht es um Sebastian Edathy, dem der heutige Zürcher Tagesanzeiger einen Aufmacher gewidmet hat, mit dem er sogar auf den Zeitungsverteilkästen warb: Die verlorene Ehre des Sebastian Edathy. Glaubt man dem Tagesanzeiger, könnte das am Montag vor dem Landgericht Verden beginnende Verfahren zu einem Déjà-vu des Wulff-Verfahrens geraten. Das Landgericht habe schon vorab mitgeteilt, es sehe «kein besonderes Ausmass von Rechtsverletzungen». Falls Edathy überhaupt verurteilt werde, sei es daher möglich, dass er mit einer Geldstrafe davonkomme. Ich selbst möchte anfügen, dass es kein Zufall sein muss, dass die Vorwürfe gegen Lüttig so kurz vor dem Verfahren gegen Edathy bekannt gemacht wurden.

Wie immer das Verfahren ausgehen wird: auch Sebastian Edathy hat seine politische Zukunft verloren und dürfte es schwer haben, irgendwo noch einen Fuß auf die Erde zu bringen. Dass Edathy eine pädophile Neigung hat, ist unbestritten. Für diese Neigung als solche ist er jedoch nicht verantwortlich und sie hätte seine Privatsache bleiben müssen, sofern er nicht gegen Gesetze verstossen hat. Ob das nachweislich der Fall war, wird das Gericht klären müssen. Was diesbezüglich in den Medien lanciert wurde, sollte man vorerst als unsichere Information betrachten, nachdem bekannt ist, dass es möglicherweise aus der gleichen Quelle kommt, aus der Informationen im Fall Wulff kamen, die später nicht bewiesen werden konnten.

Auch Edathy hatte sich politische Feinde gemacht und zwar vor allem im Rahmen seiner Arbeit als Vorsitzender des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestags zur Terrorgruppe NSU. Einer dieser Feinde war der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich. Um die Vernehmung des V-Mann-Führers „Corelli“ des Verfassungsschutzes wenigstens in nichtöffentlicher Sitzung zu erreichen, die Friedrichs Ministerium verweigerte, musste Edathy mit dem Gang vor das Bundesverfassungsgericht drohen. Hans-Peter Friedrich hat Ende 2013 durch eigene gesetzwidrige Indiskretionen dazu beigetragen, dass Edathy bei der Regierungsbildung der Großen Koalition übergangen wurde. Er ging dadurch später selbst seiner Position in der neuen Regierung verlustig.

Inzwischen wissen wir, dass der Verfassungsschutz die NSU-Ermittlungen sabotiert hat. Ob und wie weit der Verfassungsschutz selbst in die NSU-Mordserie verwickelt war, wissen wir nicht. Wir werden es wohl auch nie erfahren, nicht zuletzt deshalb, weil der Verfassungsschutz selbst nach dem Auffliegen der NSU nachweislich große Aktenbestände vernichtet hat. Sicher sein können wir uns allerdings, dass auch der Verfassungsschutz Edathy als Feind angesehen haben muss und zwar als einen gefährlichen Feind, der in der Großen Koalition nicht in ein wichtiges Amt auf dem Gebiet der inneren Sicherheit gelangen durfte, für das er sich mit seiner anerkannt guten Arbeit als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses qualifiziert hatte. Als sehr wahrscheinlich vermuten dürfen wir, dass der Verfassungsschutz von Edathys sexuellen Neigungen wusste.

An diesem Punkt stellen sich viele unangenehme Fragen, die über die Frage der juristischen Schuld von Generalstaatsanwalt Lüttig weit hinausgehen. Freie und verantwortungsbewusste Medien würden darauf dringen, die gesamten Ermittlungen im Fall Edathy einer genauen Überprüfung zu unterziehen. Wer hat wann wem was mitgeteilt? Was gelang davon an die Öffentlichkeit und auf wessen Anweisung? Haben Politiker oder der Verfassungsschutz sich in irgendeiner Weise eingemischt?

Ich denke nicht, dass wir auf diese Fragen je Antworten bekommen werden. Im besten Fall wird Lüttig, der im Fall Edathy auf der Zeugenliste des Langerichts Verden steht, oder jemand Anderes später in einem Verfahren vor Gericht schuldig gesprochen. Die Strafe wird angesichts des angerichteten Schadens vermutlich lächerlich ausfallen; im englischsprachigen Raum würde man dann von „wrist slapping“ reden.

Mir wäre lieb, wenn ich mit diesen Vorhersagen Unrecht hätte. Indes wird das völlige Unverständnis von Politik und Justiz für die Schwere des Falles schon daran deutlich, dass noch geprüft wird, ob Lüttig während der Ermittlungen in seinem Amt bleiben kann. Es gäbe „dienstrechtliche Fragen“, wird verlautet. Kaum etwas dürfte allerdings eine Beurlaubung behindern und dass hier Vertuschungsgefahr besteht, kann ja wohl kaum bezweifelt werden.

Dass es nun überhaupt zu Ermittlungen gegen Generalstaatsanwalt Lüttig gekommen ist, zeigt, dass bestimmte Institutionen noch funktionieren und dass die Parteien der Bundesrepublik Deutschland zumindest keinen so fest gefügten Klüngel bilden, dass Straftaten im Amt immer folgenlos blieben. Dass allerdings einer der drei Generalstaatsanwälte des Landes Niedersachsen, also einer der etwa 100 ranghöchsten Staatsanwälte der Bundesrepublik Deutschland glaubhaft und offiziell mit solchen Vorwürfen konfrontiert wird, ist ein politischer Skandal ersten Ranges. Dass wir Hintermänner in der Politik und möglicherweise im Verfassungsschutz vermuten müssen, zeigt, dass Gefahr für die offene Gesellschaft besteht. Eine gründliche Untersuchung aller Fälle, in denen gegen Geheimdienste der Bundesrepublik Deutschland ein Anfangsverdacht der Beteiligung an oder der Deckung von Straftaten besteht, erscheint dringend geboten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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