Die unerwachsene Gesellschaft

New York Die Kinder können nicht verlieren.

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Mensch-ärger-Dich-nicht

Jedes deutsche Kind meiner Generation, ob in Ost oder West aufgewachsen, hat wohl mindestens einmal Mensch-ärger-Dich-nicht gespielt. Das Spiel, in dem man noch ganz kurz vor dem Schluss den Gegner plötzlich hinauswerfen kann, soll Kindern beibringen, wie man mit Würde verliert. Spielt man es mit Kindern, die das noch nicht können, macht man folgende Beobachtungen. "Hillary will mogeln." "Nein, Donald hat gemogelt und wenn nicht er, dann Comey für ihn." Oder "Das Spiel ist blöd" (Nicht mein Präsident). Oder man erlebt einen Wutanfall (US-Fahnen und Donald-Trump-Vogelscheuchen werden verbrannt). Das kann so weit gehen, dass der kleine Verlierer mit Fäusten auf den kleinen Gewinner losgeht. Stillere Kinder brechen in Tränen aus: Professor, ich kann heute keine Prüfung ablegen, ich leide unter Nach-Wahl-Depression.

All diese Kinder soll man beruhigen. Man soll ihnen erklären, dass soeben nicht die Welt untergegangen ist. Man kann dabei eine gewisse Dosis Empathie oder eine gewisse Dosis Spott verwenden. Je nach Charakter des Kindes und der Stärke seiner Reaktion ist das eine oder das andere angebrachter. Nur eines darf man nicht: Das Kind in seiner infantilen Reaktion bestärken.

Mit Scotty spiele ich nicht mehr

Der hochintelligente und ziemlich erfolgreiche Schöpfer der Dilbert-Comics, Scott Adams, hat vor geraumer Zeit einen Wahlsieg Trumps vorhergesagt. Was überraschender ist, er hat auch seine Unterstützung von Hillary Clinton abgezogen und Donald Trump zugewandt. Ich stimme mit Scott Adams Meinung in dieser Frage nicht überein. Selbst wenn Trump seine extremen Aussagen nur gemacht hat, um Aufmerksamkeit auf tatsächlich vorhandene Probleme zu lenken und um sich freie Hand zu verschaffen, so hat diese Strategie eine Gesellschaft destabilisiert, die ohnehin schon Zerfallserscheinungen aufwies. Und die Vermischung von Adams persönlichem Grundsteuerproblem mit einer derart wichtigen politischen Frage finde ich unwürdig.

Wie dem aber auch sei, Scott Adams Argumente sind interessant und bedenkenswert. Mit seiner Kernthese, Trump sei ein meisterhafter Überzeuger (master persuader) und werde deshalb die Wahl gewinnen, hatte Adams ja in gewisser Weise Recht. Trump hat diejenigen, die ohnehin seiner Meinung zuneigten, zum großen Teil überzeugt, zur Wahl zu gehen. Hillary Clinton ist das nicht gelungen.

Scott Adams war vor seinem Schwenk ein beliebter Redner, auch wenn die Honorare deutlich geringer waren als bei Hillary Clinton. Nachdem er begonnen hatte, Trump zu unterstützen, hörten die Anfragen für Reden von Adams auf. Komplett. Zeitungen, die seine Comic strips abdrucken, erhielten massenweise Forderungen, dass der Abdruck eingestellt werden müsse. Adams musste die Kommentarfunktion seiner Homepage abstellen.

Es handelt sich bei den neuen Adams-Hassern mutmaßlich um erwachsene Leute, zumindest dem Lebensalter nach. Sie können nicht aushalten, dass es eine andere Meinung gibt als die ihre. Es interessiert sie gar nicht, wie jemand, der offensichtlich ein paar Dinge kann und im Leben Erfolg hatte, zu dieser Meinung gekommen sein könnte. Das Andere ist das absolut Böse und muss weg, weg, weg. Ironischerweise glauben die gleichen Leute, sie würden Diversität und Minderheitenrechte verteidigen. Kleiner Tipp: Unter Intellektuellen gehört Scott Adams zu einer kleinen Minderheit.

Das Problem beschränkt sich weder auf Scott Adams noch auf die Präsidentschaftswahl 2016 in den USA. An US-amerikanischen und britischen Universitäten kommt es immer wieder dazu, dass Vorträge abgesagt werden müssen, weil der Vortragende durch sein Thema oder seine bekannte Grundhaltung die Sensibilitäten irgendwelcher Studentengruppen verletzt. Meiner Meinung nach haben Studenten, die solche Redeverbote fordern, an einer Universität nichts zu suchen. Das gilt ganz besonders für geistes- oder sozialwissenschaftlichen Fächern, die völlig steril sind, wenn vorgefasste Meinungen nicht mehr in Frage gestellt werden. Jungen Leuten, die sich nur in der Fruchtblase gleicher Meinungen sicher fühlen, fehlt die geistige Reife für ein Studium.

Demokratie im Kindergarten?

Nun ginge es noch an, wenn es nur ums Studieren ginge. Einen gewissen Anteil solcher Studierenden könnte eine Universität aushalten. Das Problem ist hier nur, dass die Kindergärtner tun, was die Kinder wollen, also die Vorträge in einigen Fällen tatsächlich abgesagt wurden.

Das Problem aber geht über die Universitäten hinaus. Hillary Clinton nennt ihre Niederlage "herzzerreißend". Nein, das war kein Superwoman-Film, der infolge eines Betriebsunfalls in Hollywood ausnahmsweise schlecht ausgegangen ist. Es war eine demokratische Wahl wie andere auch, nur mit Kampagnen, die von beiden Seiten besonders negativ geführt wurden. Für Hillary Clinton und ihre Anhänger war es eine politische Niederlage, wie politische Niederlagen eben vorkommen.

Gewiss, für diese Kandidatin wird es kein nächstes Mensch-ärger-Dich-nicht-Spiel mehr geben. Wenn sie aber als Präsidentin tatsächlich so viel Erfahrung und Kompetenz eingebracht hätte, wie gern behauptet wird und wie sie selbst offensichtlich denkt, dann sollte die Demokratische Partei sie wohl auch weiterhin in beratender Funktion brauchen. Das ist die übliche Position des "elder states(wo)man" und Hillary Clinton ist durchaus im angemessenen Alter für diese Rolle.

Man darf annehmen, dass sie selbst intelligent und erwachsen genug ist, um das zu wissen. Das "herzzerreißend" war als Trost für ihre infantilen Anhänger gedacht und genau darin ist es falsch. Denn diese sollen jetzt nicht trauern. Sie sollen auf andere Weise weiter für das eintreten, woran sie glauben und zwar auf eine Weise, die mit einem demokratischen System kompatibel ist.

Die Welt ist wirklich noch nicht untergegangen. Die USA sind ein föderales System, in dem wichtige Staaten von den Demokraten beherrscht werden. Es gibt Gesetze, die Diskriminierung verbieten und es gibt eine Verfassung. Es sollten sich ein paar mehr Demokraten hinstellen und das ihren Wählern sagen. Nachdem sie allerdings einen Wahlkampf lang einen möglichen Sieg Trumps als Weltuntergang beschrieben hatten, trauen sie sich jetzt nicht mehr, ihren Kindern die Wahrheit zu sagen.

Demokratie funktioniert nicht, wenn die Wähler sich wie verwöhnte Kinder verhalten und als solche behandelt werden. Vati und Mutti, in Deutschland Mutti, wollen von ihren Kindern geliebt sein und trauen sich nicht, ihnen die Wahrheit zuzumuten.

Einerseits glauben die heutigen Politiker ja tatsächlich, ihre Wählerschaft bestünde weitgehend aus unmündigen Kindern, die die Welt nicht verstünden. Andererseits aber trauen sich dieselben Politiker weder, klare Ansagen zu machen und diese konsequent durchzuhalten, noch versuchen sie aufrichtig zu erklären, warum eine bestimmte Politik ihrer Ansicht nach die richtige ist. Es ist ein eigentümliches Gemisch aus Hochmut und Unterwürfigkeit den Kindern gegenüber, welches die Kinder intuitiv als Schwäche wahrnehmen. Darin haben sie auch Recht. Und von jemandem, der schwach ist und selbst nicht weiter weiß, will sich ein Kind nichts sagen lassen.

Wie soll das enden?

Der Trend unserer westlichen Gesellschaft hin zu noch mehr Infantilität wird in den nächsten Jahren anhalten. Schon das Wirtschaftssystem erfordert, dass die Kinder von Jahr zu Jahr mehr verwöhnt werden. Letzten Endes sind es unser Wohlstand und unser hoher gesellschaftlicher Organisationsgrad, die es uns erlauben, mit kindlicher Ignoranz durch das Leben zu gehen. Diese beiden Dinge möchten wir nicht aufgeben.

Allerdings funktioniert ein Kindergarten nicht, wenn auch noch die Erzieher infantil sind oder sich zumindest so verhalten, um sich einzuschmeicheln. Das Brexit-Referendum und die US-Präsidentschaftswahl 2016 zeigen, dass ein Teil der Gören plärrt, weil sie ihrem Gefühl nach nicht genug von den Süßigkeiten abbekommen und der andere Teil plärrt, weil der erste Teil so böse Dinge sagt und von den Süßigkeiten nichts abgeben will. Es gibt schlichtweg keine Politik, die beide Teile zufriedenstellen könnte. Zudem scheinen die beiden Teile in mehreren Ländern (Großbritannien, USA, Österreich) etwa gleich groß zu sein. Das verunmöglicht eine stabile demokratische Lösung, die einen der beiden Teile auf Kosten des anderen zufriedenstellt.

Diese Spaltung der Gesellschaft wird zu ihrem Zerbrechen führen, wenn sie nicht überwunden werden kann. Im Wesentlichen gibt es dafür zwei Möglichkeiten, eine autoritäre und eine liberale. Die autoritäre Lösung stützt sich auf den "bösen" oder "dunklen" Teil der Gesellschaft. Sie stellt die Beliebigkeit ab und Zucht und Ordnung wieder her. Vielleicht werden in Deutschland Wehrpflicht und Arbeitsdienst eingeführt, um aus den verzogenen Kindern Erwachsene zu machen. Das ist in etwa das Programm der "Neuen Rechten" und auch Gaulands, also der AfD. Formell könnte die demokratische Verfassung weiter bestehen, falls solche Kräfte eine hinreichend große und stabile Mehrheit finden. Demokratie funktioniert auch ohne kulturelle Liberalität, wie das viktorianische Zeitalter gezeigt hat.

Eine liberale Lösung würde erfordern, dass man die beiden Lager in irgendeiner Weise versöhnt. Dazu müsste man den Verlierern der schönen neuen Welt so weit entgegenkommen, dass sie das bestehende System akzeptieren können. Als Erstes müsste die Beschimpfung der Unzufriedenen ein Ende haben. Wir alle haben gesehen, wozu die Verachtung führte, welche die Kiewer Intelligentsia den einfachen Leute im Donbass über Jahre entgegengebracht hat, als diese Intelligentsia ihr Heil dann auch noch in einem Putsch suchte und nach dem Putsch jeden Dialog verweigerte. Das Problem zwischen New York und großen Teilen Kaliforniens auf der einen Seite und dem US-amerikanischen "rust belt" und den "hill Billies" auf der anderen Seite ist das Gleiche. Die dort wie auch in Deutschland betriebene Stigmatisierung der "einfachen Leute" als kulturell zurückgeblieben und "dunkel" hat bisher noch immer den Anti-Liberalen in die Hände gespielt. Wenn wir nicht auch in Deutschland ein solches Scheitern erleben und in der autoritären Form enden wollen, muss die liberale Seite ihre Strategie ändern.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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