Die virtuelle Epidemie und ihre Toten

Covid-19 Die Zahl der Covid-19 zugerechneten Todesfälle wird steigen – auch dann, wenn niemand mehr an einer Neuinfektion stirbt.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Dieser Beitrag ist auch als PDF-Datei mit integrierten Abbildungen auf Dropbox verfügbar.

In einem bemerkenswerten Beitrag auf Telepolis hat Christof Kuhbandner argumentiert, dass es infolge der drastisch gesunkenen Sterberate unter den SARS-Cov2-Infektionen nicht länger gerechtfertigt ist, die Maßnahmen aufrechtzuerhalten, die eine Verbreitung des Virus in der Gesamtbevölkerung verhindern sollen. Dabei hat er auch die Argumentation des Robert-Koch-Instituts widerlegt, das Sinken der Sterberate sei allein oder hauptsächlich auf einen geringeren Anteil älterer Menschen unter den Infizierten zurückzuführen. Ich muss hier seine sorgfältig durchgeführte und mit Daten unterlegte Analyse nicht wiederholen. Prof. Dr. Christof Kuhbandner ist an der Universität Regensburg Inhaber eines Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie und der Gedanke liegt nicht fern, dass seine Argumentation gegen die Aufrechterhaltung der Maßnahmen professionell motiviert ist – er weiß um den Schaden, den sie bei Kindern anrichten.

Ich selbst hatte vor zwei Wochen argumentiert, dass die PCR-Tests auf SARS-Cov2, so wie sie derzeit in Westeuropa durchgeführt werden, keine tragfähigen Aussagen über den Epidemieverlauf zulassen und das unter anderem auch mit den völlig verschiedenen Kurvenverläufen bei positiven Tests und Covid-19 zugeordneten Todesfällen begründet. Die Verteidiger von Zwangsmaßnahmen beginnen daher selbst wieder, mit Todesfällen zu argumentieren, wie ich vor einer Woche anhand des Schweizer Kantons Waadt gezeigt habe. Auffällig war dort, dass alle seit dem 17. August gemeldeten Todesfälle in Alters- und Pflegeheimen aufgetreten waren, die eigentlich mittlerweile gute Schutzkonzepte gegen Neuinfektionen haben sollten und dass die NZZ in ihrer Berichterstattung zu den neuen Maßnahmen im Kanton Waadt explizit darauf verwiesen hatte, dass die „Waadtländer Alters- und Pflegeheime... im Frühling besonders stark betroffen waren“ (Hervorhebung von mir). Das legt den Gedanken nahe, dass Personen, die im Frühjahr eine Covid-19-Infektion überstanden haben, aufgrund des positiven Tests aus der damaligen Zeit bei ihrem Ableben im August oder September als aktuelle Covid-19-Todesfälle gezählt wurden.

Wie lange impliziert ein positiver SARS-Cov2-Test einen Covid-19-Stebefall?

In seinem Telepolis-Beitrag hat Christof Kuhbandner auf die ominöse Art der Zuweisung von Todesfällen zu Covid-19 verwiesen, die auf der Homepage des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit beschrieben ist: „Als Todesfälle werden Personen gezählt, die mit und an SARS-CoV-2 verstorben sind, sowie Personen, bei denen die Ursache unbekannt ist. Mit SARS-CoV-2 verstorben bedeutet, dass die Person aufgrund anderer Ursachen verstorben ist, aber auch ein positiver Befund auf SARS-CoV-2 vorlag.“ (Hervorhebung vom Bayerischen Landesamt). Das Bayerische Landesamt führt weiter aus, dass in 99% der Fälle Informationen zur Todesursache vorliegen, woraus folgt, dass die Fehlzuweisungen in vollem Bewusstsein und absichtlich erfolgen: „Informationen zur Todesursache bei gemeldeten SARS-CoV-2-Fällen liegen bei etwa 99 % der Fälle vor, von denen wiederum etwa 89 % an COVID-19 und 11 % an einer anderen Ursache verstorben sind.“ Ob der Anteil der Fehlzuweisungen zeitlich konstant ist, bleibt dabei dahingestellt.

Annehmen würde man aus statistischen Gründen, dass dieser Anteil ansteigt, zumindest dann, wenn die Zuweisung aufgrund positiver Tests erfolgt, die beliebig weit zurückliegen. Das war zumindest in England bis in den August hinein der Fall, wie aus einem Artikel des British Medical Journal vom 13. August hervorgeht. Die Praxis war übrigens bis etwa Mitte August in England verschieden von derjenigen in Schottland, Wales und Nordirland, wo nur bis zu 28 Tage zurückliegende positive SARS-Cov2-Tests zur Zuweisung des Sterbefalls zu Covid-19 führten.

Die Situation in Deutschland ist unklar und kann auch anhand der Homepage des Bayerischen Landesamts nicht geklärt werden. Dort ist zwar erläutert, dass wegen Covid-19 hospitalisierte Personen und solche, bei denen unbekannt ist, ob sie hospitalisiert wurden, nach 28 Tagen (oder 7 Tage nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus) als genesen erklärt werden. Berücksichtigt man aber alle anderen Inkonsistenzen in der Covid-19-Datenerfassung und den Unwillen der Gesundheitsbehörden, diese abzustellen, so kann man daraus nicht schließen, dass als genesen erklärte Personen nicht nachträglich doch noch als Covid-19-Sterbefälle erfasst werden. Anfragen werden fast schon grundsätzlich nicht beantwortet, recht oft mit dem Hinweis, dass man zu beschäftigt mit den Tagesaufgaben sei, um Auskunft über die Datengrundlage zu geben.

Diese Erfahrung habe ich auch in der Schweiz gemacht, wo mir Verantwortliche der Swiss National COVID-19 Task Force auch kurze und einfache Fragen nur ausweichend und auf Nachhaken gar nicht mehr beantworteten. Für die Schweiz gibt es jedoch eine Möglichkeit, anhand offizieller Daten des Bundesamts für Gesundheit (BAG) die Frage zu klären, ob positive SARS-Cov2-Tests auch nach mehr als 28 Tagen noch eine Zuweisung eines Todesfalls an Covid-19 implizieren.

Das Verfahren geht von einer Liste aller positiven Tests und Covid-19 zugerechneten Todesfälle aus, die beim BAG im Excel-Format heruntergeladen werden kann. Für alle Test und Todesfälle sind der Kanton, die Altersgruppe (in Zehnjahresabständen) und das Geschlecht zugewiesen, sowie die jeweiligen Daten. Man kann nun für alle Todesfälle anfangend vom gleichen Tag in der Zeit zurückgehen, bis man einen passenden positiven Test findet. In der Regel wird das nicht der Tests dieser Person sein, weil es zu wenige protokollierte Merkmale gibt und man, in der Zeit zurückgehend, zu früh einen passenden positiven Test findet. Schweizer Kantone sind aber teilweise recht klein und einige von ihnen waren nur schwach betroffen, so dass es vergleichsweise wenige positive Tests gibt. Tatsächlich findet sich bei einem Kanton Glarus am 13. Juni verstorbenen Mann der späteste passende Test am 3. Mai (41 Tage eher) und bei einem am 17. Juli im Kanton Solothurn verstorbenen Mann der späteste passende Test am 2. Juni (45 Tage eher).

Es gibt nämlich eine mögliche Ursache für eine Fehlinterpretation. Die Personen könnten zwischen Infektionsdatum und Todesdatum einen runden Geburtstag gehabt haben und damit in die nächste Altersgruppe gewechselt sein. Auch diese Möglichkeit habe ich anhand der Daten überprüft. Im Fall des Mannes aus dem Kanton Solothurn wäre das eine mögliche Erklärung, im Fall des Mannes aus dem Kanton Glarus findet sich der späteste passende Test der vorherigen Altersgruppe allerdings am 12. April (62 Tage eher). Sofern es sich also hier nicht um eine regelrechte Fehlzuweisung handelt, darf man schließen, dass in der Schweiz auch weit zurückliegende positive Tests eine Zuweisung eines Todesfalls zu Covid-19 begründen. Falls das BAG oder die Swiss National COVID-19 Task Force (die ich über diesen Beitrag informieren werde), eine zeitlich begrenzte Definition haben, mögen sie diese doch bitte öffentlich darlegen, am besten auf der Seite des BAG, auf der sich (unter Kontakt) die folgende bemerkenswerte vertrauensschaffende Bemerkung findet „Anfragen im Zusammenhang mit Covid-19 beantworten wir nicht schriftlich. Informieren Sie sich auf unseren Seiten. Wir aktualisieren sie laufend.“. Das kann man natürlich tun. Nur muss man dann die Informationen, zum Beispiel zur genauen Grundlage der Daten, auch bereitstellen.

Zuweisung natürlicher Sterbefälle zu Covid-19

Dass ein positiver SARS-Cov2-Test bei einer Person zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt den Tod dieser Person Covid-19 zuweist, ist offensichtlich absurd. Für Deutschland liegen bisher etwa 280‘000 positive Tests vor. Nach dieser Definition werden all diese Personen im Zusammenhang mit Covid-19 sterben, die meisten davon Jahrzehnte nach der Infektion. Die Frage ist allerdings, ob eine solche unsinnige Definition bereits jetzt die Statistik beeinflusst. Als ich, noch im Frühjahr, zum ersten Mal las, dass es in England so gehandhabt wird, hatte ich das überprüft und den Effekt als vernachlässigbar eingestuft.

Inzwischen ist das, aufgrund der immer weiter ansteigenden Zahl positiver Tests und der stark gesunkenen Zahl von Sterbefällen, zumindest in Deutschland nicht mehr so, wie Abbildung 1 zeigt. In Deutschland sterben jährlich 1,15% der Bevölkerung. Teilt man diese Zahl durch 365 und multipliziert dann mit der Zahl der bisher vorliegenden positiven Tests, so findet man eine Abschätzung für die Zahl natürlicher Todesfälle, die täglich fälschlich Covid-19 zugewiesen werden. In Deutschland sind das derzeit fast 9 (durchschnittlich 8,82). Selbst wenn man nur 28 Tage zurückgeht, ist es immer noch mehr als ein falsch zugewiesener Fall pro Tag (1,3) – Tendenz steigend.

Die genaue Betrachtung von Abbildung 1 zeigt, dass die Korrektur in Bezug auf alle positiven SARS-Cov2-Tests seit Beginn der Epidemie (blassgrüne Punkte und grüne Linie für das gleitende Wochenmittel) Werte in einem gewissen Zeitraum leicht negative Werte ergibt. Daraus folgt nicht unbedingt, dass es in Deutschland eine zeitliche Grenze für die Zuweisung von Todesfällen zu positiven Tests gibt. Möglich ist auch, dass die Verteilung der positiven Tests über die Gesamtbevölkerung nicht gleichmäßig ist, sondern dass Personen mit geringerem Sterberisiko im Durchschnitt mit höherer Wahrscheinlichkeit positiv getestet wurden. Wie dem auch sei – der Effekt der Korrektur ist selbst dann bereits sichtbar, wenn nur ein positiver Test in der letzten 28 Tagen vor dem Sterbefall zu einer Zuweisung zu Covid-19 geführt hat (blassblaue Punkte und blaue Linie für das gleitende Wochenmittel). Sichtbar ist auch bereits ohne weitere mathematische Auswertung, dass der Effekt der Korrektur in den letzten Wochen zunimmt – was einfach ein Resultat der stark steigenden Zahl der Gesamtzahl positiver SARS-Cov2-Tests ist. Daraus folgt, dass die Zahl Covid-19 zugewiesener Todesfälle in den nächsten Wochen steigen wird – selbst dann, wenn es keinen einzigen Todesfall durch eine Covid-19-Neuinfektion mehr geben sollte.

Wie man die Daten erfassen und veröffentlichen müsste

Die Art und Weise, wie die Daten erfasst und veröffentlich werden, hat sogar unabhängig von Fehlzuweisungen einen verzerrenden Effekt. Intuitiv interpretieren Laien – und auch Politiker sind in diesem Sinne Laien – die heute gemeldeten Todesfälle als einen Indikator für die heutige epidemische Situation. Selbst etwas stärker beschlagene Leute nehmen an, dass sie ein Indikator für die epidemische Situation vor zwei bis maximal drei Wochen sind. Das ist aber bestenfalls so, wenn es die 28-Tage-Grenze gibt und auch dann werden Anstiege und Abfälle von Epidemiewellen noch verzerrt.

Es ist völlig klar, wie man die Daten erfassen und darstellen muss. Zu jedem Fall muss man die Daten aller positiven Tests und das Sterbedatum erfassen. Wenn man anhand der Sterbefälle die Epidemiekurve für den zeitlichen Verlauf der ernsten Epidemie erkennen will, so muss man die Sterbefälle dem Tag des ersten positiven Tests zuweisen. Selbst dieser Tag liegt etwas zu spät, denn der eigentlich bedeutsame Tag ist derjenige der Infektion. Indem man die Daten nicht so erfasst und darstellt, verzerrt man die Risikoeinschätzung und riskiert Fehlsteuerungen. Jedem Verantwortlichen muss das auch klar sein. Wer die nötige Kompetenz für eine solche Position hat, wird das mit wenigen Minuten Nachdenken selbst erkennen. Es dann dennoch nicht zu tun und der verzerrten Darstellung Vorschub zu leisten, ist wissenschaftliches Fehlverhalten.

Die Formulierungen auf der Homepage des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit legen sehr nahe, dass die notwendigen Daten tatsächlich erfasst werden und vor der Veröffentlichung oder Eintragung in Datenbanken vorliegen. Daraus würde dann folgen, dass die Gesundheitsbehörden die Öffentlichkeit – und womöglich auch die Politiker – bewusst irreführen.

Man kann das vielleicht schon nicht mehr korrigieren, ohne völlig das Gesicht zu verlieren. Man könnte aber wenigstens aufhören, weiter Unsinn zu veröffentlichen und auf der Basis dieses Unsinns der Politik und der Öffentlichkeit Handlungsempfehlungen zu geben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden