Die Welle 2

Covid-19 Seit einem Monat steigt in den USA die Zahl der positiven Tests – während diejenige der Todesfälle sinkt.

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Die PDF-Datei dieses Blog-Beitrags mit integrierten Abbildungen (Version vom 12. Juli 2020) ist auf Dropbox zu finden. There is also an English PDF version with integrated figures, also as of July 12th and also at Dropbox.

Die Matlab-Routinen und Daten, um die Abbildungen zu reproduzieren, finden sich auf github.com/gjeschke/SARS-Cov2.

Matlab routines and data for reproducing the figures are available at github.com/gjeschke/SARS-Cov2.

Die Aussicht einer zweiten Welle im Herbst würde nicht genügen, um das Thema Covid-19 in den Medien zu halten, an dass sich inzwischen so viele so schön gewöhnt haben. Vor allem aber würde sie nicht genügen, das Fortbestehen von Restriktionen zu rechtfertigen, ehe eine solche Welle eintritt. Besser ist es da schon, wenn es ein mediales Grundrauschen gibt und dazu muss es immer wieder Corona-Nachrichten geben, auch möglichst dramatische. Die USA sind immer ein dankbares Thema – schon, weil man dort viele Korrespondenten beschäftigt. So macht es sich gut, dass dort gerade die höchsten täglichen Zahlen bestätigter Neuinfektionen auftreten, die es je gegeben hat. Man stellt sich eine dramatische Lage vor. Tatsächlich ist die Dramatik der Lage sehr weit von derjenigen in New York am Anfang der Epidemie entfernt.

Kanada als Referenzland

Bevor wir die erstaunlichen Daten der USA anschauen, möchte ich die Methodik an einem Datensatz erläutern, der den Erwartungen entspricht. Dafür eignet sich am besten ein Nachbarland und unter diesen Kanada besser als Mexiko. Die Originaldaten sind im linken oberen Diagramm von Abbildung 1 gezeigt. Wie in einem früheren Beitrag erläutert, ist die Kurve der Sterbefälle (schwarze Punkte und graues gleitendes Wochenmittel) gegenüber derjenigen der positiven SARS-Cov2-Tests (rote Punkte, blassrotes Wochenmittel) etwas verzögert. Ebenfalls damals habe ich erklärt, dass man das durch Faltung der Testzahldaten mit einer Gausskurve kompensieren kann. Im Falle Kanadas treten die Sterbefälle im Mittel um 12,9 Tage später ein und haben eine Standardabweichung von 1,7 Tagen in Bezug auf diesen Mittelwert. Diese Werte habe ich durch Minimierung der Fehlerquadratsumme bis zum 9. Mai (grüne gepunktete Linie) ermittelt. An diesem Tag war der Höhepunkt der Todesfälle laut gleitendem Wochenmittel überschritten.

Die Übereinstimmung der Anstiege ist danach sehr gut, wie im rechten oberen Diagramm in Abbildung 1 zu sehen ist. Ich habe nun an beide Kurven mein einfaches Modell für den Zeitverlauf angepasst, das den Anstieg durch eine logistische (sigmoidale) Funktion modelliert und den Abfall durch eine Exponentialfunktion mit negativem Exponenten. Die Anpassung habe ich aus zwei Gründen nur bis zum 31. Mai durchgeführt. Der erste Grund ist, dass ich die Güte des Modells mittels Extrapolation bis zum 10. Juli (gestern) prüfen wollte und dafür einen ausreichend langen Extrapolationsbereich brauchte. Der zweite Grund ergibt sich, wenn wir unten die Daten der USA betrachten.

Der Verlauf der Todesfallkurve folgt der Extrapolation recht gut, war also bereits am 31. Mai bis zum gestrigen Tag durch dieses Modell gut vorhersagbar. Anders ist es bei der Zahl der positiven SARS-Cov2-Tests. Diese weicht nach oben ab, zunächst stark, später etwas weniger. Die Folge dessen ist im linken unteren Diagramm in Abbildung 1 zu sehen. Während auch die kumulative Zahl der Todesfälle mit einer maximalen temporären Abweichung von reichlich 200 nach oben um die Vorhersage pendelt und sich dieser gegen Ende wieder nähert, liegt die Zahl der positiven Tests bis gestern um etwa 8‘000 höher als das Modell vorhergesagt hätte. Die Tendenz ist noch steigend.

Schließlich können wir noch, ohne das logistisch-exponentielle Modell zu verwenden, den Verlauf der Letalität in Bezug auf die Zahl der positiven Tests betrachten (rechtes unteres Diagramm in Abbildung 1). Dazu dividieren wir die Zahl der Todesfälle durch diejenige der positiven Tests und drücken das Ergebnis in Prozent aus. Bei den Todesfällen verwenden wir das gleitende Wochenmittel, weil deren Zahl stark streut. Bei den Tests verwenden wir die durch Faltung angepassten Daten, um insbesondere die Verzögerung zu berücksichtigen.

Die so ermittelte Letalität ist seit dem 1. Juni auf etwa die Hälfte gefallen. Gründe könnten verbesserte Therapien sein, aber auch ein steigender Anteil leichter Fälle unter den Getesteten. Letzteres ist wahrscheinlicher, weil der Abfall der Testzahl verlangsamt ist, nicht aber der Abfall der Sterbefallzahl beschleunigt. Insgesamt kann man jedoch sagen, dass die kanadischen Daten nicht sehr weit von der Erwartung abweichen.

Die USA – positive Tests ohne Sterbefälle

In den USA ergibt sich ein ganz anderes Bild. Wie in Abbildung 2 zu sehen ist, bringt die Faltung (hier und für alle folgenden Länder nur bis zum 25. April) auch in den USA die Anstiege gut in Übereinstimmung. Auch in den USA ließ sich bereits am 31. Mai die weitere Entwicklung der Sterbefallzahlen mit dem einfachen Modell recht gut vorhersagen. Bei der Zahl der positiven Tests sieht man aber kurz nach dem 1. Juni eine zunächst mäßige und dann bald sehr starke und zunehmende Abweichung von der Modellvorhersage (rechtes oberes Diagramm in Abbildung 2). Hier scheint eine zweite Welle zu beginnen. Nur ist diese zweite Welle in der Entwicklung der Sterbefallzahlen nicht auszumachen.

Dementsprechend weicht die Zahl der positiven Tests inzwischen um 400‘000 von der Vorhersage ab, die man am 31. Mai mit dem einfachen Modell gemacht hätte. Diejenige der Todesfälle weicht um weniger als 4‘000 (von etwa 134'000) ab (linkes unteres Diagramm in Abbildung 2). Die Letalität unter den positiven Tests ist seit dem 26. April um fast einen Faktor von sieben gesunken. Das lässt sich nur durch eine massive Ausweitung der Tests auf Personen erklären, deren Sterberisiko an Covid-19 sehr gering ist. Anderenfalls müsste man eine stärkere Abweichung der Sterbefallzahlen von der Vorhersage sehen, weil es dann eine nicht vorhergesagte zweite Welle von der Qualität der ersten Welle geben würde. Diese gibt es ganz offensichtlich nicht.

Nun kann man die Tests natürlich in dieser Weise ausweiten. Das kann in gewissem Maße sogar nützlich sein, solange man nicht in der Folge die Krankenhäuser mit Patienten überschwemmt, die kein Krankenhaus bräuchten – dann kann es sogar längerfristig zu höheren Sterberaten durch Überlastung führen. Nur kann man die Daten nicht so interpretieren, wie das in den Medien getan wird. In den USA gab es im letzten Monat kein wachsendes Problem mit Covid-19 – nur eine falsche Wahrnehmung eines solchen.

Sind die USA singulär?

Die USA sind in letzter Zeit in vielen Belangen zu einem Einzelfall geworden. Der Hegemon ist politisch schwer krank, übrigens nicht erst seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten. Aber auch ein kranker Hegemon ist ein Hegemon und viele Trends, die in den USA beginnen, sind später in anderen westlichen Ländern auch zu beobachten, samt der politischen Malaise. Es ist deshalb interessant zu untersuchen, ob die Daten anderer westlicher Länder dem Muster Kanadas folgen oder stärkere Auffälligkeiten zeigen. Ich beschränke mich auf Einzelfälle, an denen ich abweichende Muster erklären kann. Man beobachtet diese Muster aber auch in den Niederlanden, in Belgien, in Österreich und in einigen weiteren Ländern, die ich hier ebenfalls nicht diskutiere.

Ich beginne mit Frankreich, wo derzeit das Muster der ewigen Epidemie am deutlichsten sichtbar ist. Etwas wissenschaftlich verbrämt könnte man dieses Muster, das in den beiden oberen Diagrammen von Abbildung 3 seit etwa Tag 150 (29. Mai) sichtbar ist, auch als nichtletalen epidemischen Hintergrund bezeichnen. Die Zahl positiver Tests fiel nach dem 29. Mai nicht wie erwartet weiter ab, sondern stieg zunächst sogar an, was sich aber nicht wie in den USA zu einer zweiten Scheinwelle auswuchs. Stattdessen pegelte sich die Zahl der positiven Tests auf einem nahezu konstanten Niveau ein. Die Zahl der Sterbefälle fiel davon unbeeindruckt weiter exponentiell ab und zwar ziemlich genau mit der am 31. Mai vorhersagbaren Zeitkonstante.

Dementsprechend weicht auch die kumulierte Sterbefallzahl nur moderat von der Vorhersage ab, die man am 31. Mai hätte machen können, während die Zahl positiver Tests inzwischen um 15‘000 höher liegt, als man damals vorhergesagt hätte (linkes unteres Diagramm in Abbildung 3). Die Abweichung steigt sogar etwas stärker als linear an. Während der Miniwelle kurz nach dem 29. Mai fiel die Letalität um etwa einen Faktor drei ab, stieg dann ganz leicht an und scheint in den letzten drei Wochen nahezu linear abzufallen. Bezogen auf die Zahl positiver SARS-Cov2-Tests liegt sie derzeit noch bei 3%, nachdem sie bis zum 20. Mai noch zwischen 15 und 22% gelegen hatte.

Unabhängig davon, ob die Tests richtig oder falsch positiv sind – die gegenwärtigen Zahlen positiver SARS-Cov2-Tests sind ganz offensichtlich nicht mit den Zahlen vor Anfang Juni vergleichbar. Dieser Eindruck wird allerdings in den Medien erweckt.

Wir haben inzwischen die Grundmuster gesehen. Bevor ich auf Deutschland und die Schweiz zu sprechen komme, hat aber doch Schweden noch besondere Beachtung verdient. So stark die schwedischen Daten auch streuen, sie sind mit dieser Methodik auswertbar. Bezüglich des von den Testzahlen suggerierten Epidemieverlaufs zeigen sie tatsächlich noch ein neues Phänomen. Glaubt man nämlich den Testzahlen, so ist die erste Welle in Schweden bisher überhaupt noch nicht abgefallen. Betrachtet man die Zahl der Todesfälle, sieht das freilich ganz anders aus (Abbildung 4).

Wie man im linken oberen Diagramm in Abbildung 4 sieht, sinkt die Zahl der Todesfälle in Schweden seit dem 24. April. Sie sinkt nicht sehr schnell aber kontinuierlich. Sie sinkt auch exponentiell. Das gleitenden Wochenmittel bleibt nach dem 31. Mai immer nahe bei der Vorhersage des einfachen Modells. Zuletzt fällt sie etwas schneller ab, was angesichts der Streuung der Daten aber nicht signifikant ist (rechtes oberes Diagramm). Dementsprechend überschätzt die Vorhersage die kumulierte Zahl der Todesfälle ganz leicht.

Was die Zahl positiver SARS-Cov2-Tests betrifft, erkennt das Modell mit den Daten bis zum 31. Mai nur ein Plateau, keinen Abfall. Die tatsächlichen Daten weichen davon sogar nach oben ab, so dass die Zahl der positiven Tests bisher um mehr als 10‘000 über der Vorhersage liegt. Die Tendenz ist stark steigend (linkes unteres Diagramm in Abbildung 4).

Das führt dazu, dass die Letalität bezogen auf die Zahl der Tests seit dem 26. April etwa linear fällt, von damals um 20% auf etwa 1%. Lange kann sie also nicht mehr weiter linear fallen. Kann sie Null erreichen? Spoiler: Ja, das hat schon jemand geschafft.

Nach allem, was wir bereits gesehen haben, sind die deutschen Daten in Abbildung 5 eigentlich etwas langweilig, aber ich blogge nun einmal in einem deutschen Medium. Es gibt wenig Neues. Am 31. Mai ließ sich der weitere Verlauf bei den Sterbefällen bis zum heutigen Tag mit dem einfachen Modell eines exponentiellen Abfalls gut vorhersagen. Wie das Diagramm links unten in Abbildung 5 zeigt, ist es in Deutschland sogar ein Punktlandung und die Abweichung liegt seit dem 1. Juni (Tag 152) immer unter 50. Wie schon gewohnt, weicht die Testzahlkurve nach oben ab. Mittlerweile haben sich mehr als 10‘000 positive Tests mehr ergeben, als das Modell am 31. Mai vorhergesagt hätte. Das Diagramm rechts oben zeigt, dass es nur eine Variation auf das französische Muster ist. In Deutschland hat man nur fast drei Wochen länger gebraucht, um die neuen Möglichkeiten der Epidemieverlängerung zu erkennen.

Dementsprechend fiel die Letalität bezogen auf die Zahl positiver SARS-Cov2-Tests, die in Deutschland nie so hoch war, wie in vielen anderen Ländern, bis etwa zum 26. Juni nur moderat ab, eher wie in Kanada. Dann hatten die Verantwortlichen aber auch mitbekommen, wie es geht, und mittlerweile hat die Restletalität Dimensionen wie in den USA und fast wie in Schweden erreicht.

Die Schweiz am Ende, Am Ende die Schweiz (Adolf Muschg)

Als ich ein junger Doktorand war, zeigte die ETH Zürich in den Geisteswissenschaften Flagge, indem sie unabhängige Denkern – und das sind immer auch unbequeme Denker – zu Professoren machte. Adolf Muschg war einer von ihnen und während meines Doktorats aktiv. Paul Feyerabend war damals schon einige wenige Jahre emeritiert. Solche Leute sind natürlich immer ein Reputationsrisiko. Man weiß nie, was ihnen als Nächstes einfällt und sie sind nicht davon abzubringen, es dann auch laut auszusprechen. Der Brauch, derartigen Denkern eine Professur zu geben, hat sich verloren. Aber ich wollte ja eigentlich über die Schweizer SARS-Cov2-Testdaten reden. Sie sind in Abbildung 6 gezeigt.

Nun ja, was soll man sagen, auch hier ist fast alles so, wie wir es schon gesehen haben. Die Schweizer sind etwas bedächtiger. Die Abweichung der Testdaten von der Vorhersage des einfachen Modells am 31. Mai ist erst etwa ab dem 16. Juni zu beobachten. Immerhin haben sich seitdem schon reichlich 800 mehr positive Tests akkumuliert als das Modell vorhergesagt hätte (linkes unteres Diagramm in Abbildung 6). Die Abweichung bei den Todesfällen liegt bei etwa 15 – nach unten.

Der Effekt all dessen ist bemerkenswert. Der Anstieg der Testzahlen ab dem 16. Juni vollzog sich mit Schweizer Präzision und Gründlichkeit. Die Letalität bezogen auf die Zahl positiver SARS-Cov2-Tests verharrte zunächst noch nahe 2%, aber exponentielle Abfälle sind tückisch, besonders bei abzählbaren Größen. Irgendwann ist man buchstäblich am Ende. In den letzten sieben Tagen fiel die Letalität bezogen auf die Zahl positiver Tests von etwa 1,4% auf 0%, denn es gab keinen Todesfall mehr.

Das muss natürlich nicht so bleiben (mindestens bei einer morgigen Auswertung schon noch). Allerdings werden derzeit täglich um die 100 positive Tests gemeldet - das wären auf die deutsche Bevölkerungszahl umgerechnet mehr als 1000. Es erscheint unwahrscheinlich, dass die Letalität bezogen auf die Zahl positiver SARS-Cov2-Tests in der Schweiz in nächster Zeit noch einmal Werte erreicht, die man eigentlich als untere Grenze der Letalität von Covid-19 bezogen auf die Gesamtzahl der Infektionen ansieht. Das würde nicht bedeuten, dass es nun gar keine Dunkelziffer mehr gibt. Die Dunkelziffer ist vielmehr negativ.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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