Dilemmata der Andrea Nahles

Selbstzerstörung Die SPD bietet den faszinierenden Anblick eines leckgeschlagenen Tankers, dessen Kapitän noch an Bord ist, sich aber bereits für unzuständig erklärt hat

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Andrea Nahles: Braucht sie ein politisches Wunder?
Andrea Nahles: Braucht sie ein politisches Wunder?

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Iamges

Prolog – Wie es dazu kam

Bevor wir über Andrea Nahles nachdenken, müssen wir von Angela Merkel reden. Letztere habe ich nie für eine Strategin gehalten, aber möglicherweise stand sie am letzten Abend der Koalitionsverhandlungen kurz vor einem Coup, dem ich aus professioneller Anerkennung innerlich applaudiert hätte. Nahles war es, die diesen Coup verhindert hat. Da ich nicht dabei war, kann ich das Ganze nur als plausible Geschichte erzählen, die Sie gern auch für eine Verschwörungstheorie halten dürfen.

Die SPD hatte bereits vor den Sondierungsgesprächen einen Anspruch auf das Finanzministerium angemeldet. Die CDU hatte sich bereits in den Jamaika-Verhandlungen mit dem Verlust des Finanzministeriums abgefunden. Zudem hatte Merkel ein Interesse daran, dass Jens Spahn nicht Finanzminister werden konnte und er war der plausibelste CDU-Kandidat für diesen Posten. Man kann also annehmen, dass Merkel dem Wunsch der SPD nach dem Finanzministerium nicht feindlich gegenüberstand und dass bereits in den Sondierungsgesprächen darüber gesprochen wurde. Olaf Scholz war für die von der CDU bedienten Lobbys als Finanzminister akzeptabel.

Der politischen Logik nach musste Merkel im Gegenzug ein ebenso wichtiges Ministerium von der SPD erhalten. Diese hatte aber nur eines von diesem Kaliber, das Außenministerium. Auch hier trafen sich die Interessen. Martin Schulz hatte ein Ministeramt unter Merkel ausgeschlossen, Nahles und Schulz hatten ein Interesse, Gabriel loszuwerden. Merkel will auch jetzt noch unter keinen Umständen Gabriel wieder als Außenminister. Darin hat sie auch Recht, nach Gabriels Privatfehde mit Erdoğan auf der Basis einer falschen Behauptung, Gabriels falscher Behauptung über eine angebliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit des zurückgetretenen libanesischen Premierministers durch Saudi-Arabien und Gabriels eigenmächtiger Änderung der Außenpolitik gegenüber Saudi-Arabien als nur noch geschäftsführender Außenminister. Mit den Worten Ralf Stegners nach Martin Schulz‘ Rückzug, ist Gabriel aus SPD-Sicht ein guter Außenminister gewesen: Es gibt eine Absprache mit Merkel, dass er es unter keinen Umständen wieder wird. Anders ergibt Stegners Bemerkung keinen Sinn. Gabriel ist in der Bevölkerung laut Umfragen und in der SPD-Basis im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Parteiführung beliebt. Wenn Gabriel von diesem Veto wusste, ergibt auch seine zwischenzeitliche Absage der Teilnahme an der Münchner Sicherheitskonferenz Sinn. Er muss ja davon ausgehen, dass die anderen Teilnehmer dort wissen, dass Merkel ihn hat fallenlassen und dass er deshalb dort wie Falschgeld herumlaufen wird.

Wenn Merkel in den Sondierungsgesprächen tatsächlich das Finanzministerium gegen das Außenministerium abgetauscht hatte, stand sie angesichts ihrer sonstigen Situation bei einem Erfolg der Koalitionsverhandlungen und einem positiven SPD-Mitgliedervotum vor einem strategischen Erfolg. Für ein Außenministerium in CDU-Hand hätte sich die in Frankreich beliebte Annegret Kramp-Karrenbauer leicht durchsetzen lassen, zumal sie eine plausible Chefdiplomatin ist. Ebenso plausibel wäre eine Übergabe der Kanzlerschaft an eine beliebte Außenministerin in der Mitte der Legislaturperiode gewesen. Merkel hätte ihr Lebenswerk gesichert und angesichts des Alters (55) und Sympathiewerts von Kramp-Karrenbauer hätte die SPD auf lange Sicht kaum eine Chance gehabt, von der CDU die Kanzlerschaft zu übernehmen.

Wenn es so war, dürfte Nahles und Schulz das irgendwann klargeworden sein und außerdem wussten sie, dass das inhaltliche Ergebnis der Koalitionsverhandlungen angesichts der Erwartungen, die sie selbst geschürt hatten, so mager war, dass der Ausgang des Mitgliederentscheids unsicher würde und wahrscheinlicher negativ als positiv ausfallen würde. Das SPD-Verhandlungsteam war zudem in jeder Hinsicht übermüdet. Schulz war klar, dass er nie wieder ein starker SPD-Vorsitzender werden konnte. In dieser Situation trafen die Beiden die katastrophale Entscheidung, auf dem Außenministerium zu bestehen und dessen Besetzung mit Schulz statt Gabriel anzubieten. Nach dieser Forderung und ihrer Ablehnung durch die CDU schwiegen sie so lange, bis sie zu ihrem Schaden ihren Willen bekamen. Sie wussten, dass sich Merkel ein Scheitern der Koalitionsverhandlungen noch weniger leisten konnte als sie selbst.

Danach ging alles sehr schnell. Schulz, der wusste, welche Kritik ihm aus der Partei entgegenschallen würde, gab vorsorglich den Parteivorsitz ab und zwar ab dem Tag nach dem Mitgliederentscheid, nach dem Nahles ihn bereits kommissarisch übernehmen sollte, sofern der Parteivorstand zustimme. Zwei Tage lang war er Außenminister in spe. Dann gab er auf und beendete damit seine Karriere als Spitzenpolitiker noch vor dem Beginn der Kampagnen zur Mitgliederbefragung.

Vorsitzende oder Nicht-Vorsitzende?

Daraus folgt das erste Dilemma der Andrea Nahles. De jure ist Martin Schulz noch Parteivorsitzender der SPD. De facto ist Martin Schulz eine leere Hülle ohne jegliches politische Kapital und ohne jegliche Glaubwürdigkeit. Eine durch Schulz geführte Kampagne für die GroKo wäre die effektivste mögliche Kampagne gegen die GroKo, zumal er schon müde und ohne Überzeugung sprach, als er noch etwas werden oder bleiben wollte.

De facto müsste also Andrea Nahles die Macht an sich reißen und in jeder Hinsicht wie die Parteivorsitzende agieren, die sie noch nicht ist und vielleicht auch nie wird. Dazu gehört Chuzpe und die hat sie im Prinzip auch. Bisher allerdings hat sie diese nur als Erster Offizier eines funktionstüchtigen Schiffes auf ruhiger oder mäßig stürmischer See gezeigt. Jetzt muss sie einen leckgeschlagenen Tanker durch den Orkan der Mitgliederbefragung steuern, mit dem deprimierten Kapitän noch an Bord, der die Formalien ausführen muss. Für diese Situation braucht es nicht nur Chuzpe, sondern zusätzlich Ernsthaftigkeit. Letztere ist genau das, was Nahles fehlt. Außerdem fehlt ihr der Rückhalt großer Teile der Partei, einschließlich der für die GroKo als Ministerin gesetzten Karin Barley. Ein offener Brief, der eine Urabstimmung über den Parteivorsitz fordert, kann nach Schulz‘ Rede nur als Misstrauensvotum gegen Nahles aufgefasst werden.

Dennoch ist die Lösung dieses einfachsten Dilemmas klar: Nahles muss als Vorsitzende agieren. Die NoGroKo-Bewegung hat in Kevin Kühnert eine bekannte und sympathische Führungspersönlichkeit. Wenn ProGroKo führungslos agiert, ist die Mitgliederbefragung für Nahles schon verloren und dass sie dann noch etwas wird, ist sehr unwahrscheinlich. Wenn sie schon verliert, dann immer noch besser mit fliegenden Fahnen, weil auch das zumindest Respekt einbringt.

Emotional oder rational?

Das zweite Dilemma ist schwieriger. Nahles liegt es, emotional zu überzeugen, Leute besoffen zu reden. Für ihre 47 Jahre kann sie dabei reichlich unerwachsen wirken. Mit einer klaren, logischen Gedankenführung zu überzeugen, liegt ihr nicht. In einer Arbeitsteilung mit einer überzeugend rational argumentierenden Führungspersönlichkeit wäre das kein Nachteil. Mir fällt in der SPD niemand von hinreichender Statur ein, der das könnte und außerdem ein Interesse hätte, sich in einer sehr wahrscheinlich bereits verlorenen Kampagne zu exponieren.

Das Problem mit dem emotionalen Zugang ist zum einen, dass er auf Parteitagen und in Sälen wirkt, aber seine Wirkung weitgehend verpufft ist, wenn die Leute wieder zu Hause sind und den Stimmzettel ankreuzen. Man kann sie ja schlecht zwingen, noch im Saal die Unterlagen auszufüllen. Zum anderen, und das ist entscheidend, passt der Zugang nicht zu ProGroKo. Allgemein lässt sich leichter Opposition mit Emotionen betreiben als Regierung. Im vorliegenden Fall ist es aber auch noch so, dass die GroKo dem Bauchgefühl der Mitglieder entgegenläuft. Man kann die Entscheidung zu koalieren und unter diesen Bedingungen zu koalieren vielleicht rational begründen, aber positive Emotionen dafür zu entwickeln dürfte schwierig sein, zumal gerade Schulz und Gabriel genau dieser Sache zum Opfer gefallen sind und man als Verhandlungserfolg auch noch ein Außenministeramt mitverkaufen müsste.

Also rational. Hier ist nun das Problem, dass Kevin Kühnert betont unemotional und rational argumentiert und genau das auch kann. In dieser Hinsicht kann ihm Nahles nicht das Wasser reichen. Zudem hat Kühnert die besseren Argumente. Bei genauerer Betrachtung sind alle ProGroKo-Argumente aus SPD-Sicht nur Phrasen, so dass ein Jonas unter dem Hashtag #ProGroKo ein Bullshit-Bingo mit den Begriffen „Verantwortung“, „Neue Situation“, „Die Menschen wollen Ergebnisse“ und „Opposition ist Mist“ zusammenstellen konnte. Mit „Verantwortung“ lässt sich schlecht argumentieren, wenn man gerade öffentlich Personalpoker gespielt und dabei zwei eigene Spitzenpolitiker verschlissen hat. Der Begriff „Neue Situation“ birgt inzwischen eine unfreiwillige Komik, weil man sich fast stündlich informieren muss, um noch auf dem Laufenden zu sein, was gerade die neueste Situation ist, in der sich die SPD befindet. „Die Menschen wollen Ergebnisse“ geht auch nicht mehr, denn laut Umfragen will eine Mehrheit inzwischen eben keine GroKo mehr. Wer wollte ihnen das nach diesem Schauspiel verdenken? „Opposition ist Mist“ geht natürlich immer, erfordert aber eine nicht einfach zu gebende Erklärung, warum man das am Abend der Bundestagswahl und direkt nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen anders sah. Wenn ich Jonas‘ Bullshit-Bingo ergänzen darf: „Stabile Regierung“. Das hat sich Jonas wahrscheinlich gar nicht mehr getraut, weil es inzwischen lächerlich wirkt. Wer sich gerade eine Nacht lang angeschwiegen hat, dem kann man vielleicht eine gescheiterte Ehe attestieren, aber doch wohl kaum die Fähigkeit zur Bildung einer stabilen Regierung. Wenn jemand fragen sollte: Ich nehme den vakanten Posten des Außenministers dieser stabilen Regierung nicht an.

Dieses Dilemma hat also die Lösung, dass Nahles es emotional versuchen muss, weil sie es rational nicht kann und keine hinreichenden Argumente hat. Es wird eine Gratwanderung. Die Versuchung liegt nahe, Angst als die Emotion zu verwenden, mit der es gehen könnte. Das würde die Parteiführung unmöglich machen, weil durchscheinen würde, dass es ihre Angst ist, die sie auf die Mitglieder übertragen will. Wenn Nahles es mit positiven Emotionen versucht, wird den Leuten aber immer noch ihr „Die Union kriegt auf die Fresse“ und ihr „Bätschi“ in den Ohren klingen. Was immer man vom Ergebnis der Koalitionsverhandlungen hält, keinem Genossen ist nach „Bätschi“ zumute. „Passt-scho“-Seehofer sieht auch nicht so aus, als hätte er eins auf die Fresse bekommen. Wenn Nahles ein "Passt scho" versucht, wir ihre Stimme leicht hohl klingen. Im schlimmsten Fall wird sie es sogar selbst hören. Dann fällt ihre Chuzpe zusammen und sie ist erledigt.

Inhalte oder Ämter?

Auf den ersten Blick liegt gar kein Dilemma vor. Natürlich zählen an der SPD-Basis die Inhalte und nicht die Ämter, die an Personen aus der Parteiführung fallen. Man müsste dann schon sagen können, was man mit diesen Ämtern im Sinne der Parteibasis ändern will – eine schwierige Argumentation, wenn man gerade Olaf Scholz als Finanzminister gesetzt, dafür das Wirtschaftsministerium abgegeben hat und mit der Trophäe Außenministerium nichts anzufangen weiß.

Das Problem ist hier, dass die Verhandlungsführer der SPD selbst das Signal ausgesendet hatten, dass die Inhalte nicht reichen und es deshalb ein hochkarätiges Ministerium mehr sein muss. Genauer gesagt, da Schulz nicht mehr relevant ist und sowieso schon kolportiert wurde, dass Nahles das durchgesetzt hatte: Nahles hat das Signal gesendet, dass die Inhalte nicht ausreichen. Jetzt muss sie in der ProGroKo-Kampagne das Gegenteil behaupten. Der intelligente Kevin Kühnert greift sie darin nicht einmal frontal an. Er argumentiert damit, dass in der vorigen Koalition mit Merkel der Koalitionsvertrag zu Ungunsten der SPD nicht erfüllt wurde und stellt die Frage, welchen Anlass es für die Erwartung gäbe, es würde diesmal anders kommen. Die Antwort ist – offensichtlich für jeden, der politisch denken kann – es gibt keinerlei Anlass dafür. Die SPD-Führung ist zu schwach, sich in der Koalition durchzusetzen und Angela Merkel ist zu schwach, um weitere Zugeständnisse zu machen. Was die Union an ungeliebten Punkten des Vertrages auf den Sankt-Nimmerleinstag verzögern kann, wird sie verzögern.

Die Union ist dafür in einer guten Position und man sollte erwarten, dass jeder Spitzenpolitiker der SPD sich das ausrechnen kann. Nach allem, was ich in den letzten zwölf Monaten gesehen habe, bin ich aber nicht sicher, ob sie auch nur zum einfachsten strategischen Kalkül fähig sind.

Sobald die SPD-Mitgliederbefragung positiv ausgeht, ändern sich die Kräfteverhältnisse in der GroKo. Merkel sitzt dann gegenüber der SPD fest im Sattel und muss die Schäden begrenzen, die ihre eigene Partei in diesem Koalitionsvertrag erkennt. Die SPD-Führung hingegen hat dann auf absehbare Zeit kein Erpressungspotential mehr. Nach dieser Vorgeschichte ist im Falle eines positiven Mitgliedervotums ein Koalitionsbruch bis etwa Mitte der Legislaturperiode keine Option mehr und selbst danach werden ihn die Wähler nicht honorieren. Wenn die SPD unter diesen Bedingungen in eine Große Koalition eintritt, liefert sie sich Merkel aus, die das auch weiß.

Wie dem auch sei, Nahles bleibt nichts Anderes übrig, als auf Inhalte zu setzen. Auf #ProGroKo können sich vor allem die E-Gamer dafür begeistern, dass im Koalitionsvertrag Daddeln zum Sport erklärt wird. Das wird nicht ganz für eine Mehrheit unter den SPD-Mitgliedern reichen.

Fazit

Es braucht wohl ein politisches Wunder, damit die SPD-Mitgliederbefragung zugunsten der GroKo ausgeht und Andrea Nahles Parteivorsitzende wird. In der CDU werden sich viele wünschen, dass dieses Wunder ausbleibt. Wenn es ausbleibt, kommt es in beiden Volksparteien zu einem Generationswechsel, infolge dessen sie wieder unterscheidbar werden könnten. Die gegenwärtige Krise hätte so ihr Gutes, weil sie die Stabilität der Parteiendemokratie mittelfristig verbessern würde. Findet das Wunder statt, so wird sich die AfD zur Volkspartei mausern.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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