Drei Einwürfe zur Migrantenkrise

Berlin Die deutsche Regierung droht an einem Problem zu scheitern, ohne vorerst die Macht zu verlieren. Stabilität ist jedoch etwas Anderes als ein Mangel an Alternativen.

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Realitätsverweigerung

Ein Beitrag aus dem öffentlich-rechtlichen Frühstücksfernsehen der vergangenen Woche wirft ein Schlaglicht auf die Realitätsverweigerung der Wohlmeinenden- Kirchenleute, Journalisten und Politiker- die zu einem immer weiteren Erstarken von Kräften wie der AfD und der Pegida führen muss, wenn sie sich fortsetzt. Das Thema lautete Kirchenasyl. Der Beitrag verwendete an einer Stelle das Wort „umstritten“, war aber sonst völlig unkritisch, eher sympathisierend, im starken Gegensatz zu Beiträgen über diejenigen, die in dieser Auseinandersetzung die Gegenposition vertreten. Das ist wesentlich, weil es um Rechtsbruch ging und noch dazu in einem Fall, in dem aus der tatsächlichen Situation keine mildernden Umstände zu erkennen waren.

Das Beispiel war ein syrischer Migrant oder Flüchtling (wir erfuhren nicht, warum genau der junge Mann nach Europa gekommen ist), der zuerst im EU-Land Bulgarien polizeilich registriert worden war. Von dort war er nach Deutschland weiter gereist und dorthin soll er nun, völlig gesetzlich, zurück. Diesen Mann „verstecken“ Kirchenleute vor den Behörden, weil ihrer Meinung nach eine Ausweisung nach Bulgarien gegen die Menschenrechte verstößt. Es handelt sich nicht um einen Einzelfall, wie Leser leicht überprüfen können, indem sie die Worte ‚Kirchenasyl Syrer Bulgarien‘ googeln.

Der Mann gab an, er sei in Bulgarien von Polizisten geschlagen und erpresst worden. Ähnliche Geschichten liest man in den anderen Fällen. So hat ein Syrer hat angeblich beobachtet, wie in Ungarn einem anderen Syrer beim zwangsweisen Abnehmen von Fingerabdrücken die Finger gebrochen wurden. All diesen Geschichten gemeinsam ist, dass sie nicht überprüfbar sind und dass diejenigen, die sie erzählen, ein offensichtliches Interesse daran haben, derartiges zu behaupten, auch wenn es unwahr sein sollte. Im Fall der Fernsehreportage wirkte der kurz gezeigte Mann durchaus vernünftig und sympathisch. Wer aber glaubt, ein sympathischer und vernünftiger Mensch würde nicht lügen, wenn es für ihn um sehr viel geht, der kennt sich selbst nicht. Es geht um viel, denn die zukünftigen Lebensbedingungen des Mannes würden in Deutschland ungleich besser sein als in Bulgarien.

Nehmen wir jetzt an, der Mann habe tatsächlich die Wahrheit gesagt. Wäre das ein Grund, seine Abschiebung nach Bulgarien zu blockieren? Polizeiliche Übergriffe gibt es in Einzelfällen in jedem Land, auch in Deutschland (erinnern Sie sich an Stuttgart 21?). Mitunter entsteht auch der Eindruck, solche Übergriffe würden sich systematisch gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen richten, etwa gegen Afroamerikaner in den USA. Es wäre absurd, deswegen zu behaupten, man könne niemanden in die USA schicken, der von Rechts wegen dorthin gehört (bei Terrorismusverdacht und der Möglichkeit einer Verbringung nach Guantanamo sähe das anders aus).

Die Frage ist also, ob im EU-Land Bulgarien allgemein eine Gefahr für Leib, Leben und Freiheit von Asylbewerbern besteht. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte, nicht einmal anekdotische, sofern wir uns auf nachweisbare Fälle beschränken. Es gibt nur Tatarengeschichten, die man glauben kann oder auch nicht. Wenn dem aber so wäre, müsste dieses Problem durch die EU-Kommission und politischen Druck anderer EU-Länder gelöst werden. Auf keinen Fall dürfte man deshalb die Rückführung von Flüchtlingen und Migranten nach Bulgarien auf der Basis des Dublin-Abkommens aussetzen. Damit würde man ja einen Rechtsbruch der bulgarischen Regierung belohnen und einen falschen Anreiz für andere EU-Länder setzen.

Eigentlich ist klar, was nach diesem Fernsehbeitrag und in anderen Fällen, in denen gegen eine Abschiebung nach Bulgarien oder Ungarn Kirchenasyl gewährt wird, geschehen müsste. Der Staat, über diese Fälle informiert, müsste die Abschiebung durchsetzen, notfalls mit Polizeigewalt auch in einer Kirche. Ferner wäre zu prüfen, ob sich Kirchenmitarbeiter strafbar gemacht haben. Das hängt wohl davon ab, ob sie die Behörden informiert haben, denn anderenfalls unterstützen sie illegalen Aufenthalt. Ja, ich weiß, „kein Mensch ist illegal“, aber der Aufenthalt eines bestimmten Menschen an einem bestimmten Ort kann sehr wohl illegal sein. Falls sich Kirchenmitarbeiter strafbar gemacht haben, so sollte auch eine angemessene Strafe ausgesprochen werden. Jeder Leser weiß vermutlich, dass nichts von dem geschehen wird.

Damit aber lässt der Staat einen rechtsfreien Raum zu. Die Kirche und ihre Mitarbeiter stehen ebenso wenig über dem Gesetz, wie Leute, die in ihrem Stadtteil strafrechtlich relevante Probleme lieber nach dem Rechtsverständnis ihrer kulturellen Tradition regeln möchten. Ein Rechtsstaat beruht nicht nur darauf, dass er seine Bürger und Gäste vor willkürlichen Übergriffen der Staatsgewalt schützt, sondern auch darauf, dass das geltende Recht durchgesetzt wird. Wenn letzteres nicht der Fall ist, werden Teile der Gesellschaft versuchen, ihrerseits das Recht in die eigene Hand zu nehmen- ein Phänomen das gegenwärtig zu beobachten ist. Das kann leicht zu einer Polarisierung, Eskalation und Destabilisierung der Gesellschaft führen.

Recht ist unteilbar. Wenn Kirchenleute meinen, Flüchtlingen oder Migranten würde in Bezug auf die Abschiebung Willkür angetan, so sollen sie einen Rechtsdienst unterhalten, der diese Leute vor Gericht vertritt. Die Urteile und deren Durchsetzung freilich müssen sie akzeptieren und der Staat muss das durchsetzen. Wenn der Staat sich als parteiisch erweist, verliert er das Vertrauen.

Ähnliches gilt für den Journalismus. Offenkundig unkritische und sympathisierende Reportagen wie diese, und ich habe im Frühstücksfernsehen und im heute journal mehr Derartiges gesehen, sind immer kontraproduktiv. Am Ende wenden sich ganz normale Bürger, die solche Zustände und die einseitige Verbreitung solcher Meinungen für unerträglich halten, Parteien wie der AfD und Organisationen wie der Pegida zu. Auch das beobachten wir seit geraumer Zeit und in zunehmendem Maße.

Sie glauben nicht, es würde einseitig berichtet? Die Verbreitung der Falschmeldung, Migranten hätten ein 13-jähriges Mädchen entführt und vergewaltigt, wird von den Journalisten mit Abscheu betrachtet und trifft auf Verständnislosigkeit, was auch richtig ist. Für die Verbreitung der Falschmeldung, ein Syrer sei in der Lageso-Schlange so schwer erkrankt, dass er gestorben sei, gilt Gleiches nicht. Dort suchten die Journalisten nach Entschuldigungen. Die Verbreiter der Nachricht bekamen ausführlich Raum, sich zu rechtfertigen, es wurde sogar angedeutet, es hätte ja immerhin so sein können. Ja, hätte es. In dem anderen Fall auch. Es war aber nicht so und in beiden Fällen war die Weiterverbreitung einer ungeprüften Nachricht, die in beiden Fällen nach Tatarengeschichte stank, dazu geeignet, die Stimmung anzuheizen. Beide Fälle wären gleich zu behandeln gewesen und jeder einigermaßen gebildete Journalist hätte das bemerken müssen.

Ein weiteres Beispiel kurzsichtiger Berichterstattung haben wir in Bezug auf den Familiennachzug erlebt. Die Journalisten der öffentlich-rechtlichen Sender, denen Seehofers Sieg nicht passte, versuchten ihn mit dem Argument kleinzureden, das beträfe ja nur knapp 20% der Syrer, nämlich nur diejenigen, die subsidiären Schutz statt Asyl erhalten hätten. Sie haben dabei nicht nur bequem vergessen, dass es die meisten anderen Migranten betrifft, sondern auch eine völlig falsche Schlussfolgerung gezogen, was nun in den anderen 80% der syrischen Fälle geschehen wird.

Zunächst einmal könnte man auch in den meisten dieser Fälle den Familiennachzug rechtlich sauber aussetzen. Dafür müsste lediglich das Asylrecht geändert werden, was auch ohne Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention möglich wäre. Man könnte ein Familiennachzugsverfahren einführen, in dem hinreichend glaubhaft gemacht werden muss, dass der Familie dort, wo sie sich jetzt befindet, Gefahr droht oder dass der Person dort Gefahr drohen würde, die bereits Asyl erhalten hat. Das dürfte in den wenigsten Fällen von Syrern glaubhaft zu machen sein, denn deren Familien sind in Nachbarländern bereits in Sicherheit und diese wenigen Fälle würden kein politisches Problem mehr darstellen. In diesen Fällen könnte man auch Auge in Auge und vor einer Fernsehkamera einem AfD- oder Pegida-Vertreter erklären, warum der Nachzug stattfinden muss und man würde das Rededuell vor den Augen der Zuschauer gewinnen. So, wie die Lage jetzt ist, würde man das Duell verlieren.

Natürlich werden die Politiker sich nicht einigen können, das zu tun. Sie werden sich auch nicht trauen, auf diese Weise de jure das Problem zu lösen, dass ein Familiennachzug in der Größenordnung von schätzungsweise zwei bis drei Millionen Menschen (die Zahl steigt kontinuierlich) nach Deutschland nicht praktikabel ist.

Im Gegensatz zu dem, was Claus Kleber zu glauben scheint, wird das Problem aber gelöst werden, weil es gelöst werden muss, und zwar dadurch, dass die Verfahren verschleppt werden. Dadurch ist der Familiennachzug de facto auch für die Gruppe der anerkannt Asylberechtigten ausgesetzt und zwar einschließlich der Fälle, in denen wirklich Gefahr für die Familien besteht. Es wäre zweifellos sauberer und fairer, das Recht so anzupassen, dass es in der grundlegend veränderten Situation wieder praktikabel wird und so den wirklich Schutzbedürftigen auch Schutz gewährt. Ein solches Recht könnte auch zügiger umgesetzt werden, weil in vielen Fällen sehr früh klar werden würde, dass keine Schutzbedürftigkeit der Familie besteht und die Behandlung dieser Fälle könnte man zugunsten der wichtigeren zurückstellen.

EU-Außengrenzen

Sagen wir es unverbrämt: Die Politiker der Regierungskoalition haben mittlerweile erkannt, dass ein Migrantenzustrom in der gegenwärtigen Größe auf die Dauer zu unbeherrschbaren innenpolitischen Problemen führen wird. Sie wissen auch, dass sie untereinander so heillos über Grundfragen zerstritten sind, dass sie sich nicht auf Massnahmen einigen können, die geeignet wären, diesen Zustrom merklich einzudämmen und die in deutscher Verantwortung liegen würden. Deshalb erheben sie den deutschen Zeigefinger und richten ihn auf Griechenland. Die Griechen sind schuld, weil sie die Außengrenzen der EU nicht so sichern, wie sich das gehört- sagen Politiker, die in Bezug auf die deutschen Grenzen wissentlich nicht so handeln, wie es das Gesetz vorschreibt.

Was das politische Berlin nach monatelangem Nachdenken und tagelangen Diskussionen einfach nicht begreifen will, kann ein Fußballreporter mit eigener Schenkelklopfersendung (entschuldigen Sie bitte, Herr Welke) in wenigen Sätzen auf den Punkt bringen. Die griechische Seegrenze kann man gegen den Migrantenzustrom nicht „verteidigen“, ohne in großem Maßstab Migranten umzubringen (und zwar nicht einmal nur passiv durch Ertrinkenlassen). Jeder, der das wissen will, weiß das längst und wer es wirklich nicht begriffen hat, der schaue sich die Situation mal auf einer Landkarte an. Lesbos ist vom türkischen Festland aus im Sommer durch einen sehr guten Schwimmer zu erreichen (es sind etwas mehr als 5 Kilometer). Es gibt Inseln in diesem Archipel, die noch leichter erreichbar sind und es gibt viele davon. Lesbos ist nur deshalb beliebter, weil dort auf beiden Seiten die Infrastruktur am besten ist.

Zieht man einen Ring um Lesbos, so wird der Strom auf andere Inseln ausweichen. Und was wollte man eigentlich tun, wenn sich ein überladenes Migrantenboot dem Ring um die Insel nähert? Die sauberste Lösung unter den vielen unsauberen wäre es noch, das Boot abzudrängen, aber wenn es dabei zum Kentern kommt (und das lässt sich arrangieren), wird man die Insassen wohl retten müssen. Sobald man sie auf das „verteidigende“ Schiff zieht, sind sie auf EU-Territorium. Damit haben sie es geschafft und damit haben wir auch den entscheidenden Punkt erreicht.

Wer einen Fuß auf EU-Territorium gesetzt hat, aus welchen Beweggründen und unter welchen Umständen auch immer, hat Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Verfahren. Selbst wenn er in diesem nicht als asylberechtigt anerkannt wird, hat er noch immer noch eine überwältigend große Chance, in der EU bleiben zu können, weil fast kein Land Migranten zurücknimmt und schon gar nicht in großer Anzahl. Angesichts der Unterschiede in den Lebensverhältnissen zwischen den Herkunftsländern und der EU ist es ausgesprochen rational, ein kalkuliertes Risiko für das eigene Leben einzugehen, um diesen Sprung zu schaffen.

Wohlmeinende argumentieren gern, niemand würde sein Leben aufs Spiel setzen, der nicht wirklich in untragbaren Verhältnissen lebe, und Journalisten plappern das gern nach. Dieses Argument ist völlig absurd, nachdem bekannt ist, dass junge Männer (und einige Frauen und einige nicht so junge Männer) in der westlichen Wohlstandsgesellschaft bei Freizeitaktivitäten ein kalkuliertes Risiko für das eigene Leben eingehen, in bestimmten Fällen auch ein schlecht kalkuliertes. Die Attraktivität der EU-Aufnahmepolitik gegenüber Migranten ist ein wichtiger Faktor, wenn man über die vielen Toten im Mittelmeer spricht, denn sie ist es, die so viele Leute in so unzulänglichen Booten auf See lockt.

Das Einzige, was hier helfen kann, ist, den Anreiz zu verringern, indem man konsequent Ankömmlinge wieder ausschafft. Mir ist klar, wie schwierig es ist, die Bedingungen dafür zu schaffen, weil kein Land die Leute zurück nehmen will. Im Falle von Lesbos im Besonderen und Griechenland im Allgemeinen ist allerdings völlig klar, welches Land sie zunächst wieder aufnehmen muss und man verfügt diesem Land gegenüber durchaus über Druckmittel. Wenn man das Problem nicht auf diese Weise eindämmen kann, dann soll man aufhören, über das Thema der EU-Außengrenzen zu reden. Sie sind dann nicht mit vertretbarem Aufwand und auch nicht auf einigermaßen ethische Weise zu sichern.

Man muss dann zwei Dinge tun: Erstens, die Situation in der EU für Migranten so wenig attraktiv machen, wie eben möglich, und zweitens, zu einem prozentualen Verteilungsschlüssel kommen. Wenn alle drei Möglichkeiten misslingen, wird das Schengen-System nicht aufrecht zu erhalten sein. Eine Katastrophe in Griechenland würde unvermeidlich. Die EU würde sich dann letztlich zu einer reinen Freihandelszone zurückentwickeln. Die Konsequenzen dessen wären so gravierend und im Einzelnen so wenig vorhersehbar, dass größere Rücksichten auf Migranten, die menschlich gesehen sehr wünschenswert wären, dagegen zurückstehen müssen.

Politbarometer

In der Regierungskoalition keilt jeder gegen jeden. Die CSU droht an, gegen die Politik der Kanzlerin der Regierung, der die CSU selbst angehört, vor dem Verfassungsgericht zu klagen und damit gegen die Vorsitzende der Partei, mit der sie im Bund bei Wahlen gemeinsam antritt. CDU-Minister machen Politik gegen die Linie der Kanzlerin und ihres Kanzleramtsministers. Eine CDU-Spitzenkandidatin bei einer Landtagswahl stellt einen Plan für ein Problem der Bundespolitik vor, der ebenfalls der Richtlinie der Kanzlerin widerspricht.

In dieser Situation weist eine Wählerumfrage den voraussichtlichen Stimmanteil der CDU/CSU bei Bundestagswahlen mit stabilen 38% aus. Ist denn das Wahlvolk genauso meschugge wie die CDU/CSU?

Dem kann schon so sein, obwohl man solche Umfragen mit Vorsicht genießen sollte. So mancher, der in der wohl abgeschirmten Wahlkabine sein Kreuz bei der AfD machen würde, wird das vielleicht nicht am Telefon einem Meinungsforscher anvertrauen. Ich habe auch den Verdacht, dass Leute, die selber denken, beim Anruf eines solchen Instituts geneigter sind, den Hörer gleich wieder aufzulegen, schon weil sie wissen, dass in der Mehrzahl aller Fälle Marketingumfragen für Firmen durchgeführt werden. Die Umfragen sind also möglicherweise weniger repräsentativ als die Meinungsforscher denken, was in Zeiten ruhigen Fahrwassers wenig ausmacht, in Umbruchsituationen dagegen schon. Bekannt ist auch, dass Meinungsforscher in der Vergangenheit in Auftragsarbeit die veröffentlichte Meinung manipuliert haben, indem sie Fragen und Frageserien suggestiv angelegt haben.

Nehmen wir aber ruhig an, das Politbarometer ginge richtig. Das ist ja zumindest nicht völlig auszuschließen. Dass sich 38% der Wahlberechtigten gar nicht für Politik interessieren, ist auch möglich, wobei dann aber immer noch der Wähleranteil der SPD zu erklären wäre, die ja nicht weniger dysfunktional agiert. Da aber liegt der Hase schon im Pfeffer.

Wo sollen die Wähler denn hin, die sich vielleicht gern von der CDU/CSU abwenden würden? Die SPD hat nicht nur keine Politik, sie hat, zumindest auf Bundesebene, zusätzlich auch kein Personal. In Baden-Württemberg wohl auch nicht. Anders wäre schwer zu erklären, dass dort im März wahrscheinlich jemand Ministerpräsident werden wird, bei dem nicht ganz klar ist, wer mehr Biss hat, er oder sein Plüschwolf.

Nun hat Baden-Württemberg ja derzeit einen anständigen Ministerpräsidenten, möglicherweise einen der fähigsten Politiker der ganzen Bundesrepublik. Nur ist der leider in der falschen Partei und das im doppelten Sinne. Einerseits wird diese Partei nicht die stärkste werden, wenn Belgien nicht doch noch in letzter Minute einen radioaktiven Störfall in Tihange produziert. Andererseits ist diese Partei als Ganze in der Frage der Migrationskrise unzurechnungsfähig, was Kretschmann auch weiß, aber gewisse Rücksichten muss er eben doch nehmen. Man darf mit Spannung darauf warten, wie sich Baden-Württemberg im Bundesrat zu der gerade beschlossenen Verschärfung des Asylrechts stellen wird.

Dann gibt es noch Die Linke (ich bin hier ja Gast beim Freitag), für die aber in der Migrationskrise das Gleiche gilt, was ich gerade über die Grünen gesagt habe, nur noch verschärfter. Dort wird nicht die Situation analysiert, dort wird reflexhaft reagiert. Was schon immer richtig war, muss eben richtig bleiben. „Hallo! Hallo! Erde an Die Linke. Erde an Die Linke. Es gibt einen Punkt, an dem Quantität in eine neue Qualität umschlägt. Schon mal gehört? Engels vielleicht, der sich auf Hegel bezog?“ „Wer bitte, war Engels?“

Ach ja, und dann ist da noch Lindners Restekiste, entstanden aus dem, was zu seinen besten Zeiten eine intellektuell respektable liberale Partei war. Lindner ist jemand, der Leute besoffen reden kann oder er glaubt das zumindest von sich. Anders wäre kaum zu erklären, dass er annimmt, er könne die Regierung in der Migrationskrise kritisieren, ohne sich selbst auf irgendeine eigene Politik festzulegen.

Ja, ich weiß, die letzten vier Absätze waren sarkastisch und nicht weit von populistischer Politikerschelte entfernt. Warum bricht das aus mir heraus? Und wenn es aus mir herausbricht, was erwarte ich von anderen? Dass sie den naheliegenden Schluss ziehen und die einzige Alternative wählen, die es zu geben scheint und die auf diesen Umstand in geschickter Weise in ihrem Namen hinweist?

Die Situation ist ja nicht neu. Auf seiner Doppel-CD „Berliner Republik“ (Aufnahme im Dezember 2013) ist einem der schärfsten Beobachter, die dieses Land hat, Rainald Grebe, in dem Lied „Kokon“ eine nahezu perfekte Gesamtschau der damaligen Situation und Stimmung gelungen. Ein Vers lautet: „an der Macht ist die cdspgrüde // und Mutti sagt immer wie gut‘s uns geht“.

Es geht uns noch immer gut und das mag die 38% erklären, aber das Menetekel steht seit dem September 2015 an der Wand. Ich höre die zwei Scheiben auch noch immer gern als Erinnerung an eine Zeit, in der unser einziges Problem war, dass wir keine echten Probleme hatten. Diese Zeit ist vorbei und wird so schnell nicht wiederkehren.

Was ist nun mit der einzigen Alternative? Sigmar Gabriel mag unfähig sein, einen Sachverhalt zu Ende zu denken, im Gegensatz zu Schäuble übrigens, der das offensichtlich kann. Aber was sagt man über einen Geschichtslehrer, der allen Ernstes die Europäer (Marco Polo, Columbus, Magellan, Cortez, die Niederländische Ostindien-Kompanie, den Sonnenkönig, den Ursprung der USA und Kanadas, das Britische Empire, Amundsen und Scott) als Platzhaltertypen bezeichnet. Und die Afrikaner, also den Teil der Urmenschen, der in Afrika verblieb, als diejenigen migrierten, die heute die anderen Kontinente besiedeln, als Ausbreitungstypen? Eine Partei, die sich so jemanden irgendwo als Landessprecher leistet, kann kein vernünftiger Mensch wählen, auch in einem anderen Bundesland nicht. Dann schon lieber Merkel oder auch Seehofer und notfalls auch einen Plüschwolf.

Nun ist es schon so, dass ich die AfD gern in den drei Landesparlamenten in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sehen möchte. Die Chancen stehen gar nicht so schlecht, dass sie sich dort durch offensichtliche Inkompetenz selbst zerlegt, denn auch ihre Personaldecke ist dünn und mit Wirrköpfen vom Grade eines Björn Höcke stark durchsetzt. Dafür muss sie aber kein vernünftiger Mensch wählen, denn es gibt sicher mehr als 5% Unvernünftige. Und da wären wir wieder bei den 38%. Das ist ziemlich exakt der Wähleranteil, den die AfD im Heimatort von Björn Höcke (Bornhagen) sowohl bei den Erst- als auch bei den Zweitstimmen bei der Landtagswahl 2014 in Thüringen erzielt hat. Mene Mene Tekel Upharsin.

Nun fällt mir auf, dass ich inzwischen alle Parteien als nicht wählbar bezeichnet habe (ja, es ist gelogen, dass mir das gerade erst jetzt auffällt). Es ginge ja noch an, wenn nur ich das so sehen würde, aber ich fürchte, dass ich darin nicht allein bin. Die Stabilität des Politbarometers ist eine scheinbare. Mangels Alternativen sagen die Angerufenen, was sie schon immer gesagt haben. Wehe aber, wenn eine Alternative aufkommt und sei es nur eine scheinbare. Von 33,1% über 43,9% zu 92,1% (bei 95% Wahlbeteiligung) in zwölf Monaten. Das ist damals passiert.

Demnächst gibt es drei Landtagswahlen. Sollte ich nicht noch eine Wahlempfehlung abgeben? Eines sollte man gerade nicht: Nicht wählen gehen. Das wird nur als Desinteresse missverstanden oder als stille Zustimmung zur Regierungspolitik. Wie ich oben dargelegt habe, gibt es keine Partei, der ich mit meiner Stimme das Gefühl geben möchte, ich würde sie in ihrem gegenwärtigen Zustand unterstützen. Wie ist das aufzulösen? Ich kenne Leute, die gehen bewusst zur Wahl und dann streichen sie den ganzen Wahlzettel durch. Zugegeben, das wirkt kindisch. Zugegeben, das wirkt wie der hilflose Protest eines Wutbürgers. Zugegeben, das ändert erst einmal gar nichts.

Es ist nur eben so, dass ich beim gegenwärtigen Zustand der deutschen Parteien keine bessere Wahlempfehlung abgeben kann. Wenn genügend viele Leute das tun, begreifen die Politiker vielleicht, dass ihr derzeitiges Handeln unerträglich ist. Und unter den Alternativen einer Protestwahl ist es allemal besser als eine Stimme für die AfD.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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