Ein Hut im Ring

Cem Özdemir Der Vertreter der Grünen in der Atlantik-Brücke e. V. bewirbt sich in der FAZ um das Amt des Außenministers. Oder um mehr?

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Bisher ist Cem Özdemir eher als ein Eiferer mit unangenehmem Tonfall aufgefallen, dem es insbesondere gegenüber der Türkei schwerfiel, politisch zweckmäßiges Handeln über die private Befindlichkeit zu stellen. Als moralisierender Eiferer mit belehrendem Ton passt er gut in seine Partei, nicht aber in ein Amt, in dem er die Interessen des ganzen Landes zu vertreten hätte. In einem Gastbeitrag in der FAZ gibt er sich nun staatsmännisch. Es ist kein großes Wagnis, diesen Beitrag als Bewerbung um das Amt des Außenministers in einer künftigen schwarz-grünen Koalition auf Bundesebene zu sehen. Weiter unten werde ich ein größeres Risiko eingehen.

Der Zeitpunkt zwischen den Landtagswahlen in Bayern und Hessen ist gut gewählt. In Umfragen erscheinen die Grünen als der Erbe einer sterbenden SPD. Scharenweise laufen ehemalige SPD-Wähler zu den Grünen über. Bereits 36% der Befragten halten in einer aktuellen Emnid-Umfrage die SPD für entbehrlich. Eine Mehrheit von 54% glaubt immerhin noch, die SPD würde gebraucht. Viele von ihnen werden sich aber fragen, ob sie nicht doch etwas verpasst haben, wenn sie das Ergebnis der Umfrage sehen. Im ZDF-Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen ist eine schwarz-grüne Koalition auf Bundesebene die einzige Option, die mehr Befürworter als Gegner hat. Wenn die gegenwärtigen Trends anhalten, könnte diese Koalition demnächst eine knappe Mehrheit bei der Sonntagsfrage haben.

Was das Personal betrifft, so haben die Parteivorsitzenden aller gegenwärtigen Regierungsparteien in der Gesamtbevölkerung mehr Gegner als Befürworter. Andererseits findet sich kein einziger Grüner in der Liste der nach Meinung der Befragten zehn wichtigsten Politiker, in die es immerhin Christian Lindner und Sarah Wagenknecht geschafft haben. Diese Diskrepanz zwischen dem Höhenflug der Partei und einer gefühlten Unwichtigkeit ihrer Spitzenpolitiker dürfte ein Beweggrund für Özdemirs Gastbeitrag sein. In Deutschland gibt es wieder einmal eine Wechselstimmung und es ist auch nicht sicher auszuschließen, dass es 2019 zu Neuwahlen kommt. Die Grünen brauchen plausibles Personal für eine eventuelle Regierungsbildung.

Wird die Große Koalition platzen?

Generell wäre es in einer repräsentativen Demokratie problemlos möglich, die restlichen drei Viertel der Legislaturperiode weiter zu regieren, obwohl die koalierenden Parteien in den Umfragen die Mehrheit verloren haben. Weder die Union noch die SPD haben bei Neuwahlen in naher Zukunft etwas zu gewinnen. Im Gegenteil – das Scheitern ihrer Koalition würde aller Wahrscheinlichkeit zu weiteren Stimmenverlusten führen. Viele der gegenwärtigen Bundestagsabgeordneten beider Parteien, alle SPD-Minister und einige Unionsminister würden ihre Posten verlieren. Wenn in den drei Regierungsparteien nach der Wahl in Hessen alle die Nerven behalten, wird Schwarz-Rot weitermachen, obwohl der Begriff einer Großen Koalition schon nach dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017 ein Euphemismus war. Es ist nur eben so, dass in der SPD - und vielleicht auch in der CSU - niemand garantieren kann, dass alle die Nerven behalten.

Unter SPD-Mitgliedern und auf der mittleren und unteren Führungseben der Partei wird angenommen, die Partei könne sich in der Opposition erneuern und erholen. Dafür spricht eigentlich nichts – es ist nur eine verzweifelte Hoffnung. Die Partei ist dafür zu heterogen. Zwischen den politischen Vorstellungen des oberen Führungspersonals und denen der Gegner einer Fortsetzung der Koalition gibt es einen Bruch, der nicht dadurch geheilt werden kann, dass die Partei in die Opposition geht. Entledigt sie sich des bisherigen neoliberalen Führungspersonals, so ist sie für die Wirtschaft nicht mehr interessant und wird zu einer Kopie der Linken, ohne aber wie diese eine regionale Verwurzelung zu haben. Richtig ist, dass die SPD als Volkspartei nicht mehr benötigt wird. Falsch ist aber die Annahme, dass sie als Klientelpartei ein Wählerpotential über 20% hätte. Dieses dürfte eher unterhalb von 10% liegen.

Vor der SPD und den Unionsparteien steht die Aufgabe, den zu erwartenden weiteren Tiefschlag bei der Landtagswahl in Hessen zu ertragen, ohne in Versuchung von Personalwechseln in den Parteispitzen und der Bundesregierung zu geraten. Solche Wechsel würden nur zu weiteren innerparteilichen Kämpfen führen und unter den Wählern den Eindruck verstärken, die Koalition befasse sich nur mit sich selbst. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es zu solchen Personalwechselkämpfen kommt. Die jüngere Generation will in allen drei Parteien mehr Einfluss und insbesondere in der Union hat die ältere Generation den rechten Zeitpunkt zum Abtreten bereits verpasst. Durch eine Reihe von Fehlern und Misserfolgen hat sie an Einfluss und Rückhalt verloren.

Zudem sind ein Ende der Koalition und Neuwahlen zwar nicht im Interesse der Regierungsparteien, wohl aber in demjenigen des Landes und wohl auch der Wirtschaft. Einige Journalisten werden das bemerken oder einflussreiche Leute werden es ihnen sagen. Der Koalitionsvertrag ist ein Dokument festgeschriebener Stagnation in Zeiten, in denen sich die äußeren Bedingungen schnell wandeln. Noch drei Jahre so weiter zu wursteln, ist sicher nicht gut. Mit anderen Worten, die angemahnte „Rückkehr zur Sacharbeit“ liefe schon deshalb ins Leere, weil die Koalition in der Sache gar kein angemessenes Konzept hat.

Das Konzept Özdemirs

Der Gastbeitrag Özdemirs hebt sich vom üblichen Politikergewäsch der Berliner Republik durch einen Hauch von Offenheit – fast möchte man sagen, Glasnost – ab. Er gibt zu, dass sich die Demokratie „in einer Rezession“ befindet. Noch ehrlicher wäre das Wort Rückzug gewesen, aber zum kämpferischen Grundton des Textes passt es nun einmal besser, die Assoziation einer nur zyklischen Krise zu wecken, wo es sich eigentlich um eine strukturelle handelt. Özdemir schwört auch dem Demokratieexport ab. Nach einer Reihe desaströser Regimewechsel und gescheiterter Regimewechselversuche mag das als Selbstverständlichkeit erscheinen, aber weder eine Hillary Clinton noch die meisten deutschen Journalisten haben das begriffen. Özdemir empfiehlt eine realistische Außenpolitik, die sich der eigenen Möglichkeiten und Grenzen bewusst ist, aber die eigene Haltung nicht aufgibt. Das ist goldrichtig und vielleicht wissen das ja auch andere Politiker in Berlin. Nur eben – die anderen haben das schon seit Jahren nicht mehr ausgesprochen. Auch Özdemirs Analyse, der Druck auf das westliche Wertegefüge wachse innen und von außen, ist richtig. Wiederum: Jeder weiß das, aber man findet kaum einen Politiker, der es offen ausspricht. Auch dass Deutschland gemeinsam mit anderen europäischen Ländern mehr Verantwortung übernehmen muss, ist ein Gemeinplatz. Gleichwohl ist die implizite Kritik Özdemirs richtig, dass die gegenwärtige Regierung eben dazu nicht in der Lage ist.

Neben richtigen Ansätzen finden sich in dem Beitrag aber auch offensichtliche analytische Lücken, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob ein Özdemir gegenüber einem Maas eine entscheidende Verbesserung wäre. Özdemir konstatiert richtig, dass Renationalisierung in vielen (westlichen) Staaten wieder zur Verheißung geworden sei und multilaterale Zusammenarbeit an Attraktivität verloren habe. Das mag man bedauern, aber wenn es um die Verteidigung der Demokratie geht, muss man eben auch konstatieren, dass die Entnationalisierung zu einem Demokratieabbau geführt hat. Wesentliche Entscheidungen werden von internationalen Gremien getroffen, wie etwa der EU-Kommission, die keine demokratisch begründete Verantwortlichkeit haben (nicht abwählbar sind), wohl aber zugänglich für Lobbyisten. Wo demokratische Entscheidungsprozesse, die nur auf nationaler Ebene wirklich verankert sind, aus historischen und kulturellen Gründen zu verschiedenem Recht in verschiedenen Staaten geführt haben, hebeln multilaterale Abkommen dieses Recht aus, oft zugunsten eines kleinsten gemeinsamen Nenners oder der größten Unternehmen. Man kann rational argumentieren, dass die Vorteile multilateraler Zusammenarbeit größer sind als die Nachteile. Man kann ebenso rational argumentieren, dass dieser Demokratieabbau die Gesellschaft gefährlich destabilisiert und es deshalb besser ist, auf einen Teil der Vorteile multilateraler Zusammenarbeit zu verzichten. Das sollte politisch ausdiskutiert werden. Was man nicht rational verteidigen kann, ist die Behauptung praktisch des gesamten westlichen Establishments einschließlich Özdemirs, dass das ursprüngliche westliche Demokratiekonzept mit multilateralen Entscheidungsgremien kompatibel sei.

Eine weitere analytische Lücke hat mit dem Aufhänger des Beitrags und Özdemirs Sozialisation in der Atlantik-Brücke zu tun. Der Aufhänger ist die Ermordung des kritischen saudi-arabischen Journalisten Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul. Özdemir benutzt ihn, um gegen einen Satz von Heiko Maas zu polemisieren, in dem dieser eine „balancierte Partnerschaft“ mit den USA eingefordert hatte. Gemeint war damit eine Emanzipation vom Vasallenstatus und gerade die Atlantik-Brücke e.V. ist ja ein Garant dieses Status. Özdemir meint nun, es sei viel sinnvoller, eine „balancierte Partnerschaft“ mit Saudi-Arabien einzufordern. Das ist – mit Verlaub – intellektuell schwach. Erstens gibt es in Bezug auf Saudi-Arabien keine solche Schieflage. Zweitens hat Deutschland Saudi-Arabien als Verbündeten gerade durch seine Vasallenrolle gegenüber den USA und die Rolle Saudi-Arabiens in der Nahoststrategie der USA. Dass das bequem für deutsche Rüstungsfirmen ist, weil Saudi-Arabien zahlungskräftig ist und stark aufrüstet, steht auf einem anderen Blatt.

Grün-schwarz wird die Republik

„Schwarz-grün wird die Republik“ heißt es in Rainald Grebes Lied „Prenzlauer Berg“, das er bereits im November 2010 eingespielt hat, als es noch eine bemerkenswerte Vorhersage war. Seitdem hat Winfried Kretschmann als Spitzenkandidat der Grünen zwei Landtagswahlen gegen die CDU gewonnen, es gab einen Kontrollverlust der Regierung Merkel in Bezug auf die Migrationswelle 2015/16 und Angela Merkel hat im Herbst 2016 die Gelegenheit für einen gebotenen und noch möglichen würdevollen Abgang verpasst. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass die Grünen nach der Hessen-Wahl in einer Woche in einem zweiten Bundesland den Ministerpräsidenten stellen. Wird die Republik nicht vielmehr grün-schwarz werden?

Vieles spricht dafür. Die Krise der bisherigen Volkparteien ist kein speziell deutsches Phänomen. Vielmehr ist Deutschland hier wieder einmal der Michel, der lange geschlafen hat. Es hat eine Weile gedauert, aber irgendwann haben die Leute eben doch bemerkt, dass Volksparteien unweigerlich für alles und nichts stehen. Eine Wählerstimme für eine solche Partei kommt politisch einer Stimmenthaltung gleich. In der Kokon-Zeit vor 2015, als es unter Muttis Rock so schön warm war (Grebe), hat das keinen gestört. Jetzt aber ist ein kalter Wind spürbar und die Mittelschicht sucht nach einer Partei, die für etwas steht. Die heutige SPD und die Unionsparteien stehen von ihrer Konstruktion her für nichts, sind damit anachronistisch geworden und können dem auch ohne Parteispaltungen nicht abhelfen. Wer glaubt, diese Parteien würden sich mittel-oder langfristig wieder erholen, lügt sich in die Tasche. Zudem hasst die Mittelschicht nichts so sehr wie sichtbare Schwäche.

Jemand muss die heutigen Regierungsparteien beerben. Wer kann das sein? Die FDP führt nicht nur die Freiheitlichkeit im Namen, mit der die Kleinbürger der Mittelschicht nichts am Hut haben. Sie hat sich auch noch entschlossen, gegen „German Angst“ und für mehr Mut zu sein. Angst jedoch ist der (klein)bürgerliche Wert an sich. Die Linke ist keine Partei für die Mittelschicht. Die AfD riecht noch zu sehr nach Nazismus, obwohl die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart deutlich aufgezeigt hat, dass die AfD zwar weit rechts steht und ein unzivilisiertes Menschenbild hat, aber eben auch wenig zu tun mit dem Nationalsozialismus des Führers. Jedenfalls hat die Mittelschicht glücklicherweise noch Angst vor der AfD. Übrig bleiben die Grünen und tatsächlich gehen die meisten von der SPD Enttäuschten und ein Teil der von der CDU und CSU Enttäuschten dorthin.

Wenn es 2019 zu Neuwahlen für den Bundestag kommt, werden die Grünen daher nicht nur einen plausiblen Kanzlerkandidaten benötigen, dieser wird auch eine Chance auf das Kanzleramt haben. Ist das wirklich so überraschend? In den neuesten Umfragen rangiert die CDU/CSU bei der Sonntagsfrage zwischen 25 und 27%, wenn man den bekannt CDU-nahen Ausreißer Allensbach (29%) mal außer Acht lässt. Die meisten Institute sehen die Grünen derzeit jeweils 6-7% hinter der Union.

Was wird geschehen, wenn die Große Koalition zerbricht? Die SPD wird das weitere Stimmen kosten und die meisten davon werden an die Grünen gehen. Aber auch die Union wird das weitere Stimmen kosten, zumal es dort zu einem Streit um die Kanzlerkandidatin oder den Kanzlerkandidaten kommen muss, der vermutlich heftig wird. Auch von diesen Stimmen werden nicht wenige an die Grünen gehen, denn diese sind heute eine konservative Mittelschichtpartei. Den paar zeitgeistkonformen gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die bei Journalisten eine Linksassoziation bewirken, hängt auch ein Flügel der CDU an. Ich denke, dass in einem solchen Szenario die Wahrscheinlichkeit größer als 50% ist, dass die Grünen stärkste Partei werden und zusammen mit der Union eine Mehrheit im Bundestag haben.

Kommt es 2019 nicht zu Neuwahlen, was wohl trotz der konsistent suizidalen Tendenz der SPD wahrscheinlicher ist als ein Koalitionsbruch, so wird das weitere Abbröckeln der Wähler von der SPD und Union und ihre Hinwendung zu den Grünen langsamer vonstattengehen. Die Grünen hätten dann mehr Zeit, sich zu sortieren, weil schon recht lange vor der nächsten Bundestagswahl klar sein wird, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit die stärkste Partei im neuen Bundestag sein werden.

In jedem Fall ist es bereits jetzt an der Zeit, den Hut in den Ring zu werfen, wenn man erste Kanzlerin oder erster Kanzler für die Grünen werden möchte. Die Parteiseele würde natürlich eine Frau vorziehen. Allein, welche weibliche Grüne wäre in dieser Rolle plausibel? Politisch gesehen wäre es natürlich angebracht, wenn Winfried Kretschmann und Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Parteimitgliedschaften austauschen würden. Das würde das Problem lösen, wird aber an Kretschmanns Intelligenz scheitern. Da Kretschmann selbst wohl weder Kanzler werden will, noch in der gegenwärtigen Weltlage als sonderlich geeignet dafür erscheint, läuft es wohl auf Cem Özdemir hinaus. Der kann zumindest gut genug denken, um das bereits zu wissen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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