Ein Konflikt friert ein

Donezk und Luhansk Im Stillen findet sich Kiew mit dem dauerhaften Verlust großer Teile des Donbass ab. Für die EU ist es eine strategische Niederlage.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Das lange Nachbeben von 1990

Als ich im Februar 1990 für einige Tage Moskau, Minsk und Kiew besuchte, waren nationalistische Strömungen unübersehbar. In einem Minsker Supermarkt konnte ich eine Flasche Milch nur deshalb kaufen, weil ich an meinem Akzent von einem weißrussischen Kunden als deutschsprachiger Tourist erkannt wurde. Die Kassiererin wollte sie mir nicht geben, weil sie mich für einen Russen hielt.

Am 11. März 1990 erklärte Litauen seine Unabhängigkeit. Die Führung der Sowjetunion reagierte mit einer Wirtschaftsblockade und unterstützte am 13. Januar 1991 einen Putsch lokaler pro-sowjetischer Kräfte, der aber erfolglos blieb. Am 19. August 1991 versuchte ein farblose Junta in Moskau einen Putsch gegen Glasnost und Perestroika und stellte Gorbatschow in seiner Sommerresidenz unter Hausarrest. Schon am 21. August wurde klar, dass die Mehrheit der Streitkräfte den Widerstand von Demonstranten und des Präsidenten der russischen Föderation, Boris Jelzin, gegen den Putschisten Janajew unterstützte. In der Folge übernahm der schwere Trinker Jelzin die Macht und ließ eine rasche, weitgehend unkontrollierte vollständige Auflösung der Sowjetunion zu. Im Oktober 1993 brach Jelzin die Verfassung und löste gewaltsam das Parlament auf, wobei 187 Menschen getötet wurden. Bis zu Jelzins Rücktritt am 31. Dezember 1999 befand sich Russland in einem stetigen Niedergang, der von ehemaligen kalten Kriegern im Westen mit unverhohlener Befriedigung gesehen wurde. Jelzin war zum Zeitpunkt seines Rücktritts noch unpopulärer als es heute François Hollande in Frankreich ist, der immerhin noch auf 13% Unterstützung in der Bevölkerung zählen darf. Er übergab die Präsidentschaft an einem Mann, den er selbst am 9. August 1999 zum Premierminister ernannt hatte, einen gewissen Wladimir Putin.

Putin, der am 26. März 2000 mit 53% im ersten Wahlgang auch die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen gewann, fand ein Land vor, das wirtschaftlich, militärisch und außenpolitisch nur noch ein schwacher Schatten der ehemaligen Sowjetunion war. In mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken gab es große russische Minderheiten oder andere Minderheiten, die nicht der jeweiligen staatstragenden Nationalität angehörten. Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion waren fast ausnahmslos nationalistisch und diskriminierten diese Minderheiten. Zu den wenigen Ausnahmen gehörten Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine. In einigen Fällen bildeten die nationalen Minderheiten in bestimmten Gebieten eine lokale Mehrheit. Schon 1990 hatten die Südosseten ihre Unabhängigkeit von Georgien erklärt, das seinerseits am 9. April 1991 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte. In einem Krieg 1991-92 setzten sich die Südosseten auf ihrem Territorium durch. Georgien erkannte die Sezession von Südossetien nicht an, auch Russland tat das zunächst nicht. Die Situation ging in einen gefrorenen Konflikt über, einen Waffenstillstand ohne Friedensschluss. Es wurde eine Friedenstruppe zu gleichen Anteilen aus Nordosseten, Südosseten, Russen und Georgiern installiert.

Nach der vom Westen unterstützten Rosenrevolution in Georgien versuchte der neu gewählte Präsident Micheil Saakaschwili 2004 erfolglos, Südossetien wieder unter Kontrolle zu bringen. Am 7. August 2008 eröffnete Saakaschwili dann eine Großoffensive gegen Südossetien, wobei am 8. August bei Artillerieangriffen auf Tshkinvali auch acht russische Friedenskräfte getötet wurden. Die georgische Offensive kam nie über Tshkinvali hinaus und die rusische Gegenoffensive ab dem 8. August führte innerhalb von fünf Tagen zu einer verheerenden Niederlage der georgischen Streitkräfte. Danach hat Russland Südossetien und Abchasien als unabhängige Staaten anerkannt. In Abchasien hatte es nach einem Krieg 1992-93 ebenfalls einen gefrorenen Konflikt mit Georgien gegeben.

Gegen Saakaschwili läuft seit dem 28. Juli 2014 in Georgien ein Verfahren wegen Machtmissbrauchs und Rechtsbeugung. Er hält sich jedoch seit dem Verlust der Macht in den USA auf, die ihn nicht ausliefern. Saakaschwili, der in Kiew studiert hat, hat im Dezember das Protestlager auf dem Maidan besucht, am 7. Dezember auf dem Maidan geredet und am 13. Februar 2014 den Maidan als Anfang vom Untergang des russischen Imperiums bezeichnet. Am 9. April berichtete die georgische InterPressNews unter Berufung auf den georgischen Offizier Tristan Tsitelashvili, dass vier der Scharfschützen, die im Februar auf dem Maidan auf Demonstranten und Polizisten geschossen hätten, unter dem Kommando Saakaschwilis gestanden haben. Tsitelashivili führte aus, das unter der vorhergehenden Regierung Georgiens Kräfte für solche Gelegenheiten ausgebildet worden seien und nannte die Namen von zwei in Kiew anwesenden Kommandeuren, Givi Targamadze und Gia Baramidze.

Einen weiteren gefrorenen Konflikt gibt es in der ehemaligen moldauischen Sowjetrepublik, wo die Region östlich des Flusses Dnistr, Transnistrien, am 16. August 1990 ihre Unabhängigkeit erklärte und nach bewaffneten Auseinandersetzungen 1992 auch durchsetzte. Die Mehrheit der Bevölkerung Transnistriens ist ukrainischer (28%) und russischer (26%) Abstammung. Auch dort sind derzeit russische Friedenstruppen stationiert. Russland hatte bis zum Maidan-Putsch einen ungehinderten Zugang durch die Ukraine nach Transnistrien, der seitdem aber mehrfach behindert wurde.

Die aus dem Zerfall der Sowjetunion resultierenden gefrorenen Konflikte beschränken sich nicht auf die Grenzen Russlands, wie man am Fall Transnistriens sieht und nicht auf Gebiete mit slawischsprachiger Mehrheit, wie man an Südossetien und Abchasien sieht. Ein Fall, wo weder das eine noch das andere Element zum Tragen kommt, ist das in der Mehrheit von Armeniern bewohnte Berg-Karabach (Nagorno Karabakh) innerhalb Aserbaidschans. Dort kam es nach einem Referendum am 10. Dezember 1991 ebenfalls zu einem Krieg, der am 12. Mai 1994 nach einem unter russischer Vermittlung zustande gekommenen Waffenstillstand in einen gefrorenen Konflikt überging.

Im Donbass entsteht nun ein weiterer gefrorener Konflikt. Im Prinzip erkennt das Minsker Protokoll vom 5. September 2014 zwar die Zugehörigkeit des gesamten Donbass zur Ukraine an, obwohl die Darstellung auf Wikipedia, es entspräche weitgehend dem 15-Punkte-Plan Poroschenkos vom 20. Juni 2014, etwas euphemistisch ist. De facto wird der Status quo jedoch fixiert, nachdem selbst das ukrainische Parlament am 16. September die Bildung lokaler Milizen im Donbass zugelassen hat und nachdem die Bedingungen des Minsker Memorandums vom 19. September 2014 die Gebietsgewinne der Separatisten praktisch garantieren. Im folgenden diskutiere ich die Anzeichen dafür, dass sich Kiew bereits mit einem dauerhaft gefrorenen Konflikt und dem Verlust großer Teile des Donbass abgefunden hat.

Die Entfremdung zwischen der Westukraine und dem Donbass

Es wird gern behauptet, die überwältigende Ablehnung der jetzigen Kiewer Regierung durch die Bevölkerung des Donbass habe mit der Dominanz der russischen Sprache in den Regionen Luhansk und Donezk zu tun. Zwar sind diese beiden Regionen außer der Krim tatsächlich die einzigen Oblaste, in denen sich bei der Volkszählung 2001 eine Mehrheit zu Russisch als Muttersprache bekannt hat, und zwar 68,8% in der Oblast Luhansk und 74,9% in der Oblast Donezk. Allerdings hat eine Umfrage 2012 auch ergeben, dass in der Gesamtukraine 40% Russisch als Muttersprache ansahen und 55% Ukrainisch, 5% konnten sich nicht entscheiden. Zudem ist seit 2004 durch eine Umfrage von KIIS bekannt, dass bei solchen Umfragen auch Leute Ukrainisch als Muttersprache angeben, die in ihren Familien zu Hause Russisch sprechen. Dazu passt, dass einer meiner ukrainischen Bekannten ausschließlich russischsprachig aufgewachsen ist und später aus nationalem Sentiment Ukrainisch gelernt hat. Mein westukrainischer Bekannter, dessen Muttersprache Ukrainisch ist, hat gleichwohl eine im Ausland lebende Russin geheiratet. Wenn er mit einem mir bekannten Litauer ein Gespräch führt, an dem ich nicht teilnehme, so tun die Beiden das auf Russisch, nicht Englisch, das sie beide ebenfalls beherrschen. Kurz gesagt wird in der Gesamtukraine etwa in genau so vielen Haushalten Russisch gesprochen wie Ukrainisch und Russisch ist die lingua franca, was immer die gegenwärtige Regierung darüber denkt.

Die Entfremdung zwischen dem Donbass auf der einen Seite und der Westukraine sowie der national gesinnten Kiewer Intelligenzia auf der anderen Seite ist kein Sprachenproblem. Die erste Ursache der Entfremdung ist wohl die Zeit des Holodomor, einer Hungersnot 1932-33 in der Sowjetunion, welche die Ukraine besonders stark betroffen hat. Diese Hungersnot hatte mehrere Ursachen, von denen eine die Zwangsrequirierung von Getreide bei gleichzeitigen Missernten war. Diese Requirierungen dienten hauptsächlich dem Aufbau einer sowjetischen Schwerindustrie. Große Teile dieser Schwerindustrie wurden im Donbass geschaffen.

Der nächste entscheidende Punkt ist die Rolle von Stepan Bandera. Bandera war 1941 die treibende Kraft bei der Formation des ukrainischen Nachtigall-Bataillons, das zusammen mit der Wehrmacht am deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 beteiligt war. Später war Bandera auch eine wichtige Figur der Ukranischen Untergrundarmee (UUA), deren militärischer Führer Roman Shukhevych war. Diese Armee kämpfte 1943-1948 hauptsächlich gegen Polen und die Sowjetunion, wobei es auch einige Scharmützel mit der Wehrmacht gab. Ab Mai 1944 wurden alle Aktionen gegen die Wehrmacht eingestellt und die UUA wurde von Nazi-Deutschland mit Waffen beliefert, nachdem die Front die Ukraine passiert hatte, aus der Luft. Schon 1943 hatte die UUA mit Massakern an Polen in Galizien eine Politik der ethnischen Säuberung verfolgt. Die UUA kämpfte auch gegen sowjetische Partisanen, die ihrerseits die Wehrmacht bekämpften. Nachdem die Sowjetarmee die Ukraine (zurück)erobert hatte, führte die UUA Terroranschläge gegen Lehrer und Postmitarbeiter der Sowjetunion durch. Auf Terror folgte Gegenterror und viele Westukrainer verloren ihr Leben durch die Hand des sowjetischen Geheimdienstes NKWD. Im Donbass gab es keinen anti-sowjetischen Widerstand. Dort wurden Leute wie Bandera und Shukhevych immer als Verräter und Feinde angesehen, so wie auch in Russland.

Das ist deshalb so wichtig, weil die gegenwärtigen Machthaber der Ukraine Bandera als Nationalhelden ansehen und den Holodomor als Völkermord. Der Rechte Sektor trägt die rot-schwarzen Farben der UUA. In Razliv in der Oblast Lwiw wurde im Oktober 2011 auf Initiative der Swoboda und mit Unterstützung von Abgeordneten der Vaterland-Partei von Julia Timoschenko die Straße des Friedens in Straße der Kämpfer des Nachtigall-Bataillons umbenannt. Der damalige Ministerpräsident der Ukraine, Mikola Asarow, verurteilte das. Heute sind diejenigen an der Macht, die solche Dinge unterstützt haben und das kommt im Donbass nicht gut an. Deshalb tragen die Kämpfer dort das ocker-schwarze Georgsband, das einerseits ein altes russisches Symbol aus dem 18. Jahrhundert ist, andererseits aber heute hauptsächlich mit dem Sieg gegen Hitler-Deutschland assoziiert wird. Ukrainische Nationalisten beschimpfen die Träger des Georgsbandes als “Kartoffelkäfer”. Die ukrainische Regierung hat angekündigt, das Georgsband als Symbol des Sieges über Nazideutschland durch die rot-schwarze Mohnblume zu ersetzen, die in Großbritannien als Erinnerung an die beiden Weltkriege getragen wird und eigentlich auf das Gedicht In Flanderns Fields von John McCrae aus dem 1. Weltkrieg zurückgeht. Man kann sicher davon ausgehen, dass sich ein rot-schwarzes Symbol des Angedenkens im Donbass nie durchsetzen wird.

Die Diskussion der letzten Jahre lässt sich folgendermaßen kurz zusammenfassen: Die Westukrainer und Kiewer Intellektuellen halten die Leute im Donbass für Lumpenproletariat, Kleinkriminelle und post-sowjetische Apparatschiks, die von einer subventionierten, maroden und veralteten Industrie leben. Die Erträge dieser angeblich maroden Industrie allerdings haben einige reiche Oligarchen erzeugt, darunter Rinat Achmetow. Die Leute im Donbass kontern, dass sie das Land ernähren würden. Da bis 2013 etwa 30% des ukrainischen Bruttosozialprodukts und 25% der ukrainischen Exporte aus den zwei Oblasten Luhansk und Donezk kamen, die nur 14,6% der Gesamtbevölkerung stellen, kann man dieses Argument wohl kaum als unsinnig abtun. Neuerdings argumentieren die Separatisten, wenn das Donbass subventioniert, marode und eine Last für die Ukraine wäre, sei es schwer verständlich, dass Kiew diese Region mit Gewalt an einer Sezession hindern wolle.

Gleichwohl sah sich noch Anfang April eine Mehrheit der Bevölkerung im Donbass als Ukrainer und wollte keine Abspaltung, auch wenn gleichzeitig 70% die Regierung in Kiew ablehnten (die Ablehnung war ähnlich groß in den Regionen Charkiw und Odessa). Nach der Belagerung und dem Artilleriebeschuss von Slawjansk, Donezk und Luhansk hat es derartige Umfragen nicht mehr gegeben. Man kann sich aber ziemlich gut vorstellen, in welche Richtung sich die Meinung im Donbass dadurch verschoben hat.

In Kiew führt man die Ablehnung durch die Bevölkerung des Donbass auf russische Propaganda zurück. Wenn ich selbst seit April 2014 in Donezk oder Luhansk gelebt hätte, ohne auch nur ein Wort russischer Propaganda zu hören, so wäre ich heute zwar nicht notwendigerweise ein Anhänger der Führung der Donezker oder Luhansker Volksrepublik, aber mit Sicherheit ein entschiedener Gegner der Kiewer Regierung. Ich würde es vehement ablehnen, dass diese Leute die Kontrolle über das Donbass gewinnen und eine Mauer an der ukrainisch-russischen Grenze errichten.

Das Donbass hat auch objektiv andere Interessen als die West- und Zentralukraine. Während es durchaus sinnvoll sein kann, die Wirtschaft im Raum Kiew und im Westen des Landes stärker auf die EU als Markt auszurichten, hat das Donbass seinen Hauptexportmarkt in Russland. Ein Abbau von Zollschranken zur EU auf Kosten einer Errichtung von Zollschranken zu Russland würde der Region stark schaden. Insgesamt hat die Bevölkerung des Donbass ein Interesse an gut nachbarschaftlichen Beziehungen zu Russland. Alle in Kiew derzeit mit der Macht assoziierten Parteien haben sich in den letzten Monaten durch eine extrem anti-russische Rhetorik hervorgetan und die Beziehungen zu Russland auf einen absoluten Tiefpunkt seit der Unabhängigkeit der Ukraine am 24. August 1991 gebracht. Man kann auch nicht argumentieren, dass diese Entwicklung auf die Annexion der Krim durch Russland zurückzuführen ist. Die extrem anti-russische Rhetorik war ein Hauptmerkmal des Maidan spätestens seit Januar 2014. Die auf dem Maidan vertretenen und durch den Putsch an die Macht gekommenen Politiker haben solche Rhetorik bereits vor dem Putsch gepflegt und auch die auf dem Maidan auftretenden ausländischen Politiker, einschließlich jene aus der EU, haben sich dort wiederholt antirussisch geäußert. Diese gesamte Entwicklung musste im Donbass als Bedrohung empfunden werden und die dadurch entstandene politische Situation wird noch heute so empfunden.

Die Parlamentswahlen und das Donbass

Die neueste Umfrage zu den Parlamenstwahlen am 26. Oktober von Gfk wirft ein Schlaglicht auf die gegenwärtige politische Situation, gerade weil sie am 9. Oktober unvollständig publiziert wurde. Zahlen werden nur für diejenigen Parteien angegeben, die in dieser Umfrage die 5%-Hürde überwunden haben. Das sind der Block Poroschenko (29,9%/49,4%), Timoschenkos Vaterland (8,7%/13,4%), die Radikale Partei von Oleh Liaschko (7,6%/12,6%), die Zivile Position von Grizenko (7,3%/12,1%) und die Volksfront von Jazenjuk, Turtschinow und Parubi (7.0%/11,6%), wobei die erste Prozentzahl jeweils das absolute Ergebnis ist und die zweite das relative Ergebnis nur unter diesen Parteien. Die zweite Zahl sagt also die Sitzverteilung in derjenigen Hälfte des Parlaments vorher, die nach dem Verhältniswahlrecht besetzt wird. Keine dieser Parteien vertritt die Interessen des Donbass oder gilt dort einer Mehrheit auch nur als akzeptabel.

An dieser Stelle muss die im Westen wenig bekannte Zivile Position diskutiert werden. Seinem Artikel vom 1.Oktober über die Wahlen hat der Glavcom-Journalist Pavel Vujets den Titel gegeben: „Andrei Zolotarev: Grizenko – das ist Liaschko für die Intelligenteren“. Dieser Artikel beginnt mit der Beobachtung, dass Wahlen unter den gegenwärtigen Bedingungen den Osten des Landes politisch diskriminieren und dass selbst in den „befreiten“ Gebieten des Donbass eine sehr geringe Wahlbeteiligung zu erwarten ist. Vujets führt weiter aus, dass es praktisch keine Opposition [zum Block Poroschenko] gäbe. Zwischen Poroschenko auf der einen Seite und Timoschenko, Liaschko, und Grizenko [sowie Jazenjuk, meine Anmerkung] auf der anderen gäbe es Meinungsverschiedenheiten nur über die Taktik, nicht in Richtungsfragen. Vujets diskutiert mögliche Probleme des personell sehr heterogenen Block Poroschenko nach den Wahlen, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Probleme eskalieren werden. Er hält aber auch fest, dass dieser Block wohl bei Weitem die meisten der Direktkandidaten stellen wird, wenn nicht sogar alle. Das würde dann nahezu eine Dreiviertelmehrheit ergeben.

Vujets, der offenbar ein Maidan-Anhänger ist, hält auch fest, dass die Politiker den Maidan als Konflikt zwischen der damaligen Regierung und der Opposition sehen würden, während es in Wahrheit ein vertikaler Konflikt zwischen Regierung und Gesellschaft gewesen sei, eine Meinung, der ich für die erste Phase des Maidan im November/Dezember 2013 völlig zustimme. Auch Vujets hält, wie die Glavcom-Journalistin Katerina Peshko, die jetzt anlaufende Lustration für ein Machtinstrument der Regierenden und nicht für das vom 2013er Maidan gewünschte Aufräumen mit der Korruption im Lande.

Um auf Grizenko (Anatoliy Hrytsenko) zurück zu kommen, so war dieser im ersten Kabinett Timoschenko Verteidigungsminister und ist im Militär seitdem nicht sehr angesehen. Er ist unter Anderem in den USA ausgebildet worden. Das Etikett „Liaschko für die Intelligenten“ erklärt Vujets so. Liaschko offeriere sehr einfache Lösungen für komplexe Probleme: Hängt oder erschiesst sie und alles wird gut. Das sei bei Grizenko kaum anders, der aber habe eine stabile Anhängerschaft, die über Großmütter in der Landbevölkerung hinausginge. Grizenko schlage eine militärische Lösung vor, wohl wissend, dass er den Preis für den Krieg nicht werde zahlen müssen. Er sei für einen Kampf bis zum bitteren Ende, ohne zu sagen, wie er diesen gewinnen wolle und was das kosten würde. Von einem ehemaligen Verteidigungsminister, der zum Niedergang der ukrainischen Armee beigetragen habe, sei das doppelter Populismus.

Katerina Peshko hat sich in einem Artikel vom 9. Oktober direkt den Wahlen im Donbass zugewandt. Sie findet, die führenden Parteien würden sich um diese Region nicht genug kümmern und hätten dort chancenlose Kandidaten aufgestellt. Sie diskutiert dann Wahlkreis für Wahlkreis die Direktkandidaten und kommt zu dem Schluss, dass auf diesem Wege Kandidaten ins Parlament gelangen könnten, die eine echte Opposition wären (und die sie nicht mag). Dabei würde es sich aber wohl nur um wenige Abgeordnete handeln, die keinen politischen Einfluss entfalten könnten.

Der neue Gouverneur der Oblast Donezk, der General Oleksandr Kikhtenko (dazu unten mehr), hat klargestellt, dass die Wahlen nur in den Bezirken stattfinden, die von Kiew kontrolliert würden. Dann müsse man weiter sehen. Der stellvertretende Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission (ZWK), Andrej Magera, sagte, dass die ZWK Wahlen nur in den Bezirken anerkennen werde, in denen es die Möglichkeit einer freien Meinungsäußerung gebe. Er meinte damit wohl, dass diese Möglichkeit in den von Kiew nicht kontrollierten Teilen des Donbass nicht bestehe. Nach den Angriffen auf Kandidaten und Abgeordnete in Odessa und Kiew darf man sich allerdings die Frage stellen, ob dort reguläre Wahlen stattfinden werden. Zudem wirft eine Wahl unter Vorbehalt generell die Frage auf, ob man von einem regulär zustande gekommenen Parlament wird reden können. Wenn die ZWK tatsächlich nach der Wahl angesichts bereits bekannter Ergebnisse der Wahlbezirke entscheiden sollte, welche Abgeordneten ihren Platz einnehmen dürfen und welche nicht, so kann man nur von einer offensichtlichen Manipulation des Wahlergebnisses reden. Zuvor hatte Magera die Entscheidung der ZWK verteidigt, auch in den Wahlbezirken Kandidaten zu registrieren, die nicht von Kiew kontrolliert würden. Täte man das nicht, so würde man diese Gebiete von vornherein für die Ukraine aufgeben. Zudem sagte er, dass viele Kandidaten Soldaten der „Anti-Terror-Operation“ (ATO) seien und dass ihre Zulassung ein Änderung des Wahlgesetzes durch das Parlament erfordere. Magera redet also einer Änderung des Wahlgesetzes weniger als drei Wochen vor dem Wahltermin das Wort.

Insgesamt muss man zu dem Schluss kommen, dass die Wahlen unter irregulären Bedingungen stattfinden und dass sie zu einer Marginalisierung der politischen Vertretung des Donbass im Parlament führen werden. Sie werden damit das Interesse der Bevölkerung des Donbass verstärken, sich endgültig von der Ukraine zu lösen.

Am 2. November wird es in der Donezker Volksrepublik und der Luhansker Volksrepublik lokale Wahlen geben, bei denen sich die abtrünnigen Teile der Oblaste Donzek und Luhansk auch eigene Parlamente geben. Diese Wahlen werden nach geltendem ukrainischem Wahlrecht organisiert. Zusammen mit der ukrainischen Parlamentswahl unter Ausschluss dieser Gebiete wird dadurch die politische Spaltung der Ukraine zementiert.

Der neue Gouverneur von Donezk

Am 10. Oktober hat Petro Poroschenko den Gouverneur der Region Donezk, Sergei Taruta, entlassen und durch den General Oleksandr Kikhtenko ersetzt, dem 2001 und dann wieder ab 2005 die Truppen des Innenministeriums unterstellt waren. Zuvor hatte Taruta mehrfach den Friedensplan von Poroschenko kritisiert. Das Fass zum Überlaufen gebracht haben könnte allerdings ein öffentlicher Brief, den Taruta an Putin zu dessen Geburtstag am 7. Oktober geschrieben hatte. Dieser Brief ist zwar in keiner Weise mit den Ausfällen des ehemaligen Außenministers Andrii Deshchytsia gegen Putin zu vergleichen, den Poroschenko daraufhin sofort entlassen hatte, er hat aber in der gegenwärtigen Situation sicherlich den Interessen der Ukraine und Poroschenkos geschadet.

Taruta selbst bezeichnet seinen Nachfolger praktisch als inkompetent. Außerdem sei Kikhtenko, der aus der Oblast Charkiw stamme, ein Außenseiter im Donbass und Außenseiter habe dort noch nie jemand gemocht. Allerdings hat Kikhtenko heute das Donbass als eine Gans bezeichnet, die goldene Eier lege, während Taruta in der Vergangenheit selbst vom Donbass als einer maroden, subventionierten Region geredet hatte. Man kann sich unschwer ausrechnen, welchen der Beiden die Leute dort eher mögen werden. Taruta beklagte sich auch darüber, dass Jazenjuk zum letzten Mal im Mai mit ihm telefoniert habe. Seitdem sei er vom Premierminister ignoriert worden. Wenn das so stimmt und ich nehme es an, ist es in der Tat angesichts der Situation bemerkenswert. Die Kiewer Regierung hat im Donbass Krieg geführt, ohne sich auf höchster Ebene mit der lokalen Administration zu koordinieren. Taruta war selbst nach dem Maidan-Putsch von Turtschinow als Gouverneur eingesetzt worden.

Der neue Gouverneur Kikhtenko hat angekündigt, sich mit dem größten lokalen Oligarchen Rinat Achmetow treffen zu wollen, den die extrem anti-russischen Kräfte in Kiew als Feind betrachten. Ferner hat er sich dafür ausgesprochen, Renten auch in den Gebieten zu zahlen, die derzeit nicht von Kiew kontrolliert werden. Desweiteren ist er bereit, mit Vertretern der “Donezker Volksrepublik” zu verhandeln, die von der Regierung Jazenjuk und von Poroschenko zuvor als “terroristische Organisation” bezeichnet worden war. Als strategisches Ziel hat er die Wiederherstellung der ursprünglichen Grenzen der Oblast bezeichnet. Dieses Ziel erscheint mir unrealistisch. Kiew hat nicht die Kräfte für eine militärische Lösung und Putin würde eine solche auch nicht zulassen. Im Ergebnis der Parlamentswahl wird es aller Voraussicht nach keinerlei Aussicht auf eine politische Lösung geben.

Der Konflikt wird einfrieren, zunächst im Winter buchstäblich, aber auch im übertragenen Sinne. Lösungen müssen für den immer noch umkämpften Flughafen von Donezk und das blockierte Mariupol gefunden werden. Möglich erscheint ein Kuhhandel, bei dem die Separatisten die Blockade von Mariupol aufheben und dafür den Flughafen von Donezk übernehmen können. Achmetow, der starke Interessen in Mariupol, aber auch in den von Separatisten kontrollierten Gebieten hat, könnte zum Bindeglied werden. Ein Problem mit dieser Lösung sind die erheblichen Verluste, welche die Kiewer Kräfte auch nach dem offiziellen Waffenstillstand am 5. September bei der Verteidigung des Flughafens hingenommen haben. Kikhtenko hat heute allerdings in genau diesem Punkt Verhandlungsbereitschaft angedeutet. Die freiwillige Aufgabe wird zu Protesten in Kiew führen. Andererseits werden sich die Verteidiger dort nicht langfristig halten können.

In jedem Fall sind abgesehen vom Donezker Flughafen und Mariupol die bewaffneten Auseinandersetzungen weitgehend abgeebbt und selbst der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat in Kiew erwartet für die kommende Woche eine völlige Einstellung der Kämpfe und die Einrichtung einer Pufferzone. Eine Reeskalation von Kiewer Seite ist angesichts der großen Probleme auf wirtschaftlichem Gebiet, der strategischen Niederlage von Ende August und des Zustands der ukrainischen Streitkräfte vor dem Winter nicht zu erwarten, zumal sich das Zeitfenster für Offensivoperationen nach der Parlamentswahl aus Witterungsgründen sehr schnell schließen wird. Im Frühjahr 2015 wird die Regierung vor ganz anderen Problemen stehen als demjenigen einer Rückeroberung des Donbass. Weite Teile des Donbass mit den wichtigsten industriellen Kernen sind zu einer Region geworden, die in absehbarer Zeit nicht unter die Kontrolle der Kiewer Zentralregierung zurückkehren wird.

Diese Situation ist von Poroschenko am 10. Oktober im Prinzip anerkannt worden. Das regionale Zentrum der von Kiew beherrschten Teile der Oblast Luhansk ist inzwischen in Sewerodonezk. Neuer Vorsitzender der regionalen Administration ist Gennadi (Hennadiy) Moskal, ein ausgesprochener Kritiker der Jazenjuk-Regierung, der sich von Timoschenkos Vaterland abgewandt und Poroschenko zugewandt hat und am 25. August aus der Vaterland-Partei ausgeschlossen wurde. Poroschenko sagte in Sewerodonezk auch, dass er zuvor die Region Donezk besucht und den Aufbau von drei Verteidigungslinien vor dem Winter angeordnet habe. Poroschenko hat systematisch diejenigen abgesetzt und verdrängt, die immer noch auf eine militärische Lösung drängen und wird nach der Parlamentswahl in der Lage sein, eine Regierung zu bilden, die einen eingefrorenen Konflikt akzeptiert.

Die Konsequenzen des eingefrorenen Konflikts

Statt einen Ausgleich mit der Ostukraine zu suchen, haben der Interimspräsident und Parlamentssprecher Turtschinow und die Regierung Jazenjuk versucht, ihre anti-russische Politik auch dort durchzusetzen, bis hin zum Einsatz militärischer Mittel. Wahlumfragen zeigen, dass nur 6-8% der Bevölkerung die Politik dieser Regierung unterstützen. Demgegenüber hatte bei der letzten Wahlumfrage vor dem Maidan-Putsch (24.1-2.2.2014, SOCIS) Janukowitschs Partei der Regionen eine Unterstützung von 29,2% und war damit die stärkste Einzelpartei. Für viele Ukrainer stand damals die Partei der Regionen für eine Politik des Ausgleichs. Eine solide Mehrheit will noch immer eine solche Politik und knüpft ihre diesbezüglichen Hoffnungen an den Block Poroschenko.

Der Bruch mit einer Politik des Ausgleichs hat zum Verlust der Krim und großer Teile des Donbass geführt und die ohnehin schon schwierige wirtschaftliche Situation der Ukraine verschärft. Wie schon oben dargelegt, verliert die Ukraine im Donbass eine Region, die bezüglich des Bruttosozialprodukts und der Exporte überdurchschnittlich produktiv war. Zudem hat sie die erheblichen Kriegskosten und einen Teil der Wiederaufbaukosten zu tragen, nämlich in den Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk, die sie noch beherrscht. Das wirtschaftliche Problem wird noch dadurch verschärft, dass es ein strukturelles ist. Die Ukraine, die ohnehin schon eine starke Energieabhängigkeit von Russland hatte und große Teile ihrer Exporteinnahmen für Gasimporte ausgeben musste, hat mit der Krim eigene Gasreserven und im Donbass den größten Teil ihrer Kohlereserven verloren. Mittelfristig wird die Ukraine ihren Energiebedarf nur decken können, indem sie umfangreichen Handel mit Russland und mit den Volksrepubliken von Donezk und Luhansk betreibt. Auch langfristig dürfte das die ökonomisch vernünftigste Lösung sein, obwohl es politischen Druck geben wird, die Energiebasis durch Import verflüssigten Erdgases zu diversifizieren- eine teure Lösung, die sich die Ukraine eigentlich nicht leisten kann.

Kurzfristig ist ein dramatisches Problem entstanden, denn für den kommenden Winter ist bisher weder die Gasversorgung noch die Kohleversorgung gesichert. Der Generaldirektor des größten ukrainischen Wärmekraftwerksbetreibers DTEK, Maxim Timchenko, schlägt Alarm und bemerkt, dass es seit August Gespräche mit den Regulierungsbehörden über den aus der ATO resultierenden Kohlemangel gebe, aber bisher keine Entscheidung. Entsprechende Importe würden etwa 3,7 Milliarden US$ pro Monat kosten, von denen aber nur 1,7 Milliarden US$ zur Verfügung stünden. Bei einem monatlichen Verbrauch von 2,8 Millionen Tonnen wären normalerweise 1,5 Millionen Tonnen Reserve vorhanden, derzeit aber nur 370'000 Tonnen. Die Situation sei kritisch. Da Kern- und Wasserkraftwerke schon bis zu ihrer maximalen Kapazität ausgelastet seien, werde es einen Strommangel von 15-20% geben, falls das Kohleproblem nicht gelöst werden könne. Ein Stromimport käme in erster Linie aus Russland in Frage. Über die Frage der Gasimporte wird Poroschenko nächste Woche in Mailand direkt mit Putin sprechen. Es wird angekündigt, die Gespräche als Ganzes würden schwierig werden, speziell in der Gasfrage sei man aber nahe an einer Lösung.

Selbst wenn es im Winter nicht zu Stromausfällen und entsprechend Verlusten in der Industrieproduktion kommen sollte, hat die Exportkraft der Ukraine unter dem Konflikt bereits erheblich gelitten. Die politische Entscheidung, keine Waffen und Zulieferteile für die Waffenproduktion mehr an Russland zu liefern, ist ökonomisch hochgradig problematisch, weil dadurch ein weiterer großer Teil der ukrainischen Exporte an das Land wegfällt, von dem man wird Energie kaufen müssen und bei dem man ohnehin bereits hoch verschuldet ist. Zudem gibt es für diese hoch spezialisierten Produkte keinen anderen Absatzmarkt, wie die New York Times am Beispiel des Flugzeugherstellers Antonow beschreibt.

Unter diesen Bedingungen verwundert es nicht, dass der Economist einen Staatsbankrott der Ukraine erwartet. Während der Internationale Währungsfond (IWF) noch davon ausgeht, die ukrainische Wirtschaft werde 2014 “nur” um 6,5% schrumpfen, geht der Economist bereits von 8% aus. Zudem werde die Verschuldung dieses Jahr auf 60% und nächstes Jahr auf 80% des Bruttosozialprodukts ansteigen, was schon deshalb ein Problem ist, weil ukrainische Auslandsanleihen bereits geraume Zeit als Ramsch gelten (CCC-Rating). Die im Mai versprochenen IWF-Hilfen von 17 Milliarden US$ über zwei Jahre seien aufgrund viel rosigerer Szenarien gewährt worden. Der IWF hat bereits von einem zusätzlichen Bedarf von 19 Milliarden US$ geredet, falls die Kämpfe nicht enden würden. Der Economist glaubt, zusätzliche Hilfen werden auch dann nötig sein, wenn der Konflikt einfriert. Hinzu kommt noch, dass die von Russland gewährten Kredite mit einer Klausel abgeschlossen wurden, die Russland das Recht gibt, eine vorzeitige Rückzahlung zu verlangen, falls die Verschuldung über 60% des Bruttosozialprodukts steigt. Der Economist empfiehlt daher eine geordnete Restrukturierung der Schulden, nimmt aber an, dass die Ukraine das vermeiden werde, weil entsprechende Verhandlungen mit Russland zu demütigend wären. Der Preis wäre eine noch höhere Verschuldung beim IWF, welcher die Ukraine wohl kaum in diesem Winter wird fallen lassen. Diese Schulden aber könne die Ukraine langfristig nicht bedienen und es werde irgendwann zum Bankrott kommen, der umso schmerzhafter sein werde, je länger er hinausgezögert würde.

Zusammenfassend kann man sagen, dass der Versuch des Westens und der Regierung Jazenjuk, die Ukraine völlig aus ihren Abhängigkeiten von Russland zu lösen, gründlich und unwiderruflich gescheitert ist. Diese Politik war mit sehr hohen Kosten für die Ukraine selbst, den Westen und Russland (in dieser Reihenfolge) verbunden. Strategisch gesehen hat das eigentlich schwächere Russland die Auseinandersetzung gewonnen. Die zuvor langfristig heikle Situation der russischen Schwarzmeerflotte ist mit der Annexion der Krim bereinigt. Mit den Kohlegebieten des Donbass und der Spaltung dieses Gebiets hat Russland ein Faustpfand, das ihm Einflussmöglichkeiten auf Kiewer Regierungsentscheidungen bietet, selbst wenn diese Regierung anti-russisch eingestellt ist. Die schon zuvor starke Energieabhängigkeit der Ukraine von Russland ist nun erdrückend. An außenpolitischer Glaubwürdigkeit haben sowohl Russland als auch der Westen verloren, der Westen aber ungleich stärker.

Die strategische Niederlage des Westens

Schon im November 2013 kam EurActiv zu dem Schluss, die EU-Kommission unter José Manuel Barroso und die litauische Ratspräsidentschaft hätten in Bezug auf den EU-Assoziierungsvertrag mit der Ukraine ein Nullsummenspiel angestrebt, in dem entweder die EU oder Russland verlieren musste. Dem kann man kaum widersprechen. Zu dieser Zeit schloss Barroso ein Drei-Parteien-Gespräch mit der Ukraine und Russland über die Konsequenzen des Abkommens kategorisch aus. Seit dem 16. September 2014 ist klar, dass der wirtschaftliche Teil des Abkommens bis zum 1. Januar 2016 auf Eis liegt, eben weil eine Übereinkunft mit Russland aus wirtschaftlichen Gründen unabdingbar ist. Dieses Argument von Janukowitsch hat sich Poroschenko inzwischen zu eigen gemacht. Es ist auch daran zu erinnern, dass Janukowitsch im November 2013 die Unterzeichnung des Abkommens nicht aufheben, sondern aufschieben wollte. Was die USA betrifft, lässt das am 9. Februar 2014 auf der BBC-Homepage veröffentlichte Protokoll des Telefongesprächs zwischen Nuland und Botschafter Pyatt keinen Zweifel daran, dass die USA einen Regime-Wechsel in der Ukraine anstrebten und Jazenjuk als Premierminister installieren wollten. So kam es dann ja auch, aber Jazenjuk ist als Premierminister in der ukrainischen Bevölkerung durchgefallen, wie die Wahlumfragen des letzten Monats zeigen. Inzwischen ist auch klar, dass dieses von BBC leicht, aber nicht verfälschend, verkürzte Gespräch authentisch ist.

Poroschenko war zu keinem Zeitpunkt der vom Westen bevorzugte neue starke Mann der Ukraine, wie es Klitschko für die EU und Jazenjuk für die USA war. Das hat drei wichtige Gründe. Erstens ist Poroschenko aufgrund seines Reichtums und seiner unabhängigen Medienmacht für sein politisches Projekt nicht auf Unterstützung des Westens angewiesen und damit kaum beeinflussbar. Zweitens hat er in der Vergangenheit immer pragmatisch gehandelt und sich als kompromissfähig erwiesen. Ein solcher Pragmatismus bedeutet außenpolitisch, dass die Ukraine das Interesse sowohl des Westens als auch Russlands an sich selbst ausnutzt, statt sich völlig von nur einer der beiden Seiten abhängig zu machen. Drittens hat Poroschenko private wirtschaftliche Interessen in Russland und im russischen Einflussbereich.

Selbst wenn Poroschenko tatsächlich so anti-russisch wäre, wie er sich in den letzten Monaten bisweilen aus propagandistischen Gründen gegeben hat, müsste er, wie oben dargelegt, jetzt schon aus wirtschaftlichen Gründen eine Verständigung mit Russland suchen. Hinzu kommt, dass Russland wegen des Abschusses von MH17 über erhebliches politisches Erpressungspotential gegenüber Kiew verfügt. Dass Russland diese Trumpfkarte in der Hand hält, hat Putin zwischen Mitte August und Mitte September über die russischen Medien für jeden überdeutlich werden lassen, der es wissen wollte. Er wird sie nicht ausspielen, wenn Kiew und der Westen den eingefrorenen Konflikt akzeptieren und mittelfristig die Sanktionen gegen Russland wieder aufheben. Beides wird wohl geschehen. Ohnehin weiß inzwischen jeder politische Analyst und jede Regierung weltweit mit hinreichender Sicherheit, wer MH17 abgeschossen hat. Klar ist auch, dass es ein verzweifelter Versuch war, den Westen zu einem militärischen Eingreifen oder wenigstens umfangreicher Unterstützung der Kiewer Kräfte zu bewegen. Dieser Zusammenhang an sich ist eine wichtige Komponente der strategischen Niederlage des Westens.

In den letzten Monaten mussten die pro-westlichen Kräfte in der Ukraine erleben, dass die gleichen Politiker, die sie vor dem Putsch wortreich und auch logistisch unterstützt hatten, keine militärische oder hinreichende finanzielle Hilfe folgen ließen als die Lage kritisch wurde. Inwiefern das auch daran lag, dass die an die Macht gekommenen Kräfte selbst fast jeden Rat aus dem Westen abwiesen, sei dahingestellt. Subjektiv glaubten Turtschinow, Jazenjuk und Parubi jedenfalls, dass der Kampf um die Macht ihr Tun diktierte und sie hatten dafür Unterstützung erwartet. Die ganze Welt sah dabei zu, wie diese Unterstützung ausblieb. Pro-westliche Kräfte in anderen Ländern, die sich zwischen der westlichen und russischen Einflusssphäre befinden, werden daraus ihre Schlussfolgerungen gezogen haben, wie es zum Beispiel im Falle Georgiens bereits deutlich wird. In der Ukraine ist 2014 die Politik des immer weiteren Zurückdrängens der russischen Einflusssphäre gescheitert und zwar noch deutlicher als 2008 in Georgien. Diesmal dürfte dieses Scheitern irreversibel sein.

Die USA haben bereits begonnen, ihre Verluste zu begrenzen, was man daran erkennen kann, dass sie zum großen Bedauern Jazenjuks und Parubis nicht an den Minsker Gesprächen über eine Waffenstillstand mit den Separatisten teilgenommen haben. Neben der Aussichtslosigkeit der westlichen Position dürfte dabei auch eine Rolle spielen, dass sich die USA im Nahen Osten einer noch größeren strategischen Niederlage gegenüber sehen. Dort scheitert gerade die Luftschlagdoktrin und die USA werden auf absehbare Zeit keine Bodentruppen in einer Stärke mobilisieren können, die den IS als Machtfaktor ausschalten könnte. Dagegen ist die Ukraine, in der die USA außer der Feindschaft ihrer Sicherheitsstrukturen gegen Russland und einem möglichen Absatzmarkt für verflüssigtes Erdgas eigentlich kaum Interessen haben, kein bedeutender Schauplatz.

Die Situation der EU ist prekärer, denn sie hat in der Ukraine echte Interessen und bezüglich der Stabilität der Ukraine sogar Sicherheitsinteressen. Sowohl die EU-Kommission als auch die nationalen Regierungen der wichtigsten EU-Länder haben spätestens seit Januar 2014 katastrophale strategische Fehler gemacht, die schon zu diesem Zeitpunkt klar erkennbar waren und zum Beispiel in den damals noch existenten Leserforen deutscher Online-Medien auch diskutiert wurden. In weniger als einem Jahr ist es den Politikern der EU gelungen, sich bei ihren Anhängern in der Ukraine unmöglich zu machen, eine strategische Partnerschaft zum beiderseitigen Vorteil mit Russland zu zerstören und sich an der Ostgrenze der EU ein formidables Problem mit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Dimensionen zu schaffen.

Haben unsere Politiker daraus etwas gelernt? Wenn man die jüngsten Äußerungen Gaucks, Merkels und von der Leyens als Maßstab nimmt, nicht das Geringste. Unser politisches Personal ist auch nicht besser als dasjenige der Ukraine. Die Unfähigkeit fällt nur weniger ins Gewicht, weil wir so reich sind und im Gegensatz zur Ukraine andere funktionsfähige Institutionen haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden