Ein Macron-Leak zuviel

Trau-schau-wem Emmanuel Macrons Kampagne macht darauf aufmerksam, das harmlose Dokumente gestohlen und veröffentlicht wurden. Wie kann man das verstehen?

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Heute überraschte mich das Schweizer Radio DRS mit der Geschichte, dass Unbekannte tausende oder zehntausende Dokumente der Macron-Kampagne gestohlen und in der vergangenen Nacht ins Internet gestellt hätten. „Kompromittierendes Material ist bisher keins aufgetaucht“ erfuhr ich, aber „sie sollen ihrem Diebesgut auch gefälschte Dokumente beigemischt haben, um das französische Publikum zu verunsichern.“ Bekannt sei auch nicht, von wem das Material stamme. „Verschiedene Spezialisten für Internet-Sicherheit sagen aber übereinstimmend, die Spuren führten nach Russland.“

Diese Geschichte ist nicht plausibel. Angenommen, russische Geheimdienste, oder wer auch immer aus den Reihen der Unterstützer Le Pens, hätte Dokumente erbeutet und diese hätten sich als harmlos erwiesen. Er würde nicht veröffentlicht haben. Nehmen wir weiter an, er habe das Material durch Fälschungen erweitert und beides zusammen veröffentlicht. Die Fälschungen wären dann sicher inkriminierend gewesen. An der Geschichte, so wie sie bei DRS und in anderen Mainstream-Medien dargestellt wird, stimmt irgendetwas nicht. Können wir herausfinden, was es ist?

Wenn man „Macron“ und „Leak“ googelt, findet man ziemlich schnell heraus, dass das Leak, um das es in der gegenwärtigen Auseinandersetzung eigentlich geht, schon vom Mittwoch, dem 3. Mai stammt und nicht aus der Nacht vom 5. auf den 6. Mai. Wenige Stunden vor der letzten TV-Debatte zwischen Le Pen und Macron veröffentlichte ein anonymer Nutzer auf 4chan zwei Dokumente, die belegen sollen, dass Emmanuel Macron am 4. Mai 2012 einen Kontovertrag mit der La Providence LLC, Nevis (Cayman-Inseln) abgeschlossen hat. Dazu muss man wissen, dass Emmanuel Macron damals noch für die Investmentbank Rothschild & Cie arbeitete. Dort fädelte er die Übernahme der Kindernahrungssparte des Pharmakonzerns Pfizer durch Nestlé ein, für die er später, als er schon für die Regierung Hollandes arbeitete, einen Bonus von etwa 1 Million Euro kassierte.

Le Pen wusste auffallend früh von diesem ersten Leak und konfrontierte Macron im TV-Duell mit der Bemerkung, man würde doch hoffentlich in der Zukunft nicht noch herausfinden, dass Macron ein Geheimkonto auf den Bahamas unterhalte. Macron bezeichnete das als Verleumdung und erstattete Anzeige gegen Unbekannt. Mehrere große französische Zeitungen berichteten am 4. Mai eher Macron-sympathisch, aber sie berichteten. Als Beispiel sei hier der Artikel der seriösesten dieser Zeitungen, Le Monde, verlinkt. Der Grundtenor der öffentlichen Berichterstattung war, dass die Dokumente in Zweifel gezogen worden seien und es sich laut Macrons Kampagne um grobe Fälschungen handle. In deutschen Medien war das Echo eher schwach und bezog sich nicht auf das Leak selbst, sondern auf die Äußerung Le Pens, wobei herausgestellt wurde, dass Le Pen später zugeben musste, sie habe keine Beweise.

Die Argumente, die angeblich deutlich für eine Fälschung sprachen, sind inzwischen auf gotnews.com diskutiert worden. Ein Artefakt, das als grobe Fälschung der Photokopie bezeichnet wurde, ist in höher aufgelösten Dokumenten verschwunden, die inzwischen gepostet wurden. Die ursprünglichen Links auf 4chan wurden von der französischen Regierung blockiert, aber natürlich existieren die Archiv-Versionen nach wie vor.

Was ist von der ganzen Sache zu halten? Tatsächlich sind die „unabhängigen“ Internet-Medien, welche das erste Leak diskutieren und verbreiten, ideologisch als Le Pen nahe stehend zu bezeichnen und ihnen wird mit dem Begriff „rechtspopulistisch“ nicht zu nahe getreten. So ist zum Beispiel gotnews.com eine Seite von Charles Johnson, der wegen einer Twitter-Botschaft, die man als Mordaufruf lesen konnte, lebenslang von Twitter gesperrt ist. Der oben zitierte Artikel auf gotnews.com ist unter dem Pseudonym Jessica Gomez von jemandem geschrieben, der vorgibt, für „eines der drei großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen“ zu arbeiten, was verdächtig wirkt (die Gastautorin, wenn es eine solche gibt, hätte ja wenigstens den Namen des Unternehmens angeben können). Zudem wird im Artikel Rothschild & Cie falsch buchstabiert (ohne ‚h‘), was bei einem Spezialisten einer Wirtschaftsprüfungsfirma ein eher unwahrscheinlicher Rechtschreibfehler ist.

Andererseits ist die Geschichte, die in diesem Leak verbreitet wird, eben auch plausibel und bisher nicht widerlegt. Man kann nicht von vornherein ausschließen, dass sie wahr ist, nur weil sie von den falschen Leuten verbreitet wird. Diese haben, im Gegensatz zu den „richtigen“ Leuten, ein Interesse an ihrer Verbreitung. Interessant ist jedenfalls ein Punkt des gotnews.com-Artikels, der unbestreitbar ist: Emmanuel Macron unterhält einen Satz sehr verschiedener Unterschriften von sich selbst. Er ist ein Unterschriften-Chamäleon. Das lässt meines Erachtens nicht auf einen geradlinigen Charakter schließen.

Was ist nun mit dem Leak von letzter Nacht? Es wurde nicht über Wikileaks veröffentlicht und die Öffentlichkeit erfuhr zunächst durch die Macron-Kampagne davon. Die Wahlkommission nutzte den Anlass, um darauf hinzuweisen, dass die Verbreitung von Falschinformationen zur Beeinflussung von Wahlen strafbar sei. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Man könnte das ja auch als einen Versuch ansehen, die weitere Diskussion des ersten Leaks in den Medien so kurz vor der Stichwahl zu blockieren. Wenn so etwas in der Türkei oder in Russland passiert wäre…

Cui bono? Es ist schwer zu sehen, wie das zweite Leak Le Pens Seite irgendetwas nutzen könnte. Der Wust belangloser Dokumente verdünnt die Wirkung des ersten Leaks, indem es die Öffentlichkeit mit Material ablenkt, das eben nicht kompromittierend ist. Das zweite Leak ist eher geeignet, Anti-Le-Pen-Wähler zu mobilisieren, als mögliche Macron-Wähler zu bewegen, zu Hause zu bleiben. Es nutzt der Seite, welche die Öffentlichkeit darauf hingewiesen hat und Zugang zu allen Dokumenten hatte, ohne dafür mehrere Netzwerke der Macron-Kampagne hacken zu müssen. Die wahrscheinlichste Erklärung des zweiten Leaks ist daher, dass es aus der Macron-Kampagne selbst stammt.

Kann man aber diese Interpretation als wirklich gesichert ansehen? Nicht unbedingt. Möglich ist immerhin auch, dass einige Leute intelligent genug waren, mehrere Netzwerke zu hacken und unbedarft und eitel genug, das Material kurz vor der Stichwahl ins Netz zu stellen (und die Macron-Kampagne darauf hinzuweisen), obwohl das propagandistisch gesehen völlig unsinnig ist. Wahrscheinlich ist dieses Szenario nicht, aber eben auch nicht auszuschließen. Sicher ausschließen kann man allerdings die Interpretation von DRS, es handele sich beim zweiten Leak um ein von russischen Geheimdiensten initiiertes. Diese Dienste beherrschen die Grundrechenarten von Desinformation und Propaganda und hätte etwas so Stümperhaftes sicher nicht getan.

Es sieht also so aus, dass dieser Artikel nicht, wie vom Leser erwartet, mit einer klaren Aussage enden wird. Es tut mir leid, aber ich kann es nicht einfacher machen.

Hat dieser Artikel trotzdem eine Aussage? Ich denke schon, nur ist es keine darüber, ob Emmanuel Macron nun ein karibisches Konto zu Zwecken der Steuerhinterziehung unterhalten hat. Diese Geschichte lehrt uns, dass es selbst mit einer eigenen Internet-Recherche und unter Abwägung der von beiden Seiten ins Feld geführten Fakten und Argumente schwierig sein kann, Vorgänge zu interpretieren. Die politische Welt ist undurchschaubar geworden und die Parteinahme der Medien trägt zu dieser Undurchschaubarkeit bei. Es wäre Journalisten eben schon möglich, über den Wahrheitsgehalt der beiden ursprünglich geleakten Dokumente zur Geschäftsbeziehung von Emmanuel Macron mit La Providence LLC mehr herauszufinden. Nur ist es so, dass eine Seite, die Mainstream-Medien, von vornherein davon ausgeht, dass diese Dokumente gefälscht sind oder, falls sie es nicht sein sollten, das angesichts der Konsequenzen lieber nicht wissen will. Die andere Seite, die vorgeblich unabhängigen „alternativen Medien“, geht von vornherein davon aus, dass die Dokumente echt sind. In diesem Propagandakrieg bleibt für die Wahrheit kein Platz mehr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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