Es ist an der Zeit

Covid-19 Eine Erklärung führender Epidemiologen fordert die Rückkehr zur Normalität, verbunden mit einem gezielten Schutz für gefährdete Gruppen.

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Ein Elefant steht im Raum der Corona-Diskussionen und die bezahlten Journalisten mühen sich geflissentlich, ihn nicht zu bemerken. Dieser Elefant ist die Great Barrington Erklärung. Sie wurde von zwei führenden Epidemiologen und einem Forscher auf dem Gebiet der evidenzbasierten Gesundheitspolitik an den Universitäten Harvard, Oxford und Stanford initiiert, Martin Kulldorf, Sunetra Gupta und Jay Bhattacharya. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Blogbeitrags ist sie von über 200‘000 Menschen unterzeichnet worden, davon über 6‘700 Wissenschaftlern auf den Gebieten der Medizin und Gesundheitspolitik und über 14‘000 praktizierenden Ärzten. In der Erklärung wird argumentiert, dass die gegenwärtige Corona-Politik mehr Schaden als Nutzen stiftet. Nach allem, was wir inzwischen über Covid-19 wissen, sollte die Gesellschaft zur Normalität zurückkehren und sich auf den Schutz gefährdeter Menschengruppen konzentrieren. Sie sollte Herdenimmunität anstreben, die langfristig ohnehin die einzige Lösung des Problems ist. Alltagstaugliche Hygienemaßnahmen, wie häufiges Händewaschen und Zuhausebleiben erkrankter Personen reichen für die Allgemeinbevölkerung aus.

Im Folgenden stelle ich zunächst die Initiatoren der Erklärung vor und gehe dann auf die Gegenargumente ein, die in deutschen Medien bereits vorsorglich in Stellung gebracht werden – einerseits, weil sich die Great Barrington Erklärung möglicherweise nicht dauerhaft totschweigen lässt und andererseits, weil der Corona-Politik und ihrer offiziellen Begründung auch so schon zunehmender Widerstand aus Kreisen der Wissenschaft und Medizin entgegenschlägt.

Martin Kulldorf

Martin Kulldorf hat einen Bachelor-Abschluss der Umeå-Universität Schweden (1984) in Mathematischer Statistik und einen Masterabschluss in Unternehmensforschung der Cornell University (1986). Seine 1989 abgeschlossene Doktorarbeit ebenfalls an der Cornell-Universität wurde vom bekannten Wahrscheinlichkeitstheoretiker David Heath betreut. Von 1989-1995 hatte er eine Statistikprofessur an der Universität Uppsala inne und wechselte dann in die Biometrie, zunächst am National Cancer Institute der USA. Die Universität Connecticut berief ihn 1998 auf eine Professur für Gemeinschaftsmedizin. Seit 2003 ist er an der Medical School der Harvard University (Ambulante Pflege und Prävention), seit 2009 heißt sein Gebiet Bevölkerungsmedizin. Er ist einer der weltweit führenden Experten, was die adäquate Antwort auf Epidemien betrifft.

Von 2008-2009 war er Mitglied der Beratergruppe der US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zum Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken. Dabei ging es um die Impfstoffsicherheit. Für die Periode 2018-2022 ist er Mitglied der Beratergruppe der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA, Zulassungsbehörde für Medikamente) zu Fragen der Medikamentensicherheit und des Risikomanagements. Bereits 1997 hatte ihn die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihre Beratergruppe für Krankheitskartierung berufen. Das EU-Forschungsprojekt ADVANCE zur zeitgerechten und evidenzbasierten Analyse von Impfeffekten (2014-2019) hatte ihn in ihre wissenschaftliche Beratungsgruppe berufen. Er ist Mitbegründer der International Society for Disease Surveillance (2005).

Zwei seiner Forschungsprojekte 2016-2020 werden von den CDC finanziert, eines zur Impfstoffsicherheit und eines zu neuen Strategien der Detektion von Infektionsausbrüchen im Gesundheitssektor. Auch die FDA finanziert zwei seiner Projekte zu Sentinel-Systemen (Frühwarnsystemen) in der Medikamentensicherheit. Er hat die in 186 Ländern genutzte Software SaTScan zur geographischen Verfolgung von Krankheitsclustern und Früherkennung von Krankheitsausbrüchen entwickelt.

Sunetra Gupta

Sunetra Gupta wurde 1965 in Kolkata (Indien) geboren. Sie hat sich einen Namen sowohl as Epidemiologin als auch als Romanautorin gemacht. Gedichte von Rabindranath Tagore hat sie aus dem Bengali ins Englische übersetzt. 2009 erhielt sie den Rosalin Franklin Award der Royal Society führ ihre Arbeiten zur Diversität von Krankheitserregern, die anfangs kontrovers waren, inzwischen aber weltweit anerkannt sind. Ihre neuere Forschung beschäftigt sich unter anderem mit der Verbreitung von Hepatitits B und der Immunität dagegen in afrikanischen Ländern, mit dem längerfristigen Einnisten von Streptokokken-Stämmen aus Impfstoffen im Organismus, mit der geografischen Epidemiologie der Sichezellanämie in Indien und mit einem neuen Ansatz zur Entwicklung von Grippeimpfstoffen. Sie hat einen Abschluss der Princeton University (1987) und einen Doktorgrad der University of London (1992). Sie ist Professorin für Theoretische Epidemiologie an der Universität Oxford. Ihre Homepage zur Evolutionären Ökologie von Infektionskrankheiten ist wirklich einen Besuch wert. Ihr Software-Paket MANTIS (in R geschrieben) bietet eine breite Palette von Funktionen für die Zeitreihenanalyse und –simulation von Epidemien an. Es geht auf ein von ihr 1998 als Erstautorin in Science publiziertes Modell zurück.

Jay Bhattacharya

Jay Bhattacharya hat seine ersten Abschlüsse als Bachelor und Master of Arts an der Stanford University erhalten, wo er 1997 auch einen Doktorgrad in Medizin erwarb. Drei Jahre später erwarb er einen zweiten Doktorgrad auf dem Gebiet der Ökonomie. Seit 2001 ist er Professor an der Medical School der Stanford University, wo er als Direktor dem Program on Medical Outcomes (etwa: Programm für evidenzbasierte Medizin) und dem Zentrum für die Demographie und Ökonomie von Gesundheit und Altern vorsteht. Er erforscht die Beschränkungen, denen gefährdete Bevölkerungsgruppen bei Entscheidungen unterliegen, die ihre Gesundheit betreffen. Zudem befasst er sich mit Effekten politischer Maßnahmen, mit denen gefährdeten Bevölkerungsgruppen geholfen werden soll. Er hat ein Buch über die ursachenspezifische Mortalität von Medicare-Empfängern geschrieben. Einige seiner meistzitierten Artikel beschäftigen sich mit der Mortalität in Krankenhäusern. Spektakulär ist zum Beispiel ein Artikel von 2007, der nachwies, dass Arbeitszeitbeschränkungen für medizinisches Personal die Mortalität in Krankenhäusern signifikant reduzierten, besonders bei Infektionskrankheiten. Im Zusammenhang mit Covid-19 ist wohl vor allem seine Beteiligung an der Seroprävalenzstudie vom 10.-11. April in Los Angeles bekannt. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Los Angeles nur 8430 bestätigte positive SARS-Cov2-Tests. Es wurden aber 4,65% seropositive Proben gefunden, was nach der Hochrechnung etwa 367‘000 infizierten Personen entsprach.

Kann man auf Impfstoffe warten?

Aus den wissenschaftlichen Biographien von Martin Kullmann und Sunetra Gupta geht hervor, dass sie beide sehr viel über die Entwicklung, Sicherheit und Leistungsfähigkeit von Impfstoffen wissen. Der folgende Satz der Great Barrington Erklärung hat daher besonderes Gewicht: „Die Beibehaltung dieser Maßnahmen bis ein Impfstoff zur Verfügung steht, wird irreparablen Schaden verursachen, wobei die Unterprivilegierten unverhältnismäßig stark betroffen sind.“ Auch der folgende Satz ist bemerkenswert: „Wir wissen, dass alle Populationen schließlich eine Herdenimmunität erreichen – d.h. den Punkt, an dem die Rate der Neuinfektionen stabil ist. Dies kann durch einen Impfstoff unterstützt werden, ist aber nicht davon abhängig.“. Die beiden Epidemiologen kennen sich auch mit dem Phänomen der Herdenimmunität sehr gut aus, so dass auch diesem Satz viel Gewicht beizumessen ist.

Die Forderungen der Great Barrington Erklärung entsprechen einer Kehrtwende in der Politik gegenüber Covid-19. Die Argumente stellen in Frage, was die meisten Journalisten und Politiker über Monate wiederholt haben. Es verwundert daher kaum, dass die Erklärung auf ein Schweigekartell trifft, während gleichzeitig in anderen Zusammenhängen Argumente ins Feld geführt werden, die man einsetzen kann, falls die Erklärung doch breiter in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Diese Argumente sind nicht neu. Sie sind auch nicht besser geworden. Durch ihre Wiederholung hofft diese Seite aber, ihre Politik aufrechterhalten zu können, obwohl ihre eigenen Vorhersagen seit dem Frühjahr sich als konsistent falsch erwiesen haben und trotzdem die hohen Zahlen positiver Tests nicht hohen Zahlen von Hospitalisierungen und Sterbefällen entsprechen.

Vor allem zwei Argumente werden noch vorgebracht. Das eine ist das „Präventionparadox“. Die Covid-19-Pandemie sei nur deshalb viel glimpflicher verlaufen als zunächst angekündigt, weil es so viele Maßnahmen gegeben habe. Nun bekomme man keine Anerkennung dafür, weil ja nichts Schlimmes passiert sei. Dieses Argument hat ein wichtiges Charakteristikum einer Verschwörungstheorie – es scheint nicht widerlegbar zu sein. Wenn Covid-19 viel weniger schwer ist, als in der ersten Panik behauptet, so ließe sich das nicht nachweisen, weil es ja die Maßnahmen gab. Das entspricht dem „Elefantenparadox“. Ein Mann steht auf dem Alexanderplatz und klatscht ständig in die Hände. Ein Passant fragt ihn, was er da tue. Er vertreibe die Elefanten. Da seien aber gar keine Elefanten, bemerkt der Passant. „Sehen Sie!“ sagt der Mann. Scheinbar kann man ihn nicht widerlegen, obwohl der gesunde Menschenverstand einem sagt, dass er irre ist. Bei Covid-19 liegen die Dinge etwas anders, wie ich gleich zeigen werde.

Das zweite Argument ist die drohende Überlastung des Gesundheitswesens, wenn man eine Strategie der Herdenimmunität verfolgen würde. Dieses Argument wird sogar in der gegenwärtigen Situation vorgebracht, um neue Maßnahmen zu rechtfertigen, obwohl die Intensivstationen nachweislich derzeit zur Hälfte unbelegt und nur zu 1,5% ihrer Kapazität mit Covid-19-Patienten belegt sind. Auf den Versuch, das wegzudiskutieren gehe ich weiter unten auch ein.

Das „Präventionsparadox“ passt nicht zu den Daten

Covid-19 hat sich nicht annähernd zu der bedrohlichen Pandemie entwickelt, die im März und April vorhergesagt wurde. Dass in Afrika der Schaden durch Anti-Covid-19-Maßnahmen viel größer ist, als derjenige durch das Virus, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Es folgt, dass die Regierungen von Tansania und Burundi bei der Ausweisung der WHO-Vertreter, die mit öffentlichen Verlautbarungen auf schärfere Maßnahmen drängten, völlig Recht hatten. Aber auch in Ländern, die stärker betroffen sind, sind die im Frühjahr behaupteten Katastrophenszenarien nicht eingetroffen.

Einige wenige Länder haben kaum Maßnahmen ergriffen oder doch nur recht milde, melden aber keine höheren Sterbefallzahlen. Das wird gern wegdiskutiert – es handele sich um Diktaturen. Nun kann man Letzteres von Japan und Taiwan kaum behaupten, aber auch bei den Diktaturen verfängt das Argument nicht. Man kann zwar die Zahl der Sterbefälle um einen Faktor 2 oder 4 niedriger angeben, als sie ist, so wie man aus einer knapp gewonnenen Wahl eine hoch gewonnene oder aus einer knapp verlorenen Wahl eine knapp gewonnene machen kann. Man kann aber keine katastrophale Sterbewelle verheimlichen. Nicht einmal die Opposition hat in Belarus behauptet, dass es eine solche gegeben habe – und sie hätte ein sehr großes Interesse gehabt, auch die Manipulation dieser Zahlen zu beweisen.

Das „Präventionsparadox“ passt aber nicht einmal zu den Daten in den Ländern, die Maßnahmen ergriffen haben. Bekannt ist, dass der exponentielle Anstieg der Infektionszahlen in Deutschland und der Schweiz deutlich vor dem Lockdown gebrochen war. Der eigentliche Widerspruch ergibt sich allerdings für die Wiedereinführung von Maßnahmen im Sommer, weil in diesem Zeitraum andere Atemwegsinfektionen weit gegenüber Covid-19 überwogen, auch bei den Sterbefällen. Es ist nicht ersichtlich, wieso Maßnahmen die Sterbefallzahlen und Zahlen hospitalisierter Personen bei Covid-19 gedrückt haben sollten, gleichzeitig aber uneffektiv gegenüber anderen Atemwegsinfektionen gewesen sein sollen. Auch weltweit sterben mehr Menschen an anderen Infektionen der unteren Atemwege als an Covid-19.

Kapazitätsprobleme im Gesundheitswesen?

Es lässt sich nicht wegreden, dass der Anteil von Covid-19-Patienten in den Krankenhäusern nach wie vor klein ist und dass etwa die Hälfte der Intensivstationsbetten in Deutschland leer steht. Nun wird das Argument aufgebracht, die Betten würden ja nichts nützen, wenn kein Pflegepersonal dafür zur Verfügung stehe. Außerdem würden viele Pflegekräfte infiziert sein.

Falls es zu einem erheblichen Anteil der freistehenden reichlich 8000 Intensivbetten tatsächlich kein Krankenhauspersonal geben sollte, wäre das ein Skandal und die Verantwortlichen sollten Rede und Antwort stehen – allen voran der Gesundheitsminister. Man hat vorher nichts davon gehört und diese Behauptung wird vorgebracht, ohne dass jemand sagen würde, für welchen Anteil der Betten denn das Personal fehle. Wenn jemand eine nicht nachprüfbare Behauptung aufstellt, die ihm selbst politisch nützt, kann man in aller Regel davon ausgehen, dass es sich um Täuschung handelt.

Was nun das infizierte Personal betrifft, so gibt es derzeit in Deutschland weniger als 41‘500 aktive Covid-19-Fälle (das rechnet sich leichter), was weniger als 0,05% der Bevölkerung sind. Wenn es einen signifikanten Anteil infizierten Klinikpersonals gibt, so muss die Infektionsrate dort mehr als hundertmal so groß sein wie unter der Gesamtbevölkerung, was nur dadurch erklärbar wäre, dass das Personal ein halbes Jahr nach Beginn der Epidemie in Krankenhäusern einem erheblichen Infektionsrisiko ausgesetzt ist. Bis zur Erkennung der Infektion würde das Personal dann auch Patienten infizieren. Das wäre ein richtig großer Skandal, für den Verantwortliche wegen grober Nachlässigkeit bestraft werden sollten. Wie Krankenhaushygiene geht und welche Schutzmaßnahmen es bei Covid-19-Patienten braucht, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Auch hier ist allerdings zu vermuten, dass dem nicht wirklich so ist. Das Argument ist nur vorgeschoben.

Das allerdings würde nun bedeuten, dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen über die Situation in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen gelogen wird, um politische Ziele durchzusetzen. Auch das wäre ein Skandal, für den jemand zur Verantwortung gezogen werden sollte.

Fazit

In Deutschland werden jede Woche mehr als 1% der Gesamtbevölkerung getestet. Von den positiv getesteten Personen landet nur ein sehr geringer Anteil im Krankenhaus und eine noch geringerer auf der Intensivstation. Die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 liegt seit Monaten um ein Vielfaches unterhalb derjenigen durch schwere Lungenentzündungen anderer Art. Es gibt keinen Grund, Covid-19 anders zu behandeln als Grippewellen, denen gegenüber man ebenfalls im wenig gefährdeten Teil der Bevölkerung Herdenimmunität aufbauen lässt. Bereits seit Monaten gibt es keine Möglichkeit mehr, Covid-19 anders zum Verschwinden zu bringen, als eben durch Aufbau einer Herdenimmunität. Da auch für Risikogruppen in absehbarer Zeit keine Impfstoffe zur Verfügung stehen werden, ist das die verantwortungsvollste Strategie.

Wer das auch so sieht, kann seine Meinung kundtun, indem sie oder er die Great Barrington Erklärung unterzeichnet. Ich selbst habe es in der Kategorie „General Public“ bereits getan.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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