Es muss denn die Kalaschnikow nun entscheiden

Ukraine Ein Krieg um den Donbass- möglicherweise um die gesamte Ost- und Südostukraine- ist kaum noch vermeidbar. Die EU steht vor einem strategischen Dilemma.

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In der vergangenen Woche hat sich durch eine groß angelegte, erfolgreiche Gegenoffensive der Separatisten die militärische Lage im Donbass grundsätzlich geändert. Vor dem 22. August lag die strategische Initiative bei den Kiewer Kräften und ein Ende der offenen Kämpfe vor Wintereinbruch erschien möglich. Jetzt hingegen steht Kiew vor der Entscheidung, den Verlust großer Teile seiner Truppen in einer Reihe von Kesselschlachten zu riskieren oder sich aus weiten Teilen des Donbass zurückzuziehen. Wahrscheinlich wird die militärische Führung kurzfristig versuchen, einen Mittelweg zu verfolgen, weil der eigentlich vernünftigere Rückzug psychologisch schwierig und politisch nicht durchsetzbar ist. In diesem Artikel befasse ich mich mit den langfristigen Perspektiven, die sich aus der neuen Situation ergeben. Zuerst untersuche ich die Optionen der beteiligten Akteure, wobei ich vom Akteur mit dem größten Einfluss ausgehe und mit demjenigen schließe, der den geringsten Einfluss hat. Aus einer Gesamtschau der Optionen leite ich dann verschiedene Szenarien ab und diskutiere, wie wahrscheinlich diese sind. Der Artikel schließt mit einer Betrachtung der Probleme, die sich aus diesem Krieg für die innere Stabilität der EU ergeben.

Die Optionen Russlands

Putin und Lawrow haben in der Ukraine-Krise eine flexible Rhetorik gepflegt, die ihnen ohne Gesichtsverlust verschiedene Optionen offen hält. Nicht zulassen kann Putin einen militärischen Sieg der Kiewer Kräfte im Donbass, weil ihn ein solches Szenario in Russland ähnlich schwächen würde, wie Chruschtschow in der Sowjetunion durch sein Nachgeben in der Kuba-Krise geschwächt wurde. Putin hat alle nötigen Machtmittel, um dieses Szenario auszuschließen. Sollte die Lage sich noch einmal in diese Richtung entwickeln, was kurzfristig unwahrscheinlich ist, wird Putin diese Machtmittel zweifellos einsetzen.

Den Instinkten und heimlichen Wünschen Putins am besten entspricht vermutlich die Option, „Noworossija“ von der Ukraine abzuspalten. Dieses Gebiet würde aus strategischen Gründen die gegenwärtigen Oblaste Charkiw, Cherson, Dnipropetrowsk, Donezk, Luhansk, Mykolajiw, Odessa und Saporischja einschließen. Dadurch würde die prekäre Versorgungslage der Krim verbessert und Russland erhielte eine direkte Verbindung zur abtrünnigen moldawischen Provinz Transnistrien. In der Folge hätte die Restukraine nur noch einen bedeutenden industriellen Kern um Kiew, wäre völlig überschuldet, innerlich zerrissen und damit ein idealer Pufferstaat zwischen Russland und Polen. Russland hätte neu eine kurze Grenze mit Rumänien und eine längere mit dem schwachen Moldawien. Die strategisch wichtigen Rüstungsbetriebe der Ukraine wären fast vollständig in russischer Hand. Das Problem mit dieser Option sind die politischen, kurzfristigen wirtschaftlichen und militärischen Kosten. Langfristig wäre die Option für Russland wirtschaftlich und strategisch vorteilhaft. In der gegenwärtigen Situation kann Putin innenpolitisch nicht durchsetzen, dass diese Option wahrgenommen wird und es wäre auch unvernünftig, solange noch eine Chance auf eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen besteht. Kommt es zu einer weiteren Eskalation und wählt der Westen von sich aus die Option eines kalten Krieges, so ist diese Option diejenige, die Russland die größten Vorteile verspricht.

Mit sehr viel geringeren kurzfristigen Kosten wäre eine Abspaltung des Donbass von der Ukraine und der Anschluss der beiden Oblaste Luhansk und Donezk an Russland zu haben. Die Ukraine würde damit etwa 25% ihres Exportvolumens verlieren. Den wirtschaftlichen Vorteilen für Russland würde aber der Verlust des Zugangs zu ukrainischen Rüstungsgütern und -zulieferungen gegenüber stehen, die hauptsächlich aus den Regionen Charkiw, Dnipropetrowsk und Saporischja kommen. Gegenwärtig sieht es allerdings so aus, als ob dieser Verlust nur noch durch eine russische Besetzung dieser Oblaste vermeidbar wäre. Strategisch bietet eine Angliederung der beiden Oblaste Luhansk und Donezk kaum Vorteile, zumal eine strittige Grenze mit der Ukraine entstünde. Bleibt die NATO bei ihrer bisherigen Doktrin, würde damit zumindest ein NATO-Beitritt der Restukraine verhindert. Allerdings kann Russland nicht sicher davon ausgehen, dass die Doktrin beibehalten wird. Wenn sie beibehalten wird, sollte bereits der Anschluss der Krim an Russland einen ukrainischen NATO-Beitritt ausschließen. Aus all diesen Gründen wird Putin kein großes Interesse daran haben, den Donbass Russland einzuverleiben.

Die gegenwärtig realistische Option Russlands ist eine Abspaltung der Oblaste Luhansk und Donezk von der Ukraine und deren Unabhängigkeit, die vermutlich nur von Russland selbst anerkannt würde. Das entspräche dem Modell von Südossetien und Abchasien. Die neuen Republiken wären völlig von Russland abhängige Pufferstaaten. Die Ukraine würde geschwächt und hätte ein permanentes Grenzproblem, Russland hätte zumindest kein direktes. Mittelfristig würde der Westen wohl versuchen, im Gegenzug Transnistrien wieder an Moldawien anzugliedern. Russland könnte dorthin kaum genug Macht projizieren, um das zu verhindern. Der Gesichtsverlust für Putin wäre aber tragbar. Das Transistrien-Szenario ließe sich in Russland vermutlich auch propagandistisch ausschlachten.

Was die Oblaste Luhansk und Donezk angeht, hätte Putin bisher ohne wirklichen Gesichtsverlust sogar deren Verbleib in der Ukraine hinnehmen können, sofern diese Option durch Verhandlungen mit lokalen Politikern und unter Gewährung einer weitgehenden Autonomie für die Regionen verwirklicht worden wäre. Im Unterschied zu den vorhergehenden Optionen ist das aber eine, die Putin nicht aus eigener Kraft durchsetzen kann. Derzeit gibt es in diesen Oblasten zwar Politiker, die ein solches Szenario bevorzugen würden, diese haben aber keinerlei Einfluss und werden keinen erlangen, solange der Krieg andauert. Außerdem hat die Regierung Jazenjuk auch diese Politiker kriminalisiert. Diese Option könnte nur dann realistisch werden, wenn sich der Westen und Russland vorab darauf einigen und dann gemeinsam starken Druck auf die Kiewer Regierung und die Separatisten ausüben würden. Mit seinen heutigen Äußerungen scheint Putin diese ohnehin kaum mehr realisierbare Option endgültig aus der Hand zu geben.

Die Optionen der Ukraine

Angesichts der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Lage mag es unsinnig erscheinen, die Ukraine, vertreten durch die Regierung Jazenjuk und den Präsidenten Poroschenko, als Akteur mit dem zweitgrößten Einfluss auf das Geschehen zu betrachten. Objektiv ist sie das aber, weil die Ukraine-Politik der EU und der USA vollständig gescheitert ist, wie ich weiter unten erklären werde. Zugleich bedeutet das allerdings, dass der Einfluss Russlands auf das Geschehen übermächtig ist.

Schon auf dem Maidan und insbesondere seit der Machtübernahme hat Jazenjuk sich einer extremen Rhetorik gegenüber Russland, ukrainischen Föderalisten und Separatisten bedient, die seine Optionen genau so extrem einschränkt. Es gibt fast keinen Kompromiss mehr, den Jazenjuk noch machen könnte, ohne völlig das Gesicht zu verlieren. Ohne die Absetzung Jazenjuks hat Kiew praktisch nur die Option, bis zu einem militärischen Sieg im Donbass oder zu einer völligen Niederlage seiner Streitkräfte weiterzukämpfen. Bei einer Niederlage ist der Verlust der Oblaste Charkiw und Dnipropetrowsk vorgezeichnet. Jazenjuk ist nur noch als Kriegspremier denkbar. Ich bin nicht sicher, ob alle Analysten und Politiker im Westen diesen Umstand bereits begriffen haben und in ihre Analysen und Handlungsvorschläge einbeziehen.

Nun hat Poroschenko bereits am 18. Juni den Generalstaatsanwalt Machnitzkij von der Swoboda und am 7. August den Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats Andrij Parubij abgesetzt. Parubij hat er nicht einmal ersetzt und am 18. August ohne Angabe von Gründen vollends aus dem Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat entfernt. Wenn nötig, könnte er auch Jazenjuk absetzen. Allerdings hat auch Poroschenko sich wiederholt auf eine Weise geäussert, die es ihm fast unmöglich macht, in direkte Verhandlungen mit den Separatisten im Donbass einzutreten. Erst gestern hat er in Bezug auf die Beziehungen zu Russland von einem „point of no return“ geredet, der kurz bevorstünde. Poroschenko gerät in den ukrainischen Medien zunehmend unter Kritik, weil er fast keines seiner Wahlversprechen eingehalten hat und sich die Lage der Ukraine kontinuierlich verschlechtert. Noch hat er Rückhalt in der Bevölkerung, aber vermutlich keinen ausreichend großen, um in den kommenden Tagen einen Friedensschluss im Donbass durchzusetzen, der bei der gegenwärtigen Lage weitgehende Zugeständnisse an die Separatisten erfordern würde. Das Zeitfenster für einen solchen Friedensschluss wird sich innerhalb weniger Tage schließen. Möglicherweise hat es sich mit den heutigen Äußerungen Putins bereits geschlossen.

Selbst wenn Poroschenko einen Friedensschluss vor der Öffentlichkeit durchsetzen könnte, ist nicht sicher, dass er ihn politisch überleben würde. Der Führer des Rechten Sektors, Dimitri Jarosch, hatte am 17. August bereits in einem anderen Zusammenhang einen Marsch seiner bewaffneten Kräfte auf Kiew angedroht. Die Jazenjuk-Regierung ist damals einen Kompromiss eingegangen, in dem Innenminister Awakow seinen Stellvertreter Wolodimir Jewdokimow geopfert hat. Derartige Kompromisse im Januar und Februar hatten die Machtbasis von Janukowytsch erodiert. In der letzten Wahlumfrage zur angekündigten Parlamentswahl in der Ukraine, die allerdings auch schon vom 16.-23. Juli stammt, lag die Partei von Jarosch mit 22,2% in Führung. Jarosch war die treibende Kraft hinter dem gewaltsamen Sturz von Janukowytsch und ist auch sonst nicht für Skrupel bekannt. Auch der gegenwärtige Gouverneur der Region Dnipropetrowsk, Ihor Kolomojskyj, verfügt über eigene paramilitärische Kräfte und hat ein großes Interesse, einen Friedensschluss zu verhindern. Er hatte bereits Interesse bekundet, „seine“ Oblast auf Kosten der Oblast Donezk zu vergrößern. Kolomojskyj ist ebenfalls nicht für Skrupel bekannt. Er hat in der Vergangenheit Schlägertrupps und gefälschte gerichtliche Anordnungen benutzt, um feindliche Firmenübernahmen durchzusetzen.

Zudem ist zu beachten, dass zwar die Bevölkerungsmehrheit in der West- und Zentralukraine Frieden möchte, dass aber vermutlich bis zu einem Drittel der Bevölkerung radikalisiert ist und einen Friedensschluss nicht akzeptieren würde. Dieses Drittel ist lautstärker, aktiver und unter den Journalisten weit überdurchschnittlich vertreten. Die Unterstützung dieses Drittels wäre für Jarosch und Kolomojskyj ausreichend, um die Macht zu übernehmen.

Abschließend kann man also bemerken, dass die ukrainische Regierung zwar erheblichen Einfluss auf das Geschehen hat, aber keine Auswahl verschiedener Optionen. Sie wird diesen Einfluss dahingehend geltend machen, dass um die Ostukraine Krieg bis zur militärischen Niederlage einer der beiden Seiten geführt wird.

Die Optionen der Separatisten

Die Separatisten sind längerfristig in einer wirtschaftlich und militärisch unhaltbaren Lage, wenn sie keine Unterstützung aus Russland erhalten. Für die Ukraine gilt das in Bezug auf die westliche Unterstützung nur auf wirtschaftlichem Gebiet. Andererseits kann Putin die Separatisten nicht völlig fallen lassen und das eröffnet ihnen einen gewissen Handlungsspielraum. Nach dem Referendum am 11. Mai hatte Putin zunehmend die Kontrolle über das politische Handeln der Separatisten verloren. Seine Entscheidung vom 24. Juni, das Interventionsrecht von der Staatsduma wieder kassieren zu lassen sowie das Zurücknehmen der Drohkulisse an der russisch-ukrainischen Grenze könnten ein Versuch gewesen sein, diese Kontrolle wiederzuerlangen. Entweder ist das gelungen oder der Versuch wurde Mitte August abgebrochen, weil eine vollständige militärische Niederlage der Separatisten drohte. In jedem Fall haben die Separatisten derzeit wieder eine weitgehende Unterstützung Putins und infolgedessen die strategische Initiative.

Die einzige Option, die sie wirklich durchsetzen können, ist die Errichtung unabhängiger Staaten. Einen Anschluss an Russland können sie nur mit Putins vorherigem Einverständnis erbitten. Tun sie es öffentlich ohne sein Einverständnis, so könnte Putin zwar derart unter öffentlichen Druck geraten, dass er zustimmen muss. Er würde in diesem Fall aber dafür sorgen, dass die Verantwortlichen in der Folge politisch zerstört würden. Da auch Putin nicht für Skrupel bekannt ist, müssten sie sogar mit Arbeitslager rechnen.

Die Separatisten haben auch die Option, auf eine weitgehende Autonomie des Donbass innerhalb der Ukraine einzugehen. Sie haben das zwar in der Vergangenheit ausgeschlossen, aber nicht mit derart vehementen Äußerungen, wie wir sie von Jazenjuk gewohnt sind. Außerdem gab es einen Führungswechsel und eine große Bevölkerungsmehrheit im Donbass würde vermutlich eine Autonomielösung akzeptieren, wenn die Bedingungen gut wären. Italien hat auf diese Weise die Situation in Südtirol nachhaltig stabilisiert, wobei allerdings die Vorgeschichte kein Bürgerkrieg sondern nur eine Anschlagsserie einer Untergrundbewegung war. Mit Putins heutigen Äußerungen scheint eine solche Option aber vom Tisch zu sein.

Wenn die Separatisten bereit sind, alle wesentlichen Entscheidungen in Abstimmung mit Moskau zu treffen, können sie sich auch auf einen Krieg bis zur militärischen Niederlage einer Seite einlassen. Unter diesen Bedingungen werden sie diesen Krieg nämlich gewinnen.

Die Optionen der EU

Die EU war 2013 der Hauptakteur des Versuchs, Osteuropa durch ein völliges Herauslösen der Ukraine aus der russischen Einflusssphäre strategisch neu zu ordnen. Diese Politik war unüberlegt, schlecht koordiniert und hatte keine „exit strategy“. Schon eine einfache Analyse der wirtschaftlichen Situation der Ukraine, wie sie ein Fachmann in wenigen Stunden hätte liefern können, hätte unweigerlich zu dem Schluss geführt, dass die Ukraine strukturell von Russland abhängig ist. Vor dem Konflikt gingen 24% der ukrainischen Exporte nach Russland, 31% der Importe kamen von dort. Im gesamten Exportvolumen sind 18% Stahlprodukte und Eisenerz. Für dieses Segment, das hauptsächlich durch das Donezbecken abgedeckt wird, wollte die EU im Assoziierungsabkommen keine vorteilhaften Bedingungen bieten. Die EU kann auch die ukrainischen Energieimporte aus Russland nicht ablösen. Weitere nicht unbedeutende Exporte und Importe der Ukraine gehen in die oder kommen aus der von Russland geführten Zollunion. Es hätte von Anfang an klar sein müssen, dass eine EU-Assoziierung der Ukraine eine Übereinkunft mit Russland erfordern würde.

Mit der Ablehnung des durch die EU vorgelegten Abkommens durch Janukowytsch drohte der EU ein weitgehender Einflussverlust. In der Folge der Maidan-Proteste entschlossen sich die EU-Außenpolitiker etwa Anfang Januar 2014, ihren Einfluss dadurch wiederherzustellen, dass sie die Opposition in ihrem Bestreben unterstützten, Janukowytsch vor Ablauf von dessen Amtsperiode zu stürzen. Es scheint keine Analyse gegeben zu haben, wie Russland darauf wahrscheinlich reagieren würde und was diese Strategie auf die innere politische Stabilität der Ukraine für Auswirkungen haben würde. Dabei müssen die innenpolitischen Bruchlinien jedem Beobachter der Ukraine seit Jahren klar gewesen sein. Bereits Mitte Februar hatte die EU die Kontrolle über die Kräfte verloren, die sie durch öffentliche Auftritte ihrer Spitzenpolitiker und finanzielle Zuwendungen mit aufgebaut hatte. Am 22. Februar kam es zu einem von der EU in dieser Form nicht gewollten Putsch, den EU-Spitzenpolitiker gleichwohl unterstützen mussten, weil sie an dessen Vorbereitung mitgewirkt hatten.

In den darauf folgenden Wochen erodierte der Einfluss der EU auf die vorgeblich EU-nahe Regierung der Ukraine zusehends. Das hing einerseits damit zusammen, dass die EU die Ukraine vor den Gegenreaktionen Russlands nicht schützen konnte, andererseits damit, dass der Putsch zwar einige EU-nahe Spitzenpolitiker in die Regierung gebracht hatte, aber eigentlich von rechtsradikalen und nationalistischen Kräften vorangetrieben worden war, für die eine Zusammenarbeit mit der EU keine Priorität war. Von den mit der EU-Assoziierung normalerweise verbundenen wirtschaftlichen und politischen Reformforderungen konnte die EU bisher keine einzige durchsetzen. Gleichwohl sah sie sich in der herbeigeführten Lage außerstande, den Abschluss des Abkommens hinauszuzögern.

Führende Politiker der EU-Staaten haben inzwischen erkannt, dass das Bestreben der Kiewer Regierung, die politische Teilhabe der Ostukraine mit juristischen und militärischen Mitteln zu unterdrücken, zu einem Desaster führen muss und zwar unabhängig davon, wer die militärische Auseinandersetzung gewinnt. Sie haben aber keinerlei Einflussmöglichkeit, um die Kiewer Regierung von diesem Kurs abzubringen. Die EU ist sogar gezwungen, diesen Kurs durch Kredite zu unterstützen und fühlte sich zur Gesichtswahrung gezwungen, Sanktionen gegen Russland zu erlassen, die allen Seiten nur schaden und die nichts bewirken.

Die EU hat eigentlich keine Optionen und keinen Einfluss mehr auf die Lage. Sie verfolgt derzeit eine Politik minimaler Unterstützung der Kiewer Regierung, wobei das Minimum dadurch definiert ist, was die Politiker glauben für ihre Glaubwürdigkeitswahrung unbedingt tun zu müssen.

Die Optionen der USA

Vieles, was für die EU gilt, gilt auch für die USA. Allerdings war die Aktivität der USA vor dem 22. Februar verdeckter. Der größte Teil der US-Bevölkerung ist in Bezug auf die Ukraine-Krise indifferent, wenn er überhaupt davon weiß und das US-Repräsentantenhaus ist noch weniger als die Parlamente der EU-Staaten bereit, die Ukraine finanziell zu unterstützen. Zudem hat die USA derzeit wesentlich größere geostrategische Probleme, bei denen sehr viel auf dem Spiel steht. Die üblichen Machtmittel der USA sind entweder in der Ukraine nicht einsetzbar, wie etwa Luftschläge, oder wurden bereits mit zweifelhaften Ergebnissen eingesetzt, wie etwa die Unterstützung einer Opposition, die einen Regimewechsel ohne Wahlen anstrebt.

Die US-Politik verfügt über genügend gute strategische Analysten, um inzwischen erkannt zu haben, dass sie in der Ukraine vorerst gescheitert ist und dass man daran nicht viel ändern kann. Sie hat zwar noch ein Interesse an außenpolitischer Glaubwürdigkeitswahrung. Allerdings sind auf diesem Gebiet die potentiellen Verluste für die Obama-Regierung klein, da von deren außenpolitischer Glaubwürdigkeit ohnehin schon nicht mehr viel übrig ist. Außerdem besteht im Irak und in Syrien auf diesem Gebiet ein viel größeres Problem. Andererseits möchte die USA in der Ukraine natürlich ihre geostrategischen Verluste möglichst gering halten. Das wiederum würde diktieren, die Kiewer Regierung zu einem Kompromiss zu drängen. Obama hat das wiederholt und folgenlos mit Aufrufen zu einem Waffenstillstand versucht. Die USA haben, entsprechend ihrer geringeren Bereitschaft zur finanziellen Unterstützung der Ukraine, noch weniger Einfluss auf Kiew als die EU.

Szenarien eines russisch-ukrainischen Krieges

Wenn die ukrainische Regierung in den nächsten Tagen den Krieg wählt- und alles andere wäre eine große Überraschung- verengen sich dadurch die Optionen aller anderen Akteure. Die Maidan-Anhänger glauben, man könne mit Putin als einem KGB-Mann sowieso nicht verhandeln, die Stimmung in Russland würde sich gegen Putin wenden, sobald Russland grössere Zahlen an gefallenen Soldaten habe und Russland würde durch den Krieg und die Sanktionen in kurzer Zeit in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Keines dieser Argumente ist rational. Diese Einschätzungen erinnern fatal an die Fehleinschätzungen der polnischen Armeeführung im August 1939.

Wenn der Konflikt zu einem regelrechten russisch-ukrainischen Krieg eskaliert, wird ihn die Ukraine in kurzer Zeit verlieren und Putin wird „Noworossija“ in den oben angedeuteten Grenzen entweder annektieren oder als russischen Satellitenstaat installieren. Die EU und die USA werden abgesehen von noch weitergehenden Sanktionen zur Gesichtswahrung nichts dagegen tun. Diese Sanktionen werden sich im Falle der EU nicht auf den Erdgashandel mit Russland erstrecken, weil das im kommenden Winter zu einem wirtschaftlichen Desaster führen würde. Putin weiß das.

Möglich ist aber auch, dass Russland den Krieg weiter so führt wie bisher, das heißt hauptsächlich durch indirekte Unterstützung der Separatisten und höchstens punktuell durch Eingreifen mit eigenen Truppen. Ob Russland diese politisch weniger kostspielige Strategie weiter verfolgen kann, hängt davon ab, welchen Mobilisierungsgrad die Kiewer Regierung erreicht und wie groß die Verluste der Kiewer Kräfte an Menschen und Material in den nächsten Tagen und Wochen im Donbass sein werden. Letzteres wiederum hängt von der gewählten Strategie ab. Bei rationaler Einschätzung müssten die Kräfte an vielen Stellen zurückgezogen und weiträumig umgruppiert werden. Diese Strategie ist politisch vermutlich tabu und in Bezug auf die Freiwilligenbataillone kann auch die Kommandostruktur diese Strategie nicht durchsetzen, da sie gegenüber diesen Bataillonen bisher keinerlei Strategie durchsetzen konnte. Hier liegt die paradoxe Situation vor, dass die Aufständischen derzeit mit einer einheitlichen Kommandostruktur kämpfen, während die Kommandostruktur der Regierungsseite die für Freischärler typische ist. Dementsprechend werden die Verluste der Kiewer Kräfte größer sein, als sie angesichts der Lage und Kräfteverhältnisse sein müssten.

Der erreichbare Mobilisierungsgrad hängt von der Entwicklung der innenpolitischen Situation und von der Bereitschaft der Kreditgeber der Ukraine ab. Schon die Mobilisierung der letzten drei Wochen hat vielerorts zu Protesten geführt, selbst in der Westukraine, und das war vor den militärischen Niederlagen der letzten Woche. Die Einkesselung großer Truppenteile am 24. August war nicht der erste Vorfall dieser Art. Die militärische Führung in Kiew ist sichtlich inkompetent oder hat so wenig Kontrolle über Truppenbewegungen, dass militärische Operationen zum Glücksspiel werden. Früher oder später merkt die Bevölkerung das. Die Mobilisierung wird sich dann nur noch mit harten Zwangsmaßnahmen durchsetzen lassen. Zudem würde ein erheblich erhöhter Mobilisierungsgrad die wirtschaftliche Situation der Ukraine weiter verschärfen. An internationalen Finanzmärkten kann das Land kein Geld aufnehmen, die Papiere sind bereits als Ramsch bewertet. Wenn Kiew den Krieg wählt, werden westliche Institutionen riesige Kreditmittel zur Verfügung stellen müssen, um einen wirtschaftlichen Zusammenbruch der Ukraine spätestens im Winter zu verhindern. Die westlichen Regierungen werden auch mit der besten Propaganda Schwierigkeiten bekommen, das zu Hause politisch durchzusetzen.

Das wahrscheinlichste Szenario ist daher, dass die Kiewer Regierung den Mobilisierungsgrad nur so weit erhöht, wie es nötig ist, um die Lage ihrer Truppen im Donbass haltbar zu machen. Dabei wird sie das Minimalziel verfolgen, ein Übergreifen der Kämpfe auf andere Oblaste zu verhindern. Sie wird außerdem auch um den Preis hoher eigener Verluste versuchen, Slawjansk und Kramatorsk zu halten. Sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem Winter die strategische Initiative nicht wiedererlangen. Das Minimalziel der Separatisten wird es sein, vor dem Winter die Belagerung von Luhansk und Donezk aufzuheben. Darüber hinaus werden die Separatisten aus wirtschaftlichen und logistischen Gründen bereit sein, erhebliche Verluste hinzunehmen, um Mariupol in ihre Hand zu bringen, falls Mariupol nicht ohnehin von den Kiewer Kräften aufgegeben werden muss, weil dort ein weiterer Kessel droht. Was Slawjansk und Kramatorsk betrifft, können die Separatisten auf Zeit spielen. Die Lage der Kiewer Regierung wird sich über den Winter verschlechtern, nicht verbessern, unabhängig davon, wo die Front verläuft.

Das strategische Dilemma der EU

Die EU hat, wie oben ausgeführt, keine Handlungsoptionen mehr, die den Ausgang des Krieges wesentlich beeinflussen können. Sie muss dennoch eine Politik formulieren und verfolgen und steht dabei vor einem Dilemma, das ihre eigene innere Stabilität gefährdet.

Eine rationale Analyse würde diktieren, zum jetzigen Zeitpunkt mit Russland zu einer Übereinkunft zu gelangen, für wie verwerflich man auch Putins Handeln in der Ukraine-Krise hält. Das erfordert nicht einmal die Einsicht, dass auch das eigene Handeln verwerflich war, sondern nur die Erkenntnis, wie die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse sind. Natürlich brauchen die EU und die NATO für die Zukunft wieder eine Eindämmungspolitik gegenüber Russland. Die Grundlagen dafür müssen jetzt geschaffen werden. In der gegenwärtigen Lage ist es aber im Interesse der EU, die Gebietsgewinne Russlands so klein wie möglich zu halten und eine weitere Destabilisierung am Ostrand der EU zu vermeiden. Das ist nur erreichbar, indem man Russland ein Interesse daran erhält, mit der EU im Gespräch und in wirtschaftlichen Beziehungen zu bleiben. Politik ist kein moralisches Geschäft. Moral kann und sollte eine Leitlinie sein, aber nicht jede Einzelentscheidung kann moralisch einwandfrei getroffen werden. Gut gemeint ist auch in der Politik oft das Gegenteil von gut gemacht.

Ein solches Vorgehen hätte natürlich auch Kosten. Insbesondere Litauen, dessen Präsidentin Dalia Grybauskaitė sich gestern mit einer erstaunlich unlogischen Gedankenkette zu diesem Thema zu Wort gemeldet hat, wäre tief enttäuscht und besorgt – was angesichts der litauisch-russischen Geschichte nicht verwundern kann. Eine Übereinkunft mit Russland müsste unbedingt von glaubwürdigen Sicherheitsgarantien für die baltischen Staaten flankiert sein und in diesem Sinne glaubwürdig wäre nur eine Stationierung hinreichend großer Truppenkontingente. Hier läge ein sinnvoller Spielraum für einen Auslandseinsatz der Bundeswehr, der zudem noch den Vorteil hätte, ungefährlich zu sein. Polen hingegen ist nicht in Gefahr, denn die für Russland interessanten ehemaligen Teile Polens liegen schon seit dem Ende des 2. Weltkrieges außerhalb der polnischen Grenzen.

Weitere Kosten ergäben sich für die Glaubwürdigkeit der Politiker. Was die Glaubwürdigkeit vor der eigenen Bevölkerung betrifft, wären diese Kosten geringer als gemeinhin angenommen. Die meisten EU-Bürger interessieren sich nicht für die Ukraine-Krise oder zumindest nicht stark. Unter den Interessierten glaubt eine Mehrheit ohnehin weder den westlichen Medien noch den westlichen Politikern. Die Politiker haben eine verschobene Ansicht dieses Glaubwürdigkeitsproblems, weil sie vor allem mit Journalisten und gleichgesinnten Politikern sprechen. Diese Leute sind eine kleine Minderheit und sie haben in der heutigen Medienlandschaft nur begrenzten Einfluss.

Diffiziler ist das Problem der außenpolitischen Glaubwürdigkeit gegenüber oppositionellen Gruppen oder Regierungen anderer Länder, die eine von Russland misstrauisch beobachtete Annäherung an die EU betreiben wollen. Zu diesem Punkt muss man sagen, dass der aus der Ukraine-Krise resultierende Glaubwürdigkeitsverlust bereits umfassend und unumkehrbar ist. Politiker von EU-Staaten und die EU-Außenbeauftragte Ashton haben Jazenjuk und Klitschko im Februar offensichtlich Hoffnungen gemacht, die sie ab März nicht einmal annähernd erfüllen konnten. Die EU hat in der Ukraine eine Entwicklung angestoßen und befördert, die zu einer Katastrophe geführt hat. Bezüglich der außenpolitischen Glaubwürdigkeit kommt es nun nicht mehr auf die Details dieser Katastrophe an.

An dieser Stelle muss man natürlich einwenden, dass es für die Ukrainer selbst sehr wohl auf die Details der Katastrophe ankommt und dass hier auch moralische Erwägungen eine Rolle spielen müssen. Dazu ist zu sagen, dass eine Übereinkunft mit Russland über eine Unabhängigkeit des Donbass und im Gegenzug eine tolerierte Assoziation der Restukraine an die EU mit speziellen Handelsbeziehungen der Restukraine zu Russland das Beste ist, was für die Ukraine derzeit noch herauszuholen ist. Jeden patriotischen Ukrainer wird das traurig und wütend machen und tief verletzen, so wie die Abspaltung des Kosovo jeden patriotischen Serben traurig und wütend gemacht und tief verletzt hat. Damals konnte Russland die territoriale Integrität Serbiens nicht garantieren, heute können die EU und die NATO dasselbe nicht für die Ukraine tun. So zynisch es klingt, man trifft sich eben mindestens zweimal im Leben.

Der andere Weg, den die EU gehen kann, ist derjenige einer immer weiter eskalierenden Konfrontation mit Russland. Diesen Weg einer ständigen Verschärfung der Rhetorik und einer Sanktionsspirale geht die EU bisher. Er hat die Situation der Ukraine kontinuierlich verschlechtert, nicht einmal ansatzweise zu einem Einlenken Putins geführt und innerhalb der EU zu Dissonanzen geführt. Zu verschiedenen Zeitpunkten haben sich der tschechische Präsident Zeeman, der ungarische Ministerpräsident Orban und der slowakische Premierminister Fico öffentlich gegen Sanktionen ausgesprochen. Fico will die jetzt vorbereiteten Sanktionen durch ein Veto blockieren, falls sie das Wirtschaftswachstum der Slowakei gefährden würden. Auf dem gestrigen EU-Außenministertreffen haben sich die Slowakei, Tschechien, Ungarn und Zypern gegen Sanktionen ausgesprochen. Selbst in Ländern wie Litauen, wo die offizielle Regierungspolitik scharf antirussisch ist, halten Teile der Bevölkerung dieses Vorgehen für zutiefst unweise.

Die Leute, die sich eigentlich nicht für Außenpolitik interessieren, werden aber doch unruhig, wenn es ihren Geldbeutel betrifft oder im Winter ihre Wohnung kalt bleibt. Sie werden irgendwann zu dem Schluss kommen, dass es nicht sinnvoll ist, für die Unterstützung einer absolut nicht kompromissbereiten Regierung in Kiew die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland zu zerschneiden, von denen ein Gutteil des eigenen Wohlstandes abhängt. Außer in Polen und in den baltischen Staaten glaubt in der EU niemand, dass „der Russe kommt“.

Ende Februar wäre bei einer geschickteren Politik der Kiewer Regierung, der EU und der USA noch die territoriale Integrität der Ukraine einschließlich der Krim zu erhalten gewesen. Man hätte Russland damals glaubwürdige Garantien für die Autonomie, für Sewastopol und für die Zukunft seiner Schwarzmeerflotte, also für die Erhaltung des Status quo, geben müssen. Ende März wäre zumindest noch die Integrität der Ukraine ausschließlich der Krim zu haben gewesen, wenn man Russland Garantien bezüglich der Wirtschaftsbeziehungen mit der Ostukraine und den Ostukrainern Garantien für ihre politische Mitbestimmung gegeben hätte. Ende August ist noch eine unabhängige Ukraine ohne die Krim und die Oblaste Luhansk und Donezk zu haben. Wenn die EU ihre bisherige Politik fortsetzt, wird die Ukraine möglicherweise auch noch die Oblaste Charkiw, Cherson, Dnipropetrowsk, Mykolajiw, Odessa und Saporischja verlieren. Die EU selbst wird in eine weitere selbstverschuldete Wirtschaftskrise abgleiten, welche die nationalistischen Kräfte stärken wird und langfristig zu ihrer Desintegration führen kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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