Gescheiterter Staat, gescheiterte Politik

Kiew & Brüssel 2015 wird sich entscheiden, ob die Ukraine als demokratischer Staat überlebt und ob die Assoziierungspolitik der EU eine Zukunft hat.

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Die außenpolitische Doktrin des Westens und ihre Widersprüche

Weder die USA noch die EU haben ihre gegenwärtige außenpolitische Doktrin jemals präzis formuliert. Gleichwohl lässt sie sich aus Beobachtungen während der letzten beiden Jahrzehnte unschwer ableiten. Sie besteht darin, in Ländern mit anderen Gesellschafts- oder Wirtschaftssystemen wo immer möglich Regimewechsel zu befördern, um diese Länder danach dem eigenen Lager anzugliedern. Diese Politik hat offensichtlich zu einer nachhaltigen Destabilisierung mehrerer Staaten geführt, wobei die Ukraine das letzte Beispiel ist. Daher stellt sich die Frage, warum der Westen so hartnäckig an dieser Doktrin festhält.

Man kann hier einen missionarischen und einen egoistischen Aspekt unterscheiden. Viele westliche Politiker glauben ehrlich daran, dass unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem allen anderen überlegen und allein selig machend ist, und dass deshalb die gesamte Weltbevölkerung damit beglücken werden müsse. Dieses missonarische Gehabe beruht wie jeder Fundamentalismus auf ungenügender Kenntnis der Geschichte und anderer Kulturen. Es krankt auch an einem Selbstwiderspruch. Unser eigenes Wertesystem weist der Wahlfreiheit des Menschen in Bezug auf Religion und Lebensentwurf einen hohen Stellenwert zu. Wie können wir dann versuchen, ganzen Völkern unsere Vorstellungen von der Organisation der Gesellschaft überzustülpen? Wir sind uns ja nicht einmal untereinander einig, was die Details betrifft: Die Franzosen wollen nicht leben wie die Deutschen und umgekehrt. Wer immer mit offenen Augen die Welt bereist hat, weiß, dass es viele Menschen gibt, die unsere Art der Gesellschaftsorganisation eben nicht für richtig halten und dass es Länder gibt, wo solche Menschen die große Mehrheit darstellen. Sie haben ein Recht, selbst zu entscheiden.

Der zweite Aspekt der Doktrin ist eine enge Definition der eigenen Interessen. Natürlich dient es diesen, möglichst wenige Gegner und möglichst viele Verbündete unter den Staaten der Welt zu haben. Die Frage ist nur, mit welcher Strategie das am Besten zu erreichen ist. Seitdem der Westen den 1. Kalten Krieg gewonnen hatte, glaubten die westlichen Politiker, sie könnten aus einer Position der Stärke heraus die eigenen Interessen ohne größere Rücksichten auf andere durchsetzen. Es schien nicht mehr nötig zu sein, Staaten mit anderen Systemen mit Respekt zu behandeln und nach den Regeln der Diplomatie mit ihnen umzugehen. Wohlgemerkt, die Durchsetzung eigener Interessen oder der Interessen der eigenen Gruppierung ist das Ziel jeder Politik. Angesichts von Interessengegensätzen mit anderen Akteuren liegt der Königsweg dazu jedoch in Verhandlungen, bei denen man auslotet, welche Punkte der anderen Seite sehr wichtig sind und kommuniziert, welche Punkte einem selbst sehr wichtig sind. In unwichtigen Punkten macht man Zugeständnisse und bei den unauflösbaren Gegensätzen strebt man einen Kompromiss an, der dann auch das gegenwärtige Kräfteverhältnis widerspiegelt. Wenn man seine Interessen auf diese Art durchsetzt, indem man miteinander redet, kann man auch hinterher wieder zusammenspannen, wenn man mit der anderen Seite in einem anderen Fall gemeinsame Interessen hat. Diese Art Staatskunst scheint der Westen verlernt zu haben, wie zumindest der Verlauf des Libyen-Krieges und die Ukraine-Krise zeigen.

Nun kann man natürlich sagen, dass Politik per se ein schmutziges Geschäft ist und dass man sie nicht an moralischen oder akademischen Grundsätzen messen soll, sondern an den Ergebnissen. Gerade die Ergebnisse der westlichen Doktrin aber sprechen gegen die Fortsetzung dieser Art von Politik. Das Scheitern des Iraks, Libyens und Syriens als Staaten kann man zweifellos auf Aktionen des Westens zurückführen, die aus der oben formulierten Doktrin folgen. Etwas komplexer ist der Fall von Afghanistan. Die gegenwärtige Situation dort geht auch auf Fehler der Führung der Sowjetunion in den 1980er Jahren zurück. Sie wurde allerdings durch die Aufrüstung der Mujaheddin durch die USA und später den in jeder Hinischt dilettantisch geführten Krieg der USA und der NATO gegen die Taliban maßgeblich verschlimmert.

Alle gescheiterten Staaten sind in erster Linie für die dort ansässige Bevölkerung ein Problem, aber auch für die Nachbarländer wegen der Flüchtlingsströme und der verschlechterten Sicherheitslage, wie man es zum Beispiel am Falle Malis sieht. Man kann allerdings argumentieren, dass die gescheiterten Staaten nicht notwendig ein Problem für den Westen sind. Der Irak unter Hussein, Libyen unter Gaddafi und Syrien unter Assad waren zumindest regionale Machtfaktoren. Gescheiterte Staaten sind keine Machtfaktoren. Der "Islamische Staat" ist nicht in der Lage, stabile Nachbarstaaten militärisch in irgendeine Verlegenheit zu bringen. Er kann nur dort operieren, wo ihm selbst keine organisierte Staatsmacht entgegen steht. Er wird nie in der Lage sein, selbst weit reichende Waffensysteme zu entwickeln.

Insofern wären die gescheiterten Staaten die Folge einer zwar unmoralischen, aber doch rationalen Politik, in dem Sinne, dass sie den eigenen geostrategischen Zielen dient. Zweifellos gibt es in den USA Kreise, die das so sehen. Die USA sind von den Folgen der regionalen Verschlechterung der Sicherheitslage und von den Flüchtlingsströmen nicht betroffen. Man könnte sogar argumentieren, dass die EU von diesen Folgen so schwach betroffen ist, dass diese Politik in einer machiavellistischen Abwägung auch aus ihrer Sicht rational erscheint. Dieses Argument versagt jedoch im Fall der Ukraine, die direkt an die EU grenzt. Eine Regimewechselpolitik in Bezug auf die Ukraine konnte aus europäischer Sicht nur dann als rational gelten, wenn das Scheitern des Staates als mögliche Folge so gut wie ausgeschlossen war.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Ukraine noch kein gescheiterter Staat, auch wenn sie bereits einige Züge eines solchen aufweist. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine 2015 als Staat scheitert, ist aber nicht mehr vernachlässigbar. Selbst wenn das nicht geschieht, könnte die Ukraine als ein der EU assoziierter Staat in diesem Jahr von einer parlamentarischen Demokratie in eine Diktatur abgleiten, was einen immensen Glaubwürdigkeitsverlust der EU-Außenpolitik nach sich ziehen müsste, wie auch immer die EU darauf reagieren würde. Im günstigsten Fall wird die Ukraine in einem Jahr politisch noch ähnlich verfasst sein wie jetzt, nur wirtschaftlich ärmer und innerlich noch instabiler. In diesem Fall wäre das Problem für die EU hauptsächlich ein finanzielles und wirtschaftliches. Auch dann aber stünden sowohl die EU als auch die Ukraine noch deutlich schlechter da, als wenn kein Regimewechsel betrieben worden wäre.

Züge eines gescheiterten Staates und einer Diktatur in der Ukraine

Die Kiewer Regierung hat keine Kontrolle über einen Teil des Landes, in dem mehrere Millionen Staatsbürger leben und in dem etwa 16% der Wirtschaftsleistung und ein noch größerer Anteil der Exportleistung erbracht werden.

Die Kiewer Regierung hat das Gewaltmonopol verloren. Neben den schwach bewaffneten Kräften der Maidan-Selbstverteidigung und des Rechten Sektors in Kiew existieren die Freiwilligen-Bataillone, die im Gebiet der "Antiterroristischen Operation" agieren, aber nicht nur dort. Sie sind zum Teil vom Innenministerium unter Minister Arsen Awakow ausgerüstet und bewaffnet worden, erkennen aber keine staatliche Befehlsgewalt an. Das entsprechende Bataillon des Rechten Sektors hatte im August einen Marsch auf Kiew angedroht und dadurch die Absetzung des stellvertretenden Innenministers erreicht. Noch gefährlicher sind die Freiwilligen-Bataillone des Oligarchen Kolomojskyj. Nach einem Bericht der Washington Post hat Kolomojskyj diese Truppen bereits für feindliche Firmenübernahmen benutzt, in Weiterentwicklung seines Schlägerbandenkonzepts für solche Firmenübernahmen, das er bereits vor seiner Ernennung zum Gouverneur der Oblast Dnjepropetrowsk durch Interimspräsident Turtschinow am 2. März benutzt hatte. Den ebenfalls am 2. März zum Gouverneur der Oblast Donezk ernannten Oligarchen Taruta hat Poroschenko im September abgesetzt. Bei Kolomojskyj würde das nicht möglich sein. Er ist inzwischen das, was man in gescheiterten Staaten einen Warlord nennt.

Die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative ist nicht mehr intakt. Der am 24. Dezember von der Exekutive zum Staatsanwalt der Oblast Lwiw ernannte Roman Fedyka wurde vom Abgeordneten Vladimir Parasyuk, einem der Maidan-Kommandeure, "besucht", wie dieser auf seiner Facebook-Seite mitteilt. Dabei habe Parasyuk Fedyka ein Dokument zur Unterschrift vorgelegt, mit dem letzterer seinen freiwilligen Rücktritt erklären solle. Anderenfalls erwarte ihn die "Volks-Lustration". Mit anderen Worten droht hier ein einzelner Parlamentsabgeordneter einem Staatsanwalt mit Gewalt, um ihn zum Rücktritt zu zwingen.

Als weiteren Zug eines scheiternden Staates sehe ich es an, dass in einer Nation mit über 45 Millionen im Durchschnitt sehr gut ausgebildeten Menschen keine Regierung gebildet werden konnte, ohne dafür mehrere Ausländer einzubürgern.

Die Ukraine zeigt auch bereits Züge einer entstehenden Diktatur. Die neue Regierung hat ein Informationsministerium, das im Inland wie auch im Ausland mit einem Wahrheitsministerium Orwell'schen Zuschnitts verglichen wurde. Praktisch seit dem März wird gegen Journalisten vorgegangen, die den Machthabern nicht genehm sind, zuerst ungestraft von Schlägern der Swoboda, inzwischen von fast höchster Stelle. Im aktuellen Fall geht es um den Fernsehkanal Inter, in dessen Neujahrsprogramm Beiträge russischer Künstler gesendet wurden, die sich zuvor zugunsten der Separatisten ausgesprochen hatten. Aufnahmen von Auftritten solcher Künstler auszustrahlen ist durch kein ukrainisches Gesetz verboten. Dennoch hat Turtschinow, mittlerweile Vorsitzender des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates verlangt, dem Kanal Inter die Lizenz zu entziehen. An der Besprechung des Falles am 15. Januar sollen Vertreter des Nationalen Sicherheits- und Verteidgungsrates teilnehmen. In einer Meldung hieß es, auch Geheimdienstvertreter sollten dabei anwesend sein.

Legitimität der Regierungen in Kiew, Donezk und Luhansk

Auf der internationalen Bühne besteht Einigkeit, dass die ukrainische Regierung durch die Präsidentschaftswahlen im Mai und die Parlamentswahlen im Oktober legitimiert ist. Auch Russland hat sich aus realpolitischen Gründen entschlossen, die Situation so zu betrachten. Dennoch muss hier die Frage der Legitimität diskutiert werden, weil sie sich innenpolitisch wieder stellen wird, sobald die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der sozialen Lage und der Fortdauer der Oligarchenherrschaft laut wird. Dass es dazu kommen wird, davon gehen ukrainische Politikwissenschaftler wie auch einige ausländische Beobachter aus. Auf internationaler Bühne besteht ebenfalls Einigkeit, dass die Donezker und Luhansker Volksrepubliken keine anerkannten Staaten sind und wiederum schließt diese Einigkeit Russland ein. Auch in diesem Fall stellt sich aber innenpolitisch die Frage, wie die Bewohner der Gebiete die Legitimitätsfrage einschätzen.

Über die Art und Weise, in der Turtschinow und Jazenjuk Ende Februar 2014 an die Macht gekommen sind, wurde schon vieles geschrieben. In diesen Tagen hat sich die Diskussion in der Ukraine neu belebt, nachdem der US-Regisseur Oliver Stone in Moskau Wiktor Janukowitsch interviewt und in diesem Zusammenhang gesagt hatte, die CIA habe den Putsch in Kiew inszeniert und er werde einen Film darüber drehen. Das ist insofern relevant, als Oliver Stone nicht so einfach in die Ecke der Putin-Freunde zu stellen ist und selbst viele Maidan-Anhänger bereit sind zuzugeben, dass die CIA in die Orangene Revolution 2004 involviert war. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang ein in der Kyiv Post veröffentlichter offener Brief von Stephen Velychenko, der in Toronto den Lehrstuhl für Ukrainische Studien innehat. Bemerkenswerterweise stellt Velychenko die Beteiligung der CIA gar nicht in Abrede, sondern stellt sie als ganz natürlich dar. Diese Beteiligung allein würde nichts über die Verdienste oder Glaubwürdigkeit der neuen Regierung aussagen. Nun ist es aber so, dass Oliver Stone ausdrücklich auch darüber gesprochen hat, dass von der CIA angeleitete Scharfschützen einer dritten Macht (nach allem, was wir wissen, Saakaschwili-treue Georgier) aus einem von Parubi kontrollierten Gebäude am Maidan hinterrücks Demonstranten und gleichzeitig Polizisten erschossen haben, um die Lage anzuheizen. Parubi ist inzwischen Vize-Sprecher des Parlaments. Wenn der Film diese Eeriegnisse gut genug belegt, wird er die Legitimität der jetzigen Regierung in Frage stellen, Wahlen hin oder her.

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2014 waren sicher weniger fair und korrekt als die vorhergehenden, die von Janukowitsch und der Partei der Regionen gewonnen worden waren. Standards für wirklich freie und faire Wahlen halten sie nicht stand, was den Zugang der Opposition zu den Medien und die Sicherheit von Oppositionskandidaten angeht. Zu den Parlamentswahlen gibt es einen Bericht der OSZE-Beobachter, der durchwachsen ausfällt. Es gab einen recht signifikanten Anteil an Unregelmäßigkeiten. Gleichwohl gibt es keinen Zweifel, dass das Wahlergebnis im Großen und Ganzen die Meinung derjenigen widerspiegelt, die zur Wahl gegangen sind. Diese Meinung allerdings kann man kaum als überzeugendes Vertrauensvotum für die Kräfte werten, die jetzt die Regierung stellen. Die Wahlbeteiligung betrug nur 52.42% und in fast der Hälfte der Wahlbezirke gewann ein Unabhängiger die Direktkandidatur.

Die Regierungen der "Donezker Volksrepublik" und "Luhansker Volksrepublik" sind auf sehr ähnliche Weise an die Macht gekommen, wie diejenige in Kiew, außer, dass im Falle der selbstproklamierten Volksrepubliken tatsächlich die Gegenseite für die Polarisierung gesorgt hat, indem sie im Zug ihrer militärischen Aktionen Zivilisten tötete. Die Präsidentschaftswahl findet ihr Gegenstück in der Volksabstimmung über die Unanhängigkeit, die Parlamentswahl der Ukraine in den entsprechenden Wahlen in den Volksrepubliken. Auch dabei kann man nicht von freien und fairen Wahlen reden, aber auch dabei ist völlig klar, dass das Ergebnis den Mehrheitswillen derjenigen widerspiegelt, die teilgenommen haben und dass die Abstimmungsbeteiligung wohl auch nicht geringer war. Die Spaltung der Ukraine ist kein rein militärischer Fakt. Sie entspricht einem fundamentalen Gegensatz in der Mehrheitsmeinung in den beiden Landesteilen.

Die Legitimität der Kiewer Regierung hat noch einen weiteren Aspekt, nämlich denjenigen von Rechtsstaatlichkeit und Verfassungstreue nachdem Präsident und Parlament gewählt wurden. Darum ist es nicht gut bestellt. Dass Poroschenko seine Wahlversprechen fast durchgängig gebrochen hat, wie eine Analyse von Glavcom zeigt, kann ihm noch auf die Füße fallen, sobald die Bevölkerung nicht mehr bereit ist zu glauben, dass alle Probleme nur an Putin und Russland liegen. Unter anderem hat Poroschenko noch immer nicht seine Firmen veräussert, angeblich, weil sie in der gegenwärtigen Lage unverkäuflich seien, was ja auch schon etwas über die gegenwärtigen Zustände in der Ukraine aussagt. Seinen Fernsehsender "Kanal 5" hatte er nicht einmal versprochen zu verkaufen. Poroschenko ist und bleibt ein Oligarch. Auch die Versprechungen über Verfassungsänderungen zur Beschränkung der Macht des Präsidenten, über eine Änderung des Wahlrechts, über die Dezentralisierung, über die Bezahlung von Soldaten und, am Wichtigsten, über einen Friedensschluss im Donbass in Stunden, nicht Monaten nach seiner Wahl sind unerfüllt. Zwar geht es bei gebrochenen Wahlversprechen nur um Moral, nicht um Recht. Nachdem aber die jetzt an der Macht befindlichen Kräfte den Rücktritt von Janukowitsch wegen des gebrochenen Wahlversprechens der EU-Assoziation gefordert hatten, sind sie in einer schlechten Situation, wenn eine neue Protestbewegung die Wahlergebnisse von 2014 nicht mehr anerkennen will, weil Wahlversprechen gebrochen wurden.

Wichtiger sind allerdings die tatsächlichen Rechtsbrüche. Aus machttaktischen Gründen musste für Turtschinow das Amt des Sekretärs des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, das laut Verfassung mit sehr eingeschränkten Vollmachten verbunden ist, per Gesetz mit erheblich größeren Machtbefugnissen ausgestattet werden. Wie Glavcom es darstellt, entsprechen die Befugnisse fast denjenigen eines Vizepräsidenten. Das war von der Rechtsabteilung des Parlaments kritisiert worden und es gab Proteste junger Abgeordneter, weil das Gesetz im Konflikt mit der Verfassung steht.

Einen noch größeren Aufruhr erzeugte die Abstimmung über den Haushalt 2015. Zum Zeitpunkt dieser Abstimmung um 4:15 Uhr am 29. Dezember lag der endgültige Text den Abgeordneten gar nicht vor. Selbst Parlamentarier der Regierungsparteien sprachen von einer Vergewaltigung des Parlaments. Auf den Punkt gebracht hat es die Abgeordnete Svitlana Zalishchuk aus dem Block Poroschenko, die dem Haushalt ihre Zustimmung verweigerte. Ihr Artikel wurde auf russisch bei Novoye Vremya und auf Englisch in der Kyiv Post veröffentlich. Die ersten Sätze lohnt es, im Original wiederzugeben: "Der Haushalt 2015 wurde mit halsbrecherischer Geschwindigkeit beschlossen. Er wurde angenommen angesichts eines Krieges, eines drohenden Bankrotts und möglicherweise verfallender Tickets für die Skigebiete. Diese Gründe waren in unterschiedlichem Maße ausschlaggebend für Abgeordnete, die mit geschlossenen Augen abstimmten und mit beiden Händen erhoben. In jedem Sinne dieser Worte." Zalishchuk führt weiter aus, dass Abegordnete von Jazenjuks Volksfront die Abstimmungsknöpfe abwesender Fraktionskollegen gedrückt hätten. Da der Vorlage dennoch viele Stimmen aus dem Regierungsblock fehlten und sie nur knapp angenommen wurde, stellt sich für mich die Frage, ob überhaupt eine Mehrheit der Abgeordneten mit "Ja" gestimmt hat. Der Text wurde erst am 31. Dezember in der Parlamentszeitung Stimme der Ukraine veröffentlicht und er entsprach in mehreren Punkten nicht dem Protokoll der Plenarsitzung. Der Abgeordnete Igor Mosiychuk hat danach vom Generalstaatsanwalt Jarema gefordert, die Übereinstimmung von Sitzungsprotokoll und Haushaltsgesetz zu prüfen. Vom Sprecher des Parlaments Wiktor Groisman und von Premierminister Jazenjuk verlangt er, sofort Untersuchungen wegen der Fälschung des Textes einzuleiten. Auch Mosiychuk gehört als Abgeordneter der Radikalen Partei von Oleh Liaschko formell zur Regierungskoalition. Er ist rechtsradikal und gehört dem berüchtigten Freiwilligenbataillon Asow an.

Risiken der Entwicklung der Ukraine 2015

In einem bei Glavcom nur auf Ukrainisch vorliegenden Artikel über eine Pressekonferenz mit ukrainischen "Wirtschaftsweisen" erfahren wir, dass Brüssel sich bisher mit weiteren Finanzzusagen an die Ukraine zurückhält. An einem Treffen einer Regierungsdelegation unter Jazenjuk mit EU-Vertretern hatte auch Poroschenko teilnehmen wollen, was ihm verweigert wurde. Die Geberkonferenz der EU soll erst im Frühjahr stattfinden. Volodymir Lanovy zweifelt auch die Vorhersagen zur Inflation an, die dem Haushalt 2015 zugrunde liegen. Er kommt zum Schluss, dass es im Westen kein Vertrauen in die ukrainische Regierung und in deren Handlungsfähigkeit gäbe, was kaum verwundern kann. Andrij Novak bezeichnet die wesentlichen politischen Strömungen in der Ukraine als blau-weiß-rot (pro-russisch) und orange (pro-westlich) und sagt nach dem Kollaps der blau-weiß-roten Kräfte 2014 für 2015 den Kollaps der orangenen Kräfte voraus. Auch er krisiert, dass der Haushaltsentwurf bis zum letzten Moment geheim gehalten wurde und dass er auf Neuverschuldung basiert, mit einem projizierten Defizit, dass um ein Drittel höher liegt als das 2014 entstandene Defizit. Novak bemerkt auch, dass die neue Regierung maximal drei Monate Zeit haben würde, um Glaubwürdigkeit gegenüber der EU und dem Internationalen Währunsgfonds (IWF) herzustellen. Weiteres politisches Versagen der Kiewer Regierung werde direkt der EU schaden. Ferner führt Novak aus, dass die Beschränkung des Handels mit Russland und die Ausweitung des Handels mit der EU asymmetrisch sei, weil nach Russland hauptsächlich Industrieprodukte und in die EU hauptsächlich Agrarprodukte exportiert würden. Lanovyi bemerkt, dass die Handlungen der Kiewer Regierung auf wirtschaftlichem Gebiet auch in den USA kritisch gesehen würden. Er erwartet, dass es einen Übergang von Finanzhilfen zu Warenlieferungen auf Kredit geben werde.

In einem weiteren Artikel hat Glavcom die Situation mit den Politanalysten Andrij Zolotarev und Volodymyr Fesenko diskutiert. Zolotorev hält fest, dass der Machtwechsel den vertikalen Konflikt zwischen den Oligarchen und politischen Eliten auf der einen Seite und dem einfachen Volk auf der anderen nicht entschärft habe. Es sei dieser Konflikt gewesen, der eigentlich der Maidan-Bewegung zugrunde gelegen habe. Fesenko bemerkt, der Konflikt zwischen oben und unten müsse nicht notwendig offen ausbrechen. Wenn das der Fall wäre, was Gott verhüten möge, und es zu einer weiteren Revolution käme, so wäre dies das Ende der Ukraine in ihrer gegenwärtigen Form. Fesenko hält diese Entwicklung nicht für die wahrscheinlichste, schließt sie jedoch auch nicht aus.

Zolotarev stellt fest, dass die Gruppierungen im jetzigen Kiewer Parlament keine Parteien im eigentlichen Sinne seien. Es handle sich vielmehr um temporäre Interessengemeinschaften. Die alten Parteien seien verschwunden, neue aber nicht entstanden. Diese Einschätzung deckt sich angesichts der Geschehnisse rund um den Haushalt 2015 mit meiner eigenen. Weiter bemerkt Zolotarev, obwohl 56% der Abgeordneten der Rada neu seien, würden alle Wege im Parlament noch immer durch die Büros der Oligarchen führen. Er nennt speziell Kolomojskyj.

Fesenko diskutiert auch die Möglichkeit sozialer Aufstände angesichts der katastrophalen wirschaftlichen Situation. Dieses Risiko bestünde, es käme aber auf die Politik Jazenjuks an, wie schlimm es würde. Lokale soziale Explosionen wären hinnehmbar, so lange sie nicht zu einer Kettenreaktion führen würden.

Bezüglich eines Wiederaufflammens des militärischen Konflikts um das Donbass sind sich die beiden Politologen uneinig. Zolotarev erwartet das geradezu und sieht es als Vorphase eines 3. Weltkrieges an, in dessen Ergebnis sich eine bipolare amerikanisch-chinesische Weltordnung etablieren würde. Fesenko schätzt selbst die Wahrscheinlichkeit eines lokalen militärischen Konflikts mit nur 20-30% ein, diejenige eines regelrechten ukrainisch-russischen Krieges nur mit 1-2%.

Wenn der militärische Konflikt in der Ostukraine jedoch engültig einfröre, würden tausende bewaffnete Männer frei, bemerkt Zolotarev. Würden sich diese auf die Seite der einfachen Bevölkerung schlagen, das "Unten", so müsse das zu Chaos und zu einen Zerfall des Staates führen, weil diese Seite keine Eliten und keine Machtstrukturen habe. Würden sie die Seite des "Oben" verstärken, so müsse das zu einer Diktatur führen und das "Oben" würde die Schrauben anziehen. Mein Kommentar dazu ist, dass das extrem aufgeblähte Verteidigungsbudget für 2015 der Regierung dazu dienen soll, diese Leute zu "kaufen". Ich erwarte jedoch, dass es hier nicht unbedingt das einfache von Zolotarev skizzierte Entweder-Oder geben wird. Wahrscheinlicher ist, dass ein Teil der bewaffneten Kräfte sich auf die Seite der Oligarchen schlägt und ein anderer Teil auf die Seite der einfachen Bevölkerung. Das würde zu einer Ausweitung des Bürgerkriegs auf die Zentral- und Westukraine führen. Meine Vorhersage ist, dass die Kiewer Regierung im Frühjahr versuchen wird, den militärischen Konflikt um das Donbass zu reaktivieren, um ein solches Szenario zu vermeiden. Eine weitere von Zolotarev und Fesenko diskutierte Option ist eine Regierungsumbildung, bei der Jazenjuk zum Sündenbock für die sozialen Probleme gemacht werden würde. Auch das berge jedoch das Risiko chaotischer Zustände, weil sich die Eliten wohl kaum auf einen neuen Premierminister werden einigen können.

Mögliche Szenarien der Ukraine-Politik der EU

Die bisherige, auf eine EU-Assoziation der Ukraine gerichtete Politik ist trotz des formellen Abschlusses eines Abkommens gescheitert. Unter den gegenwärtigen Bedingungen und in absehbarer Zeit hat das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine keine reale Bedeutung. Das wird auch international wahrgenommen und stellt die außenpolitische Glaubwürdigkeit der EU in Frage.

Eine Politikänderung setzt zunächst einmal voraus, dass die bisherige Politik als falsch erkannt wird. Dafür gibt es erste Anzeichen. Zwei aktive Politiker von EU-Staaten haben öffentlich auf eine Änderung der Politik gegenüber der Ukraine und Russland gedrängt. Der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer hat am 28. Dezember 2014 vor weiteren Sanktionen gegen Russland gewarnt, Fehler der EU eingeräumt und die Kiewer Regierung aufgefordert, das Problem durch eine Dezentralisierung oder Föderalisierung anzugehen. Der Präsident der Tschechischen Republik hat am 3. Januar in einem Interview mit der Zeitung "Pravo" Jazenjuk als einen Kriegspremier bezeichnet, wie auch die ukrainische Glavcom berichtet. Der Umsturz im Februar sei keine demokratische Revolution gewesen. In diesem Sinne hatte sich bereits im Juli in einem Interview mit New Eastern Europe der ehemalige polnische Staatspräsident Lech Walesa geäussert, der keiner Sympathien für Russland oder Putin verdächtig ist. Zeman nennt den Bürgerkrieg in der Ukraine auch einen Bürgerkrieg, eine Einsicht, die den meisten EU-Politikern zu fehlen scheint oder die sie zumindest nicht aussprechen.

Ein deeskalierender Einfluss der EU auf die Ukraine-Krise ist dennoch zumindest kurzfristig nicht zu erwarten. Die fundamentalistisch anti-russische Regierung Litauens wird jeden Versuch blockieren, die Sanktionen gegen Russland zurückzunehmen und auf die Kiewer Regierung dahingehend einzuwirken, die berechtigten Interessen des Donbass an guten wirtschaftlichen Beziehungen und Nachbarschaftsbeziehungen mit Russland zu wahren. Diese Haltung wird sich erst ändern, wenn die bereits jetzt zu spürende Unzufriedenheit der Bevölkerung Litauens mit den wirtschaftlichen Konsequenzen der anti-russischen Politik laut wird. Wichtiger ist die zur Zeit extrem schädliche Haltung von Angela Merkel, von der sich Leute wie Jazenjuk und in den USA Biden bestätigt fühlen müssen. Dass Deutschland entgegen seinen eigenen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen die Rolle des Vermittlers aufgegeben hat und auf Konfrontation umgeschwenkt ist, wird die Krise verschärfen. Man kann nur hoffen, dass Österreich und Tschechien zumindest verhindern, dass noch weiter Öl ins Feuer gegossen wird.

Insgesamt muss man sagen, dass die EU sich in einer Art Geiselhaft befindet. Die Handlungen der Kiewer Regierung schaden der EU wirtschaftlich und politisch, die EU hat aber keinen genügenden Einfluss auf diese Regierung. Selbst wenn sie ihn hätte, wäre unklar, ob die Kiewer Regierung angesichts der wirtschaftlichen und (para)militärischen Machtverhältnisse im Lande eine vernünftigere Politik überhaupt durchsetzen könnte. Angesichts der großen Risiken für die EU muss eine Einflussnahme in Richtung einer Stabilisierung der Ukraine allerdings unbedingt versucht werden. Bedingung dafür ist, dass unsere Politiker endlich begreifen, dass in dieser Hinsicht Interessenübereinstimmung mit Russland besteht. Die Propaganda unserer Seite mag ein anders Bild gezeichnet haben, aber objektiv hat Russland kein Interesse an einem gescheiterten Staat an seiner Westgrenze und Putin ist rational genug, entsprechend zu handeln.

Ein erster Schritt wäre eine ehrliche Kommunikation unserer Politiker mit der Bevölkerung. Zumindest die intelligenteren unter ihnen wissen in groben Zügen all das, was ich in diesem Artikel beschrieben habe. Sie wissen, dass die gegenwärtige Ukraine- und Russland-Politik der EU ausweglos sind. Es wird Zeit, die Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, dass man den Kurs ändern muss.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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