Inzidenzinflation

Covid-19 Die unkontrollierte Einführung von Schnelltests, ohne dass vorher repräsentative Testserien etabliert sind, führt in einen Blindflug.

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Politiker und viele Journalisten versuchen uns weiszumachen, dass die massive Nutzung von Schnelltests in der Bevölkerung zu einer besseren Kontrolle des Epidemieverlaufs führen wird. Ich diskutiere hier, welche Konsequenzen tatsächlich zu erwarten sind und stelle am Schluss die Frage, warum die Schnelltests tatsächlich unters Volk gebracht werden.

Was Inzidenz wirklich ist

Die tatsächliche Inzidenz ist der Anteil gegenwärtig mit Covid-19 infizierter Personen in der Gesamtbevölkerung. De zeitliche Verlauf dieser Inzidenz wäre ein hervorragender, wenn auch nicht perfekter Datensatz für die Planung und Steuerung. Perfekt ist er deshalb nicht, weil man zusätzlich wissen möchte, wie sich die Inzidenz auf verschiedene Bevölkerungsgruppen verteilt und wie sich diese Verteilung zeitlich ändert. Wenn man zusätzlich noch die wichtigsten Wege der Infektionsübertragung und deren Anteile an den gesamten Übertragungen kennen würde, könnte man sehr gezielt Maßnahmen ergreifen, deren schädliche Nebenwirkungen minimiert wären. Je nach Bedarf könnte man sie zügig herunter- und wieder hochfahren. Das ließe sich der Bevölkerung auch gut erklären.

Nun hat man prinzipiell keine idealen Messdaten. Um die tatsächliche Inzidenz mit Tagesauflösung zu kennen, müsste man jeden Bürger täglich mit einem Verfahren testen, das erstens tatsächliche Infektionen detektiert, zweitens keine falsch negativen und drittens keine falsch positiven Ergebnisse liefert. Ein solches Verfahren gibt es nicht.

Man könnte aber Daten haben, die gemessen an den anderen Unsicherheiten ausreichend genau sind. Dazu reichen die PCR-Tests aus, für die man mit statistisch hinreichender Genauigkeit den Bezug zwischen dem dabei ermittelten Ct-Wert und der Wahrscheinlichkeit kennt, tatsächlich infektiös zu sein. Der Ct-Wert ist die Zyklenzahl, nach der ein positives Ergebnis auftritt. Zusätzlich benötigt man nur noch eine hinreichend große, repräsentativ ausgewählte Gruppe der Bevölkerung, die regelmäßig getestet wird. Das können immer die gleichen Personen sein, also eine Kohorte, was andere Vorteile hat. Allerdings ist es für die ausgewählten Personen über längere Zeit unbequem. Alternativ könnte man ein Verfahren verwenden, in dem die Personen wechseln, das aber trotzdem repräsentative Ergebnisse liefert. In beiden Fällen man kann die Daten einschließlich einer Abschätzung ihrer Unsicherheit ermitteln.

Die Forderung, genau das zu tun, ist über 10 Monate alt und ging damals in einem offenen Brief eines Experten an die Bundeskanzlerin. Die Verantwortung dafür, dass es noch immer nicht getan wird, liegt beim Robert-Koch-Institut (RKI) und der Bundesregierung. Die Verantwortung, dass es nicht wenigstens in den Ländern getan wird, liegt bei den Landesregierungen.

Anstieg der gefühlten Inzidenz

Was vom RKI als Inzidenz bezeichnet und täglich in den Medien diskutiert wird, ist keine. Es ist die Zahl positiver PCR-Tests über eine Woche normiert auf die Bevölkerungszahl aber nicht auf die Zahl der Tests. Daraus lässt sich die tatsächliche Inzidenz deshalb nicht ermitteln, weil die Auswahl der getesteten Personen nicht repräsentativ erfolgt, sondern nach anderen Gesichtspunkten. Selbstverständlich ist es legitim und in gewissem Ausmaß sogar notwendig, einen großen Teil der Testkapazität nach anderen Gesichtspunkten zu nutzen. Nicht legitim ist es, die Zahl der dabei auftretenden positiven Testergebnisse als Maß für die Inzidenz zu betrachten. Das ist, statistisch gesehen, Unsinn und der zeitliche Verlauf, der so ermittelten Zahl ist für die Steuerung unbrauchbar. Dieser zeitliche Verlauf wird nicht nur durch eine Änderung in der Gesamtzahl der Tests beeinflusst, sondern auch durch zeitliche Veränderungen in der Auswahl der getesteten Personen aus der Gesamtbevölkerung. Bisher gab es zwei Zeiträume, in denen die wöchentliche Testzahl stark erhöht wurde und der Zeitverlauf der behaupteten Inzidenz dadurch verfälscht wurde. Es handelte sich um die ersten Wochen der Epidemie und um eine Periode etwa Mitte Juni bis Mitte Juli 2020. In beiden Fällen wurden die steigenden Zahlen durch starke Propaganda in den Medien begleitet und als Anlass zur Einführung restriktiver Maßnahmen benutzt. Diese in den Medien diskutierte und von Politikern zur Argumentation verwendete Inzidenz nenne ich im Folgenden die politische Inzidenz. Sie ist nur eine gefühlte Inzidenz und genau das ist auch ihr Kern.

Wir befinden uns unmittelbar vor dem dritten unrealistischen Anstieg der politischen Inzidenz. Er ist ernster als die vorhergehenden, weil der Mechanismus der Verzerrung der Daten komplexer ist. Zunächst einmal wird die politische Inzidenz durch eine massive Ausweitung der Tests erhöht, wie schon in den beiden vorherigen Episoden. Dieser Teil des Effekts kommt von den Schnelltests, die von geschultem Personal in Arztpraxen oder Testzentren durchgeführt werden, wobei die Ergebnisse unmittelbar in die Statistik eingehen. Der Effekt lässt sich nicht einfach durch Normierung auf die Zahl der Tests korrigieren, weil die massive Ausweitung die Auswahl der getesteten Personen aus der Grundgesamtheit verändern wird.

Der zweite Teil des Effekts kommt von den Personen, die sich beim Discounter für 5 Euro/Test Schnelltests gekauft haben oder die vom Staat scheinbar kostenlos zur Verfügung gestellten Schnelltests benutzen. Diese werden sich zum größten Teil bei einem positiven Selbsttest – und nur dann – von geschultem Personal noch einmal testen lassen. Falls sich das Ergebnis bestätigt, gehen diese positiven Tests in die Statistik ein, die negativen Ersttests aber nicht. Eine Normierung auf die Zahl der Gesamttests wird so unmöglich. Die Auswahl der getesteten Personen aus der Grundgesamtheit verschiebt sich zugunsten infizierter Personen. Diese Verschiebung erfolgt völlig unkontrolliert, so dass keine Möglichkeit einer Korrektur besteht.

Das Ergebnis ist, dass in der Übergangsphase, die mehrere Wochen andauern kann, der Zeitverlauf der politischen Inzidenz keinerlei Aussagekraft hat. In jedem Fall wird die politische Inzidenz bei konstanter tatsächlicher Inzidenz ansteigen und es steht kein auch nur annähernd zuverlässiges Normierungs- oder Korrekturverfahren zur Verfügung. Es ist nicht einmal klar, wie lange die Übergangsphase dauern wird. Zu erwarten ist, dass es eine Welle von Selbsttests gibt, die dann wieder abklingt. Man wird den Zeitverlauf dieser Welle aber nicht kennen und nicht einmal aus den Verkaufszahlen der Schnelltests zuverlässig abschätzen können.

Bewusster Blindflug

Der Zeitverlauf der Zahl positiver PCR-Tests auf SARS-Cov2 war nie eine sehr gute Diagnostik für den Epidemieverlauf. Er ist aber immer noch die schnellste Diagnostik. Wenn wir uns also tatsächlich in einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite befinden und die Gefahr einer dritten Welle real ist, kann man es nicht anders als kriminell bezeichnen, diese Diagnostik aus der Hand zu geben, ohne einen mindestens ebenso guten oder besseren Ersatz zu haben.

Es mag gute Gründe geben, die preiswerten und in großer Zahl verfügbaren Schnelltests zu verwenden, um einen größeren Anteil infizierter Personen eher zu entdecken und dadurch die Verbreitung von Covid-19 zu verlangsamen. Das muss man allerdings klar von der Erfassung der Daten entkoppeln, die man zur Steuerung benötigt. Abgesehen von dem Blindflug, in den man sich so ohne Not begibt, kontaminiert man übrigens auch die Daten, die benötigt würden, um den Epidemieverlauf und die Einflüsse darauf zu verstehen.

Spätestens mit der massiven Einführung der Schnelltests muss daher eine repräsentative Ermittlung der tatsächlichen Inzidenz einsetzen. Die Daten aus dieser Quelle müssen bei der Steuerung und in der öffentlichen Diskussion die aussagelosen politischen Inzidenzwerte ersetzen.

Gründe für den Unsinn

Nichts von dem, was ich hier dargelegt habe, ist unbekannt gewesen. Jeder, der eine Basiskompetenz für die Einschätzung des Epidemieverlaufs hat, weiß das. Zwar kann man über die Kompetenz des RKI-Chefs Lothar Wieler nur spekulieren. Dass seine öffentlichen Äußerungen die Anwesenheit einer solchen zumeist nicht belegen, ist allerdings nicht hinreichend, um die Abwesenheit einer solchen zu beweisen. Was die Bundeskanzlerin betrifft, so hat sie eine Doktorarbeit über die Berechnung von Geschwindigkeitskonstanten chemischer Reaktionen auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden geschrieben. Es ging da also um die Vorhersage des Zeitverlaufs bestimmter Prozesse und die dazu nötige Statistik. Dass Angela Merkel nicht einschätzen kann, was die Inzidenz wirklich ist und wie man sie korrekt abschätzen kann, ist keine plausible Annahme.

Man darf sich deshalb die Frage stellen, warum die Politik und die ihr unterstellte RKI-Führung die Öffentlichkeit – und letztlich auch sich selbst – bewusst über den tatsächlichen Epidemieverlauf täuschen. Desweiteren darf oder muss man sich fragen warum sie sich seit zehn Monaten weigern, Daten so zu ermitteln, dass der Epidemieverlauf auf wissenschaftlich haltbare Weise verfolgt werden kann. Aus meiner Sicht gibt es keine andere Erklärung als diejenige, dass sie aus anderen Interessen handeln als demjenigen an der bestmöglichen Antwort auf die Epidemie.

Was diese Interessen sind, darüber kann man wiederum nur spekulieren. Recht sicher ist nach allen Beobachtungen, dass autoritäres staatliches Handeln, ein Machtzuwachs der Exekutive aus Kosten der Legislative und Einschränkungen der Freiheiten der Bevölkerung zu diesen Interessen gehören. Damit ergibt sich ein Interessenkonflikt zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung. Aus Sicht der Bevölkerung folgt daraus, dass sie ihre eigenen, sehr beschränkten Machtmittel maximal nutzen sollte, um ihre Interessen soweit wie möglich zu wahren. Das erfordert, bei anstehenden Wahlen keiner der Parteien eine Stimme zu geben, die diese manipulative Politik verantworten oder ihr Hand bieten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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