Keine Evidenz für einen Nutzen des Shutdowns

Covid-19 Auch in der zweiten Welle korrelieren in Europa strengere Maßnahmen mit höheren Sterberaten.

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Politiker und Journalisten behaupten gern, es brauche einen strengeren Shutdown oder gar einen Lockdown, weil die Zahl der positiven SARS-Cov2-Tests und der Sterbefälle auf einem hohen Niveau verharren. Damit diese Behauptung glaubhaft wäre, müsste es Evidenz für die Wirksamkeit dieser Maßnahmen geben. Solche Evidenz ist seit Monaten nie vorgelegt worden. Es ist deshalb sinnvoll, der Sache noch einmal selbst nachzugehen. In der ersten Epidemie-Welle, die in Europa etwa von Anfang März bis Ende Mai andauerte, hatte sich solche Evidenz weder in den Zeitreihen positiver Tests noch in denjenigen der Sterbefälle finden lassen. Hier gehe ich der Frage nach, ob das in der zweiten Welle, die etwa Anfang Oktober begann und noch andauert, anders ist.

Dazu habe ich die Daten zur Zahl positiver SARS-Cov2-Tests und zur Zahl der Covid-19 zugeschriebenen Sterbefälle, wie sie auf EU Open Data verfügbar sind, für 39 im Datensatz mit dem Kontinent Europa gekennzeichnete Länder ausgewertet. Die Kriterien für die Aufnahme in die Auswertung waren, dass die Zahl der Sterbefälle 2016 durch Atemwegserkrankungen für das Land aus einer Studie in The Lancet Infectious Diseases bekannt ist und dass Angaben über die Regierungsmaßnahmen in dem Land im Oxford Stringency Index vorliegen. Die 39 Länder, zu denen auch Russland gehört, haben insgesamt 837 Millionen Einwohner und hatten seit Beginn der Pandemie 421‘932 Sterbefälle zu verzeichnen. Das sind etwa 28% aller weltweit Covid-19 zugeschriebenen Sterbefälle. Gleichzeitig sind es fast doppelt so viele Sterbefälle wie 2016 in diesen Ländern Infektionen der unteren Atemwege zugeschrieben wurden. Das zeigt, dass die Epidemie nicht unerheblich ist. Zugleich zeigt es aber auch, dass die Epidemie nicht annähernd die Größenordnung hat, die spätere Historiker anhand einer Analyse der Reaktion der Regierungen vermuten würden. Das am stärksten betroffene Land, Bosnien-Herzegowina, hat achtmal so viele Sterbefälle zu verzeichnen, wie 2016 durch Atemwegsinfektionen. Zehn Länder haben weniger Covid-19 zugeordnete Sterbefälle als sie 2016 Todesfälle durch Atemwegsinfektionen hatten. Zu diesen Ländern zählt auch Deutschland (80%).

Zunächst habe ich mir einen Überblick über den Gesamtverlauf der Epidemie in diesen 39 Ländern verschafft (Abbildung 1, links). Zu sehen ist, dass die Relation von Sterbefällen zu positiven SARS-Cov2-Tests in der zweiten Welle (seit etwa Anfang Oktober) ganz anders ist als in der ersten Welle (März bis Mai). Deshalb und weil die zweite Welle noch nicht abgeschlossen ist, empfiehlt es sich, beide Wellen getrennt zu analysieren. Das ist auch deshalb sinnvoll, weil in der ersten Welle das Gesundheitswesen nahezu unvorbereitet getroffen wurde – trotz Pandemieplanung und den Nachrichten aus Wuhan, die Wochen vorher bekannt wurden. Die Regierungen verfielen im März ganz offensichtlich in eine Panikreaktion, für die man angesichts dramatischer lokaler Zustände anfangs ein gewisses Verständnis aufbringen konnte.

Seitdem hat die Medizin und die Epidemiologie viel über Covid-19 herausgefunden – wenn auch letztere gerade in Deutschland nicht annähernd so viel, wie mit einer repräsentativen Teststrategie und umfangreichen serologischen Untersuchungen möglich gewesen wäre. Diese Datenermittlung hätte einen kleinen Bruchteil dessen gekostet, was die deutsche Regierung bereits bisher in der Corona-Krise ausgegeben hat. In jedem Fall wurden die europäischen Regierungen von der zweiten Welle nicht unvorbereitet getroffen und bestand angesichts der Erfahrungen mit der ersten Welle kein Anlass zu Panik. Es war monatelang über Maßnahmen und über die Ergebnisse der Frühjahrs-Lockdowns diskutiert worden.

Zunächst fällt in den Daten der zweiten Welle (Abbildung 1, links) auf, dass der Anstieg der Sterbezahlen wochenlang ohne Verzögerung demjenigen der Zahl positiver Tests folgte. Im Mittel über die 39 Länder betrug die Zahl der der Sterbefälle in dieser Periode 1% der Zahl positiver Tests. Ein ähnliches Verhalten hatte ich vor einigen Wochen bei den Covid-19 zugeschriebenen Hospitalisierungen in der Schweiz bemerkt (2,3%). Zu erwarten ist so etwas nicht, bei den Sterbefällen noch viel weniger als bei den Hospitalisierungen. Ich persönlich sehe nicht, wie das mit einer korrekten Zuordnung konsistent sein kann – wir reden hier über Tausende Fälle.

Seit Anfang November sinkt im Mittel über die 39 Länder die Zahl positiver Tests wieder. Insgesamt gesehen, klingt die 2. Welle bereits ab, wenn auch nicht in jedem einzelnen Land. Die Zahl der Sterbefälle steigt dagegen weiter. Das wäre an sich nicht ungewöhnlich, weil man eben eine Verzögerung erwartet. Man kann allerdings durch Kreuzkorrelation der beiden Zeitreihen, bestimmen wie groß diese Verzögerung ist (Abbildung 1, rechts). Die Kreuzkorrelation stellt fest, ob zwei Zeitreihen überhaupt korreliert sind und wenn ja, wie sich diese Korrelation in Bezug auf eine Verzögerung zwischen den beiden Zeitreihen verhält. Ich habe eine solche Kreuzkorrelation für die Daten vom 1. September bis zum 3. Dezember durchgeführt, dem letzten Tag, an dem sie für alle 39 Länder verfügbar waren.

Nicht verwunderlich ist, dass die Korrelation bei einer Zeitverschiebung von Null Tagen hoch ist und dann sofort absinkt – man sieht genau das ja im linken Teil der Abbildung von Anfang September bis Anfang November. Sie sinkt bis zu einer Zeitverschiebung von etwa 40 Tagen, dann steigt sie wieder, mit einem bisherigen Scheitelpunkt bei etwa 90 Tagen. Diese Verzögerung erscheint nun wieder zu lang. Es kann ja sein, dass einzelne Covid-19-Patienten 3 Monate nach der Infektion versterben. Dass aber etwa die Hälfte ohne Verzögerung stirbt und die andere nach Monaten, ist ein absurdes Ergebnis. Diesen Daten müssen andere Phänomene zugrunde liegen, als normale Krankheitsverläufe.

Wie dem auch sei, für sich allein betrachtet, wirkt die Zeitreihe der Sterbefälle nicht auffällig. Wir nehmen jetzt an, dass sie eine Realität widerspiegelt und untersuchen, ob diese Realität durch die Regierungsmaßnahmen beeinflusst wurde. Dabei empfiehlt es sich nicht, die Zeitreihe der Sterbefälle mit derjenigen des Oxford Stringency Index zu korrelieren, der die Strenge der Regierungsmaßnahmen misst. Es ist offensichtlich, dass eine hohe Strenge dann stark mit einer hohen Zahl von Sterbefällen korreliert. Während der zweiten Welle, wie auch schon während der ersten, wurden die Maßnahmen in der Anstiegsphase der Welle eingeführt. Die linke Grafik in Abbildung 1 zeigt, dass im gleichen Zug die Zahl der Sterbefälle anstieg.

Stattdessen untersuchen wir besser, ob unterschiedliche Strenge verschiedener Regierungen mit der Gesamtzahl der Sterbefälle in der zweiten Welle antikorreliert ist. Das würde belegen, dass die Maßnahmen erfolgreich waren – strengere Maßnahmen hätten im Mittel zu weniger Sterbefällen geführt. Für die erste Welle wissen wir bereits, dass dem nicht so war – im Gegenteil (Abbildung 2, links). Immerhin konnte man da noch argumentieren, dass die Regierungen derjenigen Länder, die sehr früh sehr stark getroffen wurden, wie etwa Italien (der Punkt ganz oben) und Frankreich, auch die rigidesten waren, während dünner besiedelte Länder wie Belarus (der Punkt ganz links), in denen sich die Epidemie viel langsamer verbreitete, die Freiheiten der Bevölkerung und der Wirtschaft kaum einschränkten.

Diese Argumentation ist in der zweiten Welle nicht mehr möglich. Die Epidemie ist in Belarus angekommen und obwohl die Regierung dort immer noch eine leichtere Hand führt, ist sie strenger als im Frühjahr. Es ist aber immer noch so, dass die Anzahl der Sterbefälle, normiert auf diejenige der Sterbefälle durch Atemwegserkrankungen 2016, mit der Strenge der Maßnahmen korreliert ist und nicht antikorreliert. Die Korrelation ist schwach (Korrelationskoeffizient für die 1. Welle 0,275, für die 2. Welle 0,265) und muss nicht unbedingt bedeuten, dass die Maßnahmen kontraproduktiv sind. Ausschließen kann man das freilich angesichts der Stabilität der Korrelation auch nicht. Es ist durchaus denkbar, dass die Gesamtheit der Shutdown-Maßnahmen die Zahl der Sterbefälle erhöht hat. Wer das Gegenteil behauptet, sollte das jedenfalls mit Daten belegen und nicht nur mit irgendwelchen Plausibilitätserwägungen. Von den letzteren kommen zwölf auf das Dutzend und sie sind alle wissenschaftlich nichts wert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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