Keine Verschwörungstheorie

Covid-19 Die Entstehungsgeschichte des Corona-Strategiepapiers aus dem Bundesministerium des Innern lässt tief blicken.

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„Mao ist an die Macht gekommen in einem Land, in dem die hochkultivierte Intellektuellenelite vorher uneingeschränkt herrschte. Dann schickte Mao die Intellektuellen Kloputzen, und das Land entwickelte sich, während es vorher der "Kranke Mann Asiens" war.“

Otto Kölbl, Autor der Horror-Passagen des Strategiepapiers des BMI auf Twitter

Ende März 2020 spielte das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) einem Rechercheverbund von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR ein Strategiepapier „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“ zu, das ansonsten noch als vertraulich eingestuft war. Die Süddeutsche Zeitung berichtete darüber am 27. März, die TAZ, der das Papier auch vorlag, einen Tag später.

Am 8. April wurde das Papier dann auch dem Ausschuss für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages zugestellt. Die AfD-Fraktion im Bundestag formulierte aufgrund der Presseberichte eine Kleine Anfrage, die am 24. April von der Bundesregierung beantwortet wurde. Die Antwort behauptet, das BMI habe nur koordinierend und redaktionell gewirkt. Sie behauptet weiter „Der Bundesregierung liegen über das Dokument hinaus keine Informationen vor, die es ermöglichen, Fragen zu den dahinterliegenden Annahmen oder zu Abwandlungen der Szenarien bzw. Berechnungen im Sinne der Fragestellungen zu beantworten.“ Die Antwort verschweigt die Beteiligung des Robert-Koch-Instituts (RKI) an der Entstehung des Papiers. Das RKI ist eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Gesundheitsministeriums.

Am 28. April 2020 stellte das BMI das Papier öffentlich. Die Beteiligung des RKI wurde bekannt. Am 12. Juni 2020 stellte ein Rechtsanwalt auf der Basis des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) im Namen seiner Mandanten beim RKI einen Antrag auf Akteneinsicht in die beim RKI vorliegenden Unterlagen zur Entstehung des Strategiepapiers. Am 9. November 2020 gab das RKI diesem Antrag statt und versprach einen elektronischen Versand der Akten unmittelbar nach Bestandskraft dieser Entscheidung gegenüber Drittbetroffenen. Am 2. Februar 2021 versandte der Leitungsstab des RKI die Unterlagen an den Anwalt. Die Namen und E-Mail-Adressen aller externen Experten sind geschwärzt. Das geschieht unter Berufung darauf, dass diese der Informationsübermittlung nicht zugestimmt hätten. Allerdings werden die Institutionen genannt, an denen diese Experten arbeiteten: Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, University of Nottingham Ningbo China, Universität Kassel, Universität Lausanne, Turgot Ventures AG, Pfäffikon, Schweiz

In einem Beitrag vom 9. Februar 2021 deutete die Frankfurter Rundschau massive Einflussnahme des BMI auf die Wissenschaftler an. Am 10. Februar befragte der Ausschuss für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages den Staatssekretär im BMI, Markus Kerber dazu. Daraufhin ersuchte die Referatsleiterin GII2 Politische Ordnungsmodelle und hybride Bedrohungen im BMI, Hanna Katharina Müller, am 12. Februar 2021 das RKI um Übersendung der bereits offengelegten Korrespondenz. Sowohl Markus Kerber als auch Hanna Katharina Müller waren in den E-Mail-Austausch zur Entstehung des Strategiepapiers eingebunden. Knapp zwei Stunden später kam der Leitungsstab des RKI diesem Ersuchen per Antwort-E-Mail nach.

Am 21. Februar identifizierte Die Welt den Mitwirkenden von der Universität Lausanne als den Germanisten Otto Kölbl, der dort als ein externer Sprachprüfer tätig ist und sich durch ein Thesenpapier („Von Wuhan lernen“) zusammen mit Maximilian Mayer (Universität Bonn) qualifiziert hatte. Das ist ohne Bezahlbarriere auch im österreichischen Standard nachzulesen, der am 26. Februar berichtete. Die Universität Lausanne hatte Otto Kölbl nach Bekanntwerden der Umstände aufgefordert, nicht mehr die Universitäts-E-Mail-Adresse für Privatprojekte zu verwenden.

Am 3. März wandte der Anwalt sich mit einem Ersuchen auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes an das BMI und bat sowohl um die Übersendung des gesamten E-Mail-Verkehrs im Zusammenhang mit der Entstehung des Strategiepapiers als auch um das Dokument „Maßnahmenkatalog 4“. Am 9. März beschied das BMI dieses Ersuchen abschlägig. Es handle sich um einen offenen Gedankenaustausch im Entwurfsstadium, der nicht veraktet worden sei. Ein Dokument „Maßnahmenkatalog 4“ sei im BMI nicht bekannt.

Am 13. März, also gestern, sind die vom RKI versandten Dokumente sowie der E-Mail-Austausch zwischen BMI und RKI und der Brief des BMI an den Anwalt vom 9. März teilweise geleakt worden. Das Leak scheint den gesamten beim RKI vorliegenden E-Mail-Verkehr zu umfassen, wobei ein großer Teil der Anlagen zu Modellen und Datensammlungen fehlt.

Zunächst kann man aus dem Leak leicht einen zweiten Mitwirkenden identifizieren. Die Schwärzung ist, sagen wir, etwas dilettantisch erfolgt. Man findet sehr schnell, dass die Person von der University of Nottingham Ningbo China deutschsprachig ist und Assistenzprofessor an der dortigen School of International Studies war. Vor allem aber sind unter dem E-Mails dieser Person Links zu ihren neuen Publikationen sichtbar verblieben. Von diesen sind einige Einzelautorpublikationen. Wenn Sie wissen wollen, wie Maximilian Mayer (jetzt Universität Bonn) denkt, kann ich auch seinen 2018er Artikel in International Affairs empfehlen, der allerdings leider nicht öffentlich zugänglich zu sein scheint.

Das Strategiepapier ist im Zeitraum vom 20. bis zum 23. März 2020 entstanden, nachdem am Nachmittag des 19. März ein Beteiligter vom RWI ein ökonomisches Modell an den Staatssekretär im BMI, Markus Kerber, an RKI-Chef Lothar Wieler und an vier andere Beteiligte geschickt hatte. Zu diesen gehörten zunächst Maximilian Mayer und Otto Kölbl nicht. Weil ab diesem Zeitpunkt Lothar Wieler eingebunden war, liegt uns der Rest des E-Mail-Verkehrs bis zum 23. März vor. Im ersten Mail an alle schreibt Markus Kerber: „Ich habe gegenüber meinem Freund und Nachbarn Lothar Wieler die Situation mit Apollo 13 verglichen. Sehr schwierige Aufgabe, aber mit Happy End durch maximale Kollaboration.“ (Hervorhebung von mir).

Bevor wir uns der Entstehungsphase des Strategiepapiers zuwenden, sind noch einige E-Mails vom 16. April 2020 von Interesse. An diesem Tag teilt Markus Kerber seiner Expertenrunde mit, dass es Presseanfragen nach den Namen der Autoren des Papiers gäbe und fragt, ob sie mit der Nennung ihres Namens und ihrer Institution einverstanden seien. Vier Antworten sind dokumentiert. Eine war leicht reserviert und schlug vor, statt der Sprachregelung „Die Autoren waren...“ besser die Sprachregelung „am Text haben mitgewirkt“ zu verwenden. Das legt nahe, dass dieser Experte oder diese Expertin sich nicht mit allen Textstellen identifizieren wollte. Die anderen Antworten waren: „Jo freilich“, „Ja gerne“ und „Gerne!“. Diese Einstellung scheint sich seitdem geändert zu haben.

Schlüsselstellen der Entstehungsgeschichte

Am 20. März gewann Markus Kerber die Herren Maximilian Kayer und Otto Kölbl für das Gremium. Mit dem folgenden Satz führt sich einer der Beiden ein und das ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Otto Kölbl, da er im gleichen E-Mail nur allgemein analytische Fähigkeiten und keine Expertise für das Gebiet erkennen lässt: „Das grundlegende Problem, für das ich mich zuständig fühle, ist das von Affektivität und Legitimität, sprich: von Angst und Folgebereitschaft in der Bevölkerung.“

Ebenfalls am 20. März bedankt sich Markus Kerber für das erste epidemiologische Modell: „haben Sie herzlichen Dank für dieses Modell und das einigermaßen tröstliche Best Case Modell (das mit 126.000 Toten einer schweren Grippe entspräche).“ Es ist nicht ganz klar, wer von den anderen Beteiligten die Expertise gehabt haben sollte, ein solches Modell aufzustellen. Wir werden aber weiter unten sehen, dass es auf Expertise dabei nicht ankam.

Am 21. März schreibt einer der beteiligten Ökonomen „Dementsprechend wäre es naiv, davon auszugehen, dass ein Rückgang um eine zweistellige Zahl des BIP, etwa jenseits der 20%, eine lineare Fortschreibung der Verluste aus dem Fehlen einiger Arbeitstage bedeuten und ansonsten das Gesamtsystem nicht in Frage stellen würde. Aus diesem Grunde sind die ökonomischen Konsequenzen einer Strategie der Eindämmung von Covid-19 unbedingt so gering wie möglich zu halten.“ (Hervorhebung von mir)

Ebenfalls am 21. März wird die Erwartung geäussert, dass die Maximalzahl tatsächlicher täglicher Fälle am 6. April erreicht werden wird, scheinbar aber erst am 13. oder sogar 20. April wegen eines Rückstaus nicht aufgearbeiteter Fälle. Tatsächlicher Inflektionspunkt in Deutschland war dann der 31. März, bezogen auf die gemeldeten Fälle.

Am 22. März schreibt Matthias an der Heiden (RKI): „Es gibt leichte ermutigende Zeichen, die wir aber weiter genau monitoren müssen.“ Zu diesem Zeitpunkt wissen das Gremium und das BMI also bereits, dass, aller Wahrscheinlichkeit nach, die exponentielle Wachstumsphase bereits vorbei ist.

Auch am 22. März bemerkt der Vertreter des RWI, dass auf die Kommunen mehr Ausgaben zukommen, während das Gewerbesteueraufkommen sinken wird. „Ein „Rettungsprogramm“ für Kommunen ist nach meiner Einschätzung unvermeidlich.“

Am gleichen Tag bemerkt einer der Experten „Wir müssen die Schulen nach Ostern auch deshalb wieder öffnen, weil wir ansonsten durch anhaltendes Homeschooling soziale Ungleichheit verstärken (sehr kurz gefasst). Der Lernerfolg online ist sehr begrenzt.“

Ebenfalls am 22. März erfahren wir, wie eigentlich modelliert wird: „Wir haben alles so kalibriert, dass am Ende eine Mortalität auf die Infizierten von etwa 1,2% (ohne Rationierung) herauskommt.“

Darauf antwortet Matthias an der Heiden (RKI): „Ich würde es eher bündeln und die milden Fälle nicht versterben lassen. Intensivpflichtigkeit heißt ja noch nicht, dass jemand auch adäquat versorgt wird – ich denke auch, dass bei entsprechender Überlastung eine Letalität von 80% der Intensivpflichtigen nicht unrealistisch ist... vielleicht kann man zumindest so die 1,2% auch erläutern.“ Das Modell, erfahren wir hier, wurde an die Zahl angepasst, die man kommunizieren wollte. Ich nehme an, dass es eine einfache Excel-Tabelle war – zumindest hätte das für diesen Zweck ausgereicht.

Am 23. März meldet Staatssekretär Markus Kerber Erfolg: „Unser Papier kam bei den beiden *** sehr gut an und wird ob seiner hohen Qualität und Umsicht nun den Weg in das Krisenkabinett der Bundesregierung finden.“ Bei der Schwärzung beruft sich das RKI hier auf einen Satz im IFG, nach dem Informationsfreiheit nicht besteht, wenn und solange die Beratungen von Behörden beeinträchtigt werden. Das dürfte knapp ein Jahr später eine etwas weite Interpretation dieses Satzes sein, aber letztlich ist das belanglos. Wer steht über einem Staatssekretär und kann ein Papier in das Krisenkabinett der Bundesregierung einbringen? Eine der beiden Personen muss Horst Seehofer gewesen sein. Die andere war aller Wahrscheinlichkeit nach Jens Spahn.

Warum das keine Verschwörung des BMI ist

Die Geheimniskrämerei des BMI und – über lange Zeit des RKI – bezüglich dieses Strategiepapiers ließ sinistre Motive vermuten. Tatsächlich ist das Ganze aber vor allem deshalb peinlich, weil es so medioker und inkonsistent ist. Die Zusammensetzung des Gremiums ist zufällig, Experten aus verschiedenen relevanten Gebieten fehlen, die Argumentation ist sprunghaft und auf niedrigem Niveau und es fehlt an Daten, die selbst diese Argumentation stützen würden. Alles kommt aus der hohlen Hand. Das stellt der Krisenantwort der Bundesregierung ein ausgesprochenes Armutszeugnis aus.

Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, der beängstigende politische Naïvität erkennen lässt. Dieser betrifft die Rolle von Maximilian Mayer und Otto Kölbl. Die Auslassungen von Herrn Kölbl dominierten die Diskussion des durchgestochenen Papiers in den Medien Ende März 2020. Hätte man nicht mal vorher mit dem Außenministerium und einer anderen Stelle reden sollen, wessen Interessen hier vertreten wurden?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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