Keine Wahl

Bundestagswahl 2017 Keine der aussichtsreichen Parteien hat ihre Hausaufgaben gemacht. Es gibt keinen Grund, eine von ihnen zu wählen

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Es ist abzusehen - am Horizont
Es ist abzusehen - am Horizont

Foto: Jens Schlueter/Getty Images)

Ich habe mir das wirklich nicht leichtgemacht. Ich habe den Wahl-O-Maten ausgefüllt. Zuerst am Tag, als er freigeschaltet wurde und noch einmal heute, um Effekte von Augenblicksstimmungen auszugleichen. Ich habe meine Antworten mit denen aller 32 Parteien verglichen. Es gewinnt Die Partei (71,7% Übereinstimmung) und es verlieren Die Rechte und die CDU/CSU (jeweils 41.5%). Unter den restlichen Parteien, die eine Chance haben, in den Bundestag einzuziehen, gewinnt die Linke (67,9%) vor den Grünen (62,3%), die ich ihrer antiaufklärerischen Tendenz wegen niemals wählen würde, der FDP (54,7%), der SPD (50,9%) und der AfD (42,5%). Was sagt das aus? Gar nichts. Ja, die Grünen sind die neue Partei der Besserverdienenden und ich bin ein Besserverdienender. Aber sie sind auch die Partei der mittelmäßigen Selbstgerechten und ich hoffte doch eigentlich – aber lassen wir das.

Mancher Fragebogen hat die Schlussfrage: „Erlaubt Ihnen dieser Fragebogen ausreichend, Ihre Meinung auszudrücken?“ Diese Frage fehlt im Wahl-O-Maten und genau diese wäre nötig gewesen. Es wäre diejenige gewesen, die ich mit der kürzesten Überlegung hätte beantworten können. Nein, das tut der Fragebogen nicht. Viele der wichtigen Themen sind ausgespart (Digitalisierung, Rentenniveau, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Verhältnis zu Russland, Verhältnis zur USA etc.). Zu anderen wichtigen Themen sind die Fragen derart unscharf, dass die Antwort nichts aussagt. „Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der Europäischen Union soll verstärkt werden.“ Ja und Nein. Auf manchen Gebieten schon. Auf anderen aber sollte der übermäßige Einfluss von EU-Brüssel verringert werden. Die EU sollte subsidiär werden. Alles, was in den einzelnen Ländern entschieden werden kann, sollte dort entschieden werden, und das, was in EU-Brüssel entschieden werden muss, sollte dort verbindlich für alle entschieden werden. Ich kann das im Wahl-O-Maten nicht ausdrücken. Das ist beim Wahl-O-Maten verzeihlich, denn es gibt nur 38 Fragen und diese müssen kurz und verständlich sein. Das Problem ist aber im ganzen Wahlkampf nicht diskutiert worden, nicht in irgendeiner zielführenden Weise. Und das ist nicht verzeihlich.

Es ist auch nicht das einzige drängende Problem, das nicht diskutiert wurde. Die Führungsmacht des Westens ist praktisch ausgefallen und wer behauptet, das läge nur an der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten und es würde in 3 ½ Jahren eine Rückkehr zum status quo ante geben, lügt sich selbst in die Tasche. Diese Wahl war ein Symptom des Problems, nicht dessen Ursache. Das zugrundeliegende Problem verkleinert sich gegenwärtig nicht, im Gegenteil. Deutschland wird seine Politik dem anpassen müssen. Die Digitalisierung und das, was gegenwärtig unter Künstlicher Intelligenz läuft, werden die Arbeitswelt dramatisch verändern und zur Automatisierung von Tätigkeiten führen, die heute als hochqualifiziert gelten und gut bezahlt werden. Wie will die Gesellschaft damit umgehen? Was sollen die freigesetzten, oft stark spezialisierten und anspruchsvollen Leute tun, wenn ihre Kompetenzen entwertet werden? Sie werden nicht so einfach ruhigzustellen sein wie Hartz-IV-Empfänger. Es mag sein, dass diese Umwälzung in der kommenden Wahlperiode noch keine dramatischen Ausmaße annehmen wird. Aber die Weichen dafür, wie die Gesellschaft damit umgeht, werden in dieser Wahlperiode gestellt werden müssen. Warum diskutiert niemand darüber?

Unsere Gesellschaft spaltet sich, weil die Einen auf einer schnellen gesellschaftlichen „Modernisierung“ bestehen und die Anderen diese vehement ablehnen. Wenn das Land stabil bleiben soll, wird man ein Auskommen miteinander finden müssen. Beide Seiten werden Kompromisse eingehen müssen, sonst fühlen sich die Anderen als absolute Verlierer und empfinden ohnmächtige Wut. Kann man mal darüber reden, ehe es hier so aussieht wie derzeit in den USA? Wann, wenn nicht im Wahlkampf?

Diesen Wahlkampf kann man kurz zusammenfassen. Die Parteien haben sich miteinander beschäftigt, aber nicht mit den Problemen, vor denen das Land steht. Auch ihre Wahlprogramme beschäftigen sich nicht mit diesen Problemen. Sie sind weitgehend eine Übung im Nichtfestlegen, eine Sammlung allgemeiner und unkonkreter Aussagen mit Vorschlägen für homöopathische Veränderungen in einer Zeit dramatischer Umbrüche. Was die Parteien betrieben haben, ist Arbeitsverweigerung. Sie schlagen uns vor, irgendwie weiter zu wursteln, auf der Basis einiger grober Richtungsangaben. Das reicht nicht. So wird das Land zum passiven Spielball der Veränderungen in seinem Umfeld.

Sie werden nicht erwarten, lieber Leser, dass ich Ihnen empfehle, irgendeine dieser Parteien zu wählen. Natürlich werden Sie jetzt einwenden, dass aber irgendjemand regieren muss und dass es Ihre Pflicht als Staatsbürger und Demokrat ist, zur Wahl zu gehen. In Ihnen steckt halt ein kleiner Immanuel Kant. Sie wollen unbedingt so leben, dass Ihr Verhalten als Maßgabe des Verhaltens aller gelten könnte. Aber Kant irrte hier. Menschen sind keine Lemminge. Es gibt eine große Variabilität unter ihnen und diese Variabilität ist für das Funktionieren einer Gesellschaft unabdingbar. Wenn sich alle an Kants Kategorischen Imperativ hielten, würden sie ihr Verhalten alle naselang ändern müssen, weil sonst das uniforme Verhalten aller unweigerlich in eine Katastrophe führen würde. Praktisch ist all das irrelevant. Ich kenne keinen einzigen Menschen, der sich in allem nach dem Kategorischen Imperativ Kants richten würde. Soweit der philosophische Exkurs.

Eine Regierung muss gewählt werden, aber es gibt bis auf Weiteres auch ohne Sie genug Leute, die zur Wahl gehen. Welche Parteien die Regierung bilden, ist angesichts des allgemeinen politischen Konsens ziemlich irrelevant, solange die AfD keine absolute Mehrheit bekommt. Die Regierungspolitik wird, genau wie schon der Wahlkampf, konsequent an allen wichtigen Fragen vorbeigehen – dafür garantiert schon die gegenwärtige und kommende Kanzlerin. Wenn Sie glauben, dass eine Gefahr besteht, dass die AfD am nächsten Sonntag eine absolute Mehrheit bekommt, sollten Sie zur Wahl gehen und irgendeine andere der aussichtsreichen Parteien wählen, egal welche. Aber nur dann.

Wenn Sie es wirklich nicht lassen können, wählen Sie doch meinetwegen Die Partei oder die Partei der Humanisten. Das sind immerhin vernünftigere und stärker reflektierte Leute als die Politiker der aussichtsreichen Parteien. Wenn es Ihnen wie mir geht, und Sie keine Partei finden, der sie die Regierungsverantwortung in die Hand geben möchten, aber wenn Sie trotzdem unbedingt zur Wahl gehen wollen, um Ihre Meinung kundzutun, können Sie auch eine ungültige Stimme abgeben. Das wäre ein deutliches Votum.

Ich selbst bin fein raus. Im anglosächsischen Raum ist der Spruch bekannt „Keine Besteuerung ohne Vertretung“. Der Satz bedeutet, dass jeder, der Steuern zahlen muss, auch wählen dürfen sollte. Das trifft in Deutschland übrigens nicht zu, denn auch Ausländer ohne deutsche Staatsbürgerschaft zahlen Steuern. Den Satz kann man auch umkehren. Ich zahle in Deutschland keine Steuern, weil ich dauerhaft im Ausland lebe und bin vom Wahlergebnis auch nicht direkt betroffen. Ich kann gute Gründe angeben, nicht wählen zu gehen und genau das werde ich tun.

Sie werden vielleicht doch wählen gehen wollen, weil Nichtwählen kein deutliches Votum ist. Es kann als Bequemlichkeit oder Desinteresse interpretiert werden. Die Parteien und Journalisten haben ein starkes Interesse daran, es genau so zu interpretieren. Angeblich war ja das Sommerwetter schuld, als sich selbst angesichts der Alternative Le Pen so viele Franzosen nicht bequemen konnten, für Macron zu votieren.

Bedenken Sie aber, dass es auch falsch interpretiert werden wird, wenn Sie wählen gehen und eine der aussichtsreichen Parteien wählen, so wie eben das Votum vieler Anti-Le-Pen-Wähler falsch als ein Votum für Macron interpretiert worden ist. Sofern Sie nicht die AfD wählen- was ich doch nicht hoffen möchte- wird Ihre Stimme als Zustimmung zur Politik des Vogel-Strauß-Kartells der Stagnation betrachtet werden. Dafür sollten Sie sich eigentlich zu schade sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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