Komplexitätsreduktion

Populismus Die einfache Antwort auf “Populisten” ist, ihnen einfache Antworten auf komplexe Fragen zu unterstellen, auf die man gar nicht eingehen müsse. Es ist aber komplexer.

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Kritik der Kritik des Populismus

Es ist sehr einfach, die Argumentation einer anderen Gruppe zu widerlegen, wenn man nur auf die Aussagen der oberflächlichsten oder ungebildetsten Vertreter dieser Gruppe eingeht. Zum Beispiel könnte man leicht eine Anzahl oberflächlicher Kommentare und Artikel aus Online-Medien zusammenstellen, aus denen deutlich würde, dass der Begriff des “Populismus” inhaltsarm ist (gleichwohl werde ich weiter unten eine Definition zu geben versuchen) und kein Verständnis des zugrundeliegenden Phänomens befördert. Dieses zugrundeliegende Phänomen ist ein Vertrauensverlust in erheblichen Teilen der Bevölkerung gegenüber “Mainstream-Medien” und der politischen Klasse oder allgemeiner gegenüber den Eliten der Gesellschaft. Populismus-Kritik ist der Versuch, für diesen Vertrauensverlust diejenigen verantwortlich zu machen, welche das Vertrauen verloren haben. Diese seien zu dumm, die komplexe Welt zu verstehen und würden daher gnadenlosen Vereinfachern folgen, die nur Scheinantworten hätten. Man sollte annehmen, dass jede einzelne dieser Scheinantworten leicht zu widerlegen ist, denn nur dann kann man ja erkannt haben, dass es tatsächlich eine Scheinantwort ist, die auf einer zu starken Vereinfachung beruht. Diese Widerlegungen der einzelnen Positionen der “Populisten” erfolgen aber in aller Regel nicht und schon gar nicht im Dialog mit gebildeteren Vertretern dieser Richtung, wie etwa Alexander Gauland, Götz Kubitschek oder Jürgen Elsässer.

Das Konzept des “Populismus” dient der Verweigerung von Kommunikation und trägt dadurch zum Entstehen paralleler “Wahrheiten” in einer gespaltenen öffentlichen Diskussion bei, in der die verschiedenen Lager nicht mehr miteinander, sondern nur noch mit sich selbst reden, oder bestenfalls noch übereinander. Einem herrschenden Meinungskartell mag das bequem erscheinen, aber längerfristig kann es fatal sein, wie wir dieses Jahr in den USA erleben mussten.

Wie erkennt man eigentlich Fake-News?

Populisten sind diejenigen, die Fake News verbreiten. Auf der diesjährigen Konferenz des Chaos Computer Club in Hamburg hat der Linguistik-Professor Martin Haase einen etwa vierzig minütigen Vortrag über die “Sprache der Populisten” gehalten und dabei auch diesen Punkt angesprochen. Wenn ich diesen Vortrag hier seziere, vergreife ich mich nicht an einem Schwachen, wie es etwa Haase selbst mit einigen seiner Video-Einspielungen getan hat, die sehr viel weniger eloquente und gebildete als ihn zeigten. Die Analyse von Haases Vortrag ist hier auch von Interesse, weil er in der anschließenden Diskussion selbst dreimal empfohlen hat, mit der Gegenseite nicht zu diskutieren, weil das “sehr schwierig” sei. Sie ist ferner von Interesse, weil man daran überprüfen kann, ob in dieser Auseinandersetzung nur die eine Seite gnadenlos vereinfacht.

Martin Haase hat am Anfang seines Vortrags nicht definiert, was er genau unter Populismus versteht. Am Nächsten kam er einer Definition in der anschließenden Diskussion mit der Bemerkung “Populismus [sei] das Arbeiten mit Gefühlen und nicht mit Argumenten”. Dazu könnte man zunächst bemerken, dass die etablierten Parteien seit geraumer Zeit in ihren eigenen Wahlkämpfen das Gewicht immer weiter von Argumenten zu Emotionen verschoben haben, also sich nach dieser Definition selbst auf den Populismus und das Postfaktische zubewegen. Bleiben wir aber näher an Haases Vortrag. Etwa zu Beginn der 17. Minute sagt er: “Interessant ist dabei, dass ich den Beleg “Toleranzfaschismus” nur mit zwei “l” gefunden habe und erreicht damit einen Lacher und Applaus, also eine Emotionalisierung. Er fährt dann unmittelbar fort: “Ich bin gefragt worden... wie man eigentlich Fake-News erkennt.” Dem Manne kann geholfen werden. Fake-News erkennt man durch Gegenrecherche. Auf diese Idee scheint Andrea Diener im FAZ-Feuilleton nicht gekommen zu sein, als sie dort Haases Vortrag referierte, obwohl es doch wenig plausibel erscheint, dass ein Begriff, der häufig genug verwendet wird, um in einem Vortrag über die Sprache des Populismus als Beispiel zu dienen, grundsätzlich falsch geschrieben wird.

Dem ist auch nicht so, wie sich leicht durch Googeln von "Toleranzfaschismus" (1870 Ergebnisse) und “Tolleranzfaschismus” (2 Ergebnisse, von denen eines erst durch Haases Vortrag erzeugt wurde, also postfaktisch im anderen Wortsinn ist). Die richtige Schreibweise lässt sich mindestens bis April 2007 zurück belegen. Haase verbreitet hier, buchstäblich auf offener Bühne, nun ja, “Fake News”, und zwar um eine Emotionalisierung der Debatte und ein Wohlgefühl im eigenen Lager zu erreichen, genau das also, was er an anderer Stelle der Gegenseite vorwirft. Es geht hier nicht darum, ob er bewusst gelogen hat, oder wirklich zufällig über die eine Stelle mit der falschen Schreibweise gestolpert ist (das ist extrem unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen). Er redet hier als Wissenschaftler auf seinem eigenen Fachgebiet, der Linguistik, und muss wissen, dass er eine solche Behauptung nicht aufstellen kann, ohne wenigstens eine elementare Recherche angestellt zu haben.

Das Beispiel ist extrem, aber kein Einzelfall, in Haases Vortrag nicht und in der breiten Populismus-Diskussion nicht. Das Beispiel ist auch deshalb extrem, weil der Begriff “Toleranzfaschismus” zunächst einmal ja wirklich ein Wortungetüm ist. Faschismus ist per se nicht tolerant. Man dürfte aber von einem Linguisten folgenden, ebenfalls elementaren Gedankengang erwarten. Der Begriff, der selbstwidersprüchlich erscheint, hält sich seit Jahren in der öffentlichen Diskussion bestimmter Gruppen. Er muss also in einem bestimmten Kontext einen gewissen Erklärungswert haben. Ein augenscheinlich selbstwidersprüchlicher Begriff bezeichnet am Ehesten ein Paradoxon, das auf eine verborgene Wahrheit hinweist. Wenn man einmal so weit ist, ist es nicht mehr schwer zu erkennen, was es mit dem “Toleranzfaschismus” auf sich hat. Er bezeichnet ein Haltung, “jeden der anders als die Masse ist, lieb nett und toll zu finden“ (Toleranzaspekt) und zugleich absolute Intoleranz gegenüber denjenigen an den Tag zu legen, die das nicht tun (Faschismusaspekt). Leute, die so sind, gibt es zweifellos und es ist zweifellos rabiat, sie als “Toleranzfaschisten” zu bezeichnen. Es täte der öffentlichen Diskussion aber sehr gut, die Bigotterie zu erkennen, die in dieser Kombination von absoluter Toleranz in die eine Richtung und absoluter Intoleranz in die andere Richtung nun einmal steckt.

Eine derartige Abwesenheit tieferer Analyse findet sich in Haases Vortrag allerorten. So kommt er selbst darauf, dass das Schlagwort “sich fremd im eigenen Land zu fühlen” eine Paradoxie ist, aber er scheint als voll ausgebildeter Linguist nicht zu wissen, dass Paradoxien nicht einfach falsche Sprache sind, sondern im Gegenteil häufig verwendet werden, wenn jemand auf eine (aus seiner Sicht) Fehlentwicklung hinweisen will. An anderer Stelle behauptet er, dass Populisten “Ausländer” mit “Flüchtlingen” gleichsetzen, “Flüchtlinge” mit “Moslems”, “Moslems” mit “Islamisten” und “Islamisten” mit “Terroristen” (es gibt ein Schaubild dieser Gleichsetzung) und mithin also “Ausländer” mit “Terroristen”. Ein so primitives Denken lässt sich nicht einmal in den Interviews erkennen, die Dunja Hayali mit den nicht so gebildeten Leuten auf einer AfD-Demonstration in Erfurt geführt hat und von denen Haase Ausschnitte als Einspielungen benutzt. Haase operiert hier einfach mit haltlosen Unterstellungen, die in keiner Weise besser sind als die haltlosen Unterstellungen aus der rechten Ecke gegenüber den “Gutmenschen”.

Zwei Ungenauigkeiten aus Haases Vortrag will ich noch nennen, weil sie symptomatisch sind für den Diskussionsstil, der gegenüber “Populisten” gepflegt wird. An einer Stelle sagt Hasse, der Begriff “Flüchtlingskrise” entmenschliche eine Minderheit (mit der er vermutlich die Flüchtlinge meint). Es ist schwer zu verstehen, wie ein Linguist zu einer solchen Einschätzung gelangen kann. Eine Krise ist zunächst einmal (laut Duden) eine schwierige bzw. kritische Lage, Situation oder Zeit. Es kann keinen Zweifel geben, dass diese Situation im Herbst 2015 auf die Flüchtlingsbewegung zutraf und dass es somit völlig angemessen war, von einer Flüchtlingskrise zu sprechen. Hier wird die Gegenseite der Diskussion, die bereits zuvor außerhalb eines möglichen Diskurses gestellt wurde, in einer völlig unangemessenen Weise auf alle erweitert, die nicht genau der Meinung von Herrn Haase sind.

Die letzte hier zu behandelnde Ungenauigkeit fällt in die Rubrik des weit verbreiteten Vorurteils, auf der Seite der Populisten befänden sich fast nur Männer, vorzugsweise “verbitterte alte weiße Männer”. Haase findet, der Begriff “besorgte Bürger” werde nur selten gegendert. Es wird zwar nicht völlig klar, was er an dieser Stelle meint, aber man darf wohl annehmen, dass damit dieses Vorurteil bedient wird. Das ist bemerkenswert, nachdem Haase an früherer Stelle seines Vortrags selbst ein Interview mit einer “besorgten Bürgerin” gezeigt hat. Aufnahmen von Pegida-Demonstrationen und AfD-Kundgebungen zeigen regelmäßig, dass diese Interpretation falsch ist.

Haases Vortrag ist symptomatisch für die öffentliche Diskussion der “nicht-populistischen” Seite der Gesellschaft über die “populistische”. Man findet nicht das geringste Bemühen, den Standpunkt der anderen Seite verstehen zu wollen: Dass dieser Standpunkt in jeglicher Hinsicht falsch und man selbst im Besitz der absoluten Wahrheit ist, wird vorausgesetzt. Gleichzeitig wirft man der anderen Seite eben diese Art von Denken vor, derer man sich selbst befleißigt. Es ist auch nicht überraschend, dass Haase einem Abbruch des Diskurses mit der anderen Seite das Wort redet, weil man aufgrund der “verschiedenen Semantik” gar nicht miteinander reden könne. Haase könnte das tatsächlich nicht, weil er sich sichtlich nicht einmal bemüht, die Semantik der anderen Seite zu verstehen.

Wie erkennt man eigentlich einen Populisten?

Definition: Ein Populist ist, wer eine politische Position vertritt, die nicht zum Positionsrepertoire des herrschenden Macht- und Meinungskartells gehört.

Diese Definition können Sie, liebe Leserin oder lieber Leser, überprüfen, wo immer Sie in Zukunft den Begriff des “Populismus” oder “Populisten” hören oder lesen. Ich erwarte, dass Sie die Definition in fast allen Fällen bestätigt finden werden. Natürlich braucht sie noch ein wenig Erläuterung. Ein Kartell ist keine homogene Gruppe, deren Mitglieder alle identische Interessen haben. Ein Kartell ist eine Gruppe, deren Mitgliedern auf bestimmten Gebieten gemeinsame Interessen haben und diese dadurch durchzusetzen versuchen, dass sie Außenstehende benachteiligen. Ein Machtkartell teilt den “politischen Markt” durch gegenseitige Absprachen unter sich auf, um außenstehende Konkurrenten von den Pfründen fernzuhalten und um durch eine Dämpfung der Konkurrenz innerhalb des Kartells mit weniger Anstrengung mehr politischen Profit zu erzielen. Ein Beispiel für den ersten Punkt ist die Kollusion aller etablierten Parteien gegen die AfD in vielen Länderparlamenten, obwohl doch in vielen wesentlichen Fragen kaum wesentliche Unterschiede zwischen den Positionen der AfD und der CSU bestehen. Die Dämpfung der Konkurrenz kann man am Besten an der gegenseitigen Angleichung der politischen Positionen der SPD und der CDU/CSU in den letzten beiden Jahrzehnten erkennen. Zwischen den Positionen dieser beiden Parteien musste man zumindest bis zum Wahlparteitag der CDU Anfang dieses Monats Unterschiede nicht mit der Lupe, sondern mit einem Mikroskop suchen.

Auch das Meinungskartell ist nicht homogen, kann aber doch darüber definiert werden, dass es politische Positionen gibt, die mit dem Grundgesetz vereinbar, aber dennoch in der öffentlichen Diskussion nicht opportun sind. Wenn es irgendjemanden geben sollte, dem das noch nicht aufgefallen ist, dann kann ich auf einen anderen, brillanten Vortrag auf der Konferenz des Chaos Computer Clubs verweisen, nämlich der Analyse der Veröffentlichungen auf Spiegel online mit data mining-Techniken von David Kriesel (siehe auch Kriesels Blog). Allgemein ist Kriesel sehr vorsichtig mit Schlussfolgerungen, aber aus der Korrelation der Kommentierbarkeit von Spiegel-Online-Artikeln mit deren Thema schließt eben auch er (min 35:30 im Vortrag, die gesamte Diskussion der Kommentierbarkeit beginnt bei 28:30), dass es Themen gibt, bei denen von vornherein keine Kommentare zugelassen werden, weil zu erwarten steht, dass diese in ihrer Mehrzahl nicht politisch opportun sein werden.

Wenn die von mir oben angegebene Definition aber wirklich Erklärungskraft besitzt, dann sind “Populist” und “Populismus” nur politische Kampfbegriffe, die selbst keine Erklärungskraft besitzen, weil sie nur ausdrücken, dass ihr Benutzer dezidiert anderer Meinung ist als diejenigen, die er so bezeichnet. Das findet man sehr schön in dem oben verlinkten Vortrag von Haase bestätigt, der selbst “Law and order” als Sprache von Populisten abqualifiziert. Bezeichnenderweise benutzt er als Linguist in einem Vortrag über die deutsche Sprache der Populisten hier die englische Version, weil vermutlich selbst ihm aufgefallen ist, wie absurd seine Zuweisung in der deutschen Übersetzung klingt. Wer für Recht und Ordnung eintritt ist also Haases Meinung nach ein Populist, mithin jemand, der außerhalb des höflichen politischen Diskurses steht und mit dem man am Besten gar nicht redet. Das wäre als Einzelfall Haase nur eine Kuriosität, ist aber mehr, weil die Vertreter des herrschenden Macht- und Meinungskartells tatsächlich zunehmend Mühe damit haben, sich selbst an Recht und Ordnung zu halten. Die EU-Kommission folgt wiederholt nicht den Regeln, welche die EU selbst sich gegeben hat und die CDU-Vorsitzende glaubt, sich über einen Parteitagsbeschluss hinwegsetzen zu dürfen, weil sei ihn für falsch hält. Ich halte diesen Beschluss auch für falsch, aber der Rechtsgrundsatz innerparteilicher Demokratie geht eben vor. Sie hätte vor dem Beschluss in der Diskussion klar machen müssen, dass sie für dessen Umsetzung nicht als Parteivorsitzende zur Verfügung steht, was den Beschluss aller Wahrscheinlichkeit nach verhindert hätte. Nachdem er aber gefallen ist, muss sie ihn umsetzen oder zurücktreten. Wer die schleichende Erosion der Rechtssicherheit in unserer Gesellschaft kritisiert, die durch eine lange Reihe ähnlicher Vorfälle vor sich geht, der ist für “law and order”, also ein Populist und damit ist seine Kritik von vornherein gegenstandslos. So einfach kann man sich die Welt machen – bis man doch einmal abgewählt wird, wie das politische Establishment der USA.

Komplexe Probleme erfordern einfache Antworten

Noch so ein Paradox. Hatte ich nicht weiter oben argumentiert, dass diejenigen, die über Populismus reden, selbst die Welt zu sehr vereinfachen? Diesen Widerspruch werde ich weiter unten auflösen. Zunächst belege ich, dass komplexe Probleme in der Politik tatsächlich einfache Antworten erfordern.

Betrachten wir die Frage, die sich vor ziemlich genau einem Jahr stellte. Sollte die Bundeswehr sich an einem militärischen Eingreifen in Syrien beteiligen oder nicht? Das Problem war zweifellos sehr komplex. Würde ein solches Eingreifen das Nahziel erreichen können, nämlich die militärische Vernichtung des IS in Syrien und im Irak? Würde ein Erreichen des Nahziels auch dem eigentlichen Ziel dienen, einer Verringerung der Terrorismusgefahr in Europa, oder würde es diese Gefahr vielmehr noch erhöhen? Welche Auswirkung würde das Eingreifen auf die Kräftebalance in Syrien haben, wo man selbst auf der Seite einer bereits in militärischen Schwierigkeiten steckenden Opposition stand, die gegen die Regierung Assad kämpfte, deren Kräfte wiederum zum Teil durch den IS gebunden waren? Welche Auswirkung würde das Eingreifen auf die Lage der syrischen Bevölkerung und damit auf die Flüchtlingskrise haben? Welche Auswirkungen würde eine Nichtbeteiligung auf die Beziehungen zu den Verbündeten Frankreich und USA haben? Welche Auswirkungen würde ein Nichteingreifen oder Eingreifen auf die Beziehungen zu den verschiedenen Nachbarländern Syriens haben?

Auf all diese Fragen konnte man naturgemäß nur mit unsicheren Abschätzungen antworten. Dann musste man die einzelnen Vor- und Nachteile noch gewichten und am Ende musste alles auf eine ganz einfache Antwort hinauslaufen: Ja oder Nein. Es galt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, denn die Entscheidung musste getroffen werden, weil andere eingreifen wollten und man konnte sich beteiligen oder eben nicht.

Nicht jede politische Entscheidung ist binär, es kann mehr als zwei Möglichkeiten geben. Aber immer ist eine erhebliche Komplexitätsreduktion nötig, um überhaupt eine Entscheidung treffen zu können. Das Problem ist nicht einmal auf die Politik beschränkt. Jeder Neurowissenschaftler kann ihnen erklären, dass die Hauptfunktion des Gehirns eben diese ist: Komplexitätsreduktion, denn Lebewesen müssen auf komplexe Umweltereignisse reagieren und dafür Entscheidungen treffen, die in einfachen Fällen ebenfalls binär sind (fliehen oder kämpfen?). In hellem Sonnenlicht treffen pro Sekunde etwa 1 Million Milliarden Photonen auf unsere beiden Augen. Was bedeuten die? Jedenfalls viel mehr als wir in einer Sekunde wahrnehmen. Wir überleben nur, weil wir die Komplexität der auf uns einströmenden Information drastisch reduzieren.

Jeder einigermaßen erfolgreiche Politiker weiß, dass er in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit komplexe Sachverhalte extrem vereinfachen muss und, ja eben, einfache Antworten auf komplexe Probleme parat haben muss. Jeder einigermaßen intelligente Journalist weiß, dass er genau das Gleiche in seinen Artikeln oder Fernsehbeiträgen tun muss. Es ist das grundlegende Handwerkszeug.

Daraus folgt: Jeder Journalist oder Politiker, der einem Politiker oder Journalisten der Gegenseite pauschal das Vereinfachen vorwirft, ist ein Heuchler. Daran gibt es nichts zu deuteln.

Nun habe ich oben Herrn Haase übermäßiges Vereinfachen vorgeworfen. Bin ich auch ein Heuchler? Das müssen Sie, liebe Leserin oder lieber Leser am Ende selbst beantworten, aber ich gebe zu bedenken, dass ich konkret beschrieben habe, welche Vereinfachungen ich für unzulässig halte und warum. Darum führt kein Weg herum: Man muss sich mit der Gegenseite konkret und zu den einzelnen Fragen auseinandersetzen, nicht diese pauschal verdammen. Zu behaupten, das ginge ja gar nicht, denn die Gegenseite habe eine andere Semantik oder die Sache würde ja überhaupt nur durch Emotionen entschieden und nicht durch Fakten oder Argumente, ist Defätismus und hilft nicht weiter.

Nein liebe Freunde im Macht- und Meinungskartell: Ihr habt die wichtigsten Auseinandersetzungen 2016, bis auf die österreichische Bundespräsidentenwahl, nicht deshalb verloren, weil es nur um Emotionen und nicht um Argumente und Fakten ging. Ihr hattet keine ausreichenden Argumente und um Euer Faktenwissen ist es allgemein schlecht bestellt. Wo Ihr die Fakten kennt, da neigt Ihr selbst dazu, sie verfälscht wiederzugeben und das fliegt oft genug auf, so dass Ihr das Vertrauen verliert. So lange Ihr Euch dieser Fehleranalyse verweigert und Euren eigenen Anteil an den Niederlagen 2016 nicht einmal Euch selbst eingesteht, wird es nicht besser werden, nur schlechter.

Zum Schluss bin ich noch die Auflösung schuldig, warum ich einmal sage, man müsse in der Politik auf komplexe Probleme einfache Antworten finden und dann wieder, man könne zu stark vereinfachen. Hier gilt Einsteins Diktum: Mache die Dinge so einfach wie möglich – aber nicht einfacher (lustigerweise ist diese Formulierung selbst eine Vereinfachung eines etwas komplexeren Zitats von Einstein aus einer Vorlesung über das Wesen physikalischer Theorien). Diesen Punkt zu finden, ist bereits in den exakten Naturwissenschaften schwierig und um vieles schwieriger in der Politik. In aller Regel kann eine einzelne Person das nicht leisten. Eben deshalb degeneriert Politik, wenn die Debatten degenerieren, denn nur im Widerstreit verschiedener Meinungen erkennt man, wo die eigenen Vereinfachung zu weit geht oder findet umgekehrt eine Möglichkeit, die eigene Position noch klarer (und damit einfacher) darzustellen. Die Entwicklung 2016 ging dahin, dass beide Seiten der Auseinandersetzung über die politische Ausrichtung des Westens sich dem rationalen Diskurs mit der jeweils anderen Seite so weit wie irgend möglich entzogen haben. Den Trend dazu gab es bereits vorher, aber er hat sich noch einmal in erschreckender Weise verstärkt. Wenn er sich fortsetzt, werden die westlichen Gesellschaften an ihrer Unfähigkeit zur inneren Kommunikation letztendlich zerbrechen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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