Steht der Ukraine-Krieg an einem Wendepunkt?

Kupyansk & Izyum Der territoriale Verlust dieser Woche ist für Russland ganz sicher von strategischem Nachteil. Aber ist er kriegsentscheidend?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ein historischer Exkurs

Am 22. Juni 1941 trat die deutsche Wehrmacht zu einem Angriffskrieg auf die Sowjetunion an. Obwohl die Massierung deutscher Truppen nahe der sowjetischen Westgrenze deren Führung in groben Zügen bekannt war und obwohl die sowjetische Seite durch ihre Spione über Angriffsvorbereitungen und seit dem 15. Juni sogar über den Angriffszeitpunkt informiert war, war die Rote Armee nicht zur Verteidigung geeignet aufgestellt. Im Gegensatz zur Wehrmacht hatte sie auch wenig Erfahrungen mit schnellen und weiträumigen Operationen. Der erste Kriegsmonat verlief für die Sowjetunion katstrophal. Zu dem von Hitler vermutlich erwarteten schnellen Zusammenbruch des Widerstands kam es allerdings nicht. In der Folge verlangsamte sich das Angriffstempo der deutschen Wehrmacht und lokale Gegenangriffe der Roten Armee waren zu beobachten. Durch Konzentration der Stoßrichtung auf den Norden und Süden unter Anhalten der Heeresgruppe Mitte gelangen der Wehrmacht jedoch die Blockade Leningrads am 8. September und die Gefangennahme von über 600’000 Soldaten der Roten Armee am Ende der Kesselschlacht von Kiew (26. September). Unmittelbar danach nahm die Heeresgruppe Mitte den Angriff in Richtung Moskau wieder auf und war in Kesselschlachten bei Wjasma und Brjansk zunächst erfolgreich. Nach einer Verlangsamung der Operation durch verschlammtes Gelände drang die Wehrmacht von Mitte bis Ende November bis auf 18 Kilometer an die Stadtgrenze Moskaus vor. Unterdessen waren die deutschen Truppen und ihr Material dezimiert worden und die sowjetische Führung war unterrichtet, dass sich Japan gegen die USA wenden würde. Sie verlegte etwa zwei Drittel der in Sibirien stationierten Divisionen an die Front bei Moskau. Die Rote Armee war im Winterkrieg zudem erfahrener und besser dafür ausgerüstet.

Am 5. Dezember 1941 trat die Rote Armee zur Gegenoffensive an. In der Folge warf sie die Heeresgruppe Mitte auf breiter Front um 200 bis 250 Kilometer zurück, ohne sie allerdings wie geplant zu vernichten. Die deutschen Verluste in der gesamten Schlacht um Moskau von Anfang Oktober 1941 bis Februar 1942 erreichten eine ähnliche Größenordnung wie die sowjetischen Verluste und die Rote Armee konnte nahezu die Frontlinie von Ende September wiederherstellen.

Die Blitzkriegsstrategie der deutschen Führung musste als gescheitert gelten. Zwar hatte die Wehrmacht ihre Offensivfähigkeiten noch nicht eingebüßt. Im Sommer 1942 gelangen ihr wieder weiträumige Vorstöße im Süden. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit des deutschen Heeres war jedoch verloren. Die Westalliierten sahen fortan in der Sowjetunion einen starken Verbündeten. Die deutsche Führung konnte das ursprüngliche Ziel der Operation Barbarossa, ein Vordringen bis zur Linie Archangelsk-Astrachan nicht länger ins Auge fassen.

Was bisher in der Ukraine geschah

Am 24. Februar 2022 traten die russischen Streitkräfte zu einem Angriffskrieg auf die Ukraine an. Obwohl der russische Aufmarsch an den ukrainischen Grenzen deren Führung im Detail bekannt war und obwohl sie durch verbündete Geheimdienste über Angriffsvorbereitungen informiert war, waren die ukrainischen Streitkräfte nicht zur Verteidigung geeignet aufgestellt. Im Gegensatz zur russischen Seite hatten sie wenig Erfahrungen mit weiträumigen Operationen und dem Zusammenwirken der Waffengattungen. Der erste Kriegsmonat verlief für die Ukraine katastrophal. Zu dem von Putin vermutlich erwarteten schnellen Zusammenbruch des Widerstands kam es allerdings nicht. In der Folge verlangsamte sich das rusische Angriffstempo und lokale Gegenangriffe der ukrainischen Streitkräfte waren zu beobachten. Durch Umgruppierung der russischen Streitkräfte behielten diese jedoch die strategische Initiative und erzielten mit dem Fall Mariupols am 20. Mai und dem Fall von Sjeverodonezk und Lyssytschansk am 24. Juni weitere strategische Erfolge. Unterdessen waren die russischen Truppen und ihr Material dezimiert worden. Die hohen ukrainischen Verluste wurden zum Teil durch Lieferungen westlicher Waffensystem und durch die Ausbildung ukrainischer Truppen im Westen wettgemacht.

Am 6. September 2022 trat die ukrainische Armee zu einer überraschenden Gegenoffensive in der Oblast Charkiv zunächst im Raum Balakliia an. In der Folge warf sie die russischen Streikräfte auf breiter Front um 70 bis 80 Kilometer zurück, ohne allerdings wie geplant größere Einheiten einzukesseln. Am 11. September veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium eine Karte, die einen Rückzug der russischen Streitkräfte in der Oblast Charkiv auf die Ostseite des Flusses Oskil darstellte. Dieser Rückzug wird durch Meldungen und Bilder von ukrainischen Soldaten in vielen der von russischer Seite aufgegebenen Orte bestätigt. Russland verliert damit die strategisch wichtigen Städte Izjum und Kupyansk. Die östlich des Oskil gelegene, für den russischen Nachschub wichtige Nord-Süd-Bahnlinie befindet sich nun im Bereich ukrainischen Artilleriefeuers.

Die bisherige Strategie der russischen Führung muss nun als gescheitert gelten. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass die russische Seite im kommenden Winter die strategische Initiative wiedererlangt. Der Nimbus, dass die russische Seite ihre Eroberungen ukrainischen Territoriums im Wesentlichen zementieren kann, ist jedoch verloren. Die russische Führung kann das ursprüngliche Ziel der “Spezialoperation”, eine vollständige Besetzung des Donbass, nicht länger ins Auge fassen.

Was sich geändert hat und was nicht

Diese parallele Darstellung der Ereignisse von 1941 und 2022 ist natürlich gezielt überspitzt. Im Kern ist die Analogie aber richtig. In der Schlacht um Moskau erzielte die Rote Armee ihren ersten strategischen Erfolg gegen die Wehrmacht aus eigener Kraft. Analog ist die Befreiung der Oblast Charkiv bis zum Oskil und die Einnahme von Kupyansk und Izyum der erste strategische Erfolg der ukrainischen Seite aus eigener Kraft. Neben dem dadurch möglichen Druck auf die russischen Nachschublinien ist auch die Wegnahme des Drucks auf Charkiv als strategischer Erfolg zu werten.

Die Analogie geht allerdings nicht so weit, dass man bereits eine russische Niederlage in diesem Krieg vorhersagen könnte. Dass die nun von ukrainischer Seite aus befreite Region so dünn verteidigt war und die ukrainischen Angriffsvorbereitungen nicht erkannt wurden, ist ein Zeichen militärischer Inkompetenz auf russischer Seite. Gleichzeitig ist die russische Seite jedoch militärisch einigermaßen kompetent mit der daraus entstandenen Situation umgegangen und hat die Front unter relativ geringen Verlusten an Personal bei erheblichen Verlusten an Material an einem natürlichen Hindernis stabilisiert. Es bleibt abzuwarten, ob diese Stabilisierung der russischen Seite auch im Raum östlich von Bachmut und nordöstlich von Sloviansk gelingt.

Putin steht nun, wie schon zwischen dem 21. und 24. Februar, vor einer Grundsatzentscheidung. Will er versuchen, diesen Krieg zu gewinnen, muss er ihn nun auch offiziell zum Krieg machen, weil das nun unzweifelhaft eine Truppenverstärkung erfordert, die ohne Kriegszustand nicht erreicht werden kann. Eine regelrechte Umstellung auf Kriegswirtschaft wäre ebenfalls notwendig. Vermutlich müsste Russland auch bezüglich der Auswahl der Ziele von Luft- und Raketenangriffen in der Ukraine eskalieren, was allerdings einen hohen politischen Preis auf internationaler Bühne haben würde.

Das andere Extrem wäre es, nun möglichst schnell einen Verhandlungsfrieden zu suchen. Allerdings sind die Bedingungen der Ukraine und des Westens dafür bekannt und die russische Führung kann unmöglich auf diese Bedingungen eingehen, ohne einen Machtverlust zu befürchten. Angesichts des Frontverlaufs und der astronomischen laufenden Kosten des Westens für die Weiterführung dieses Krieges könnte Putin für einen Rückzug auf die Grenzen vom 23. Februar wohl einige Zugeständnisse erhalten, etwa für die Wasserversorgung der Krim und für eine breite demilitarisierte Zone am Rande der Separatistengebiete. Es weiß jedoch jeder in Russland, was vertragliche Zusicherungen ukrainischer Politiker wert sind. Dabei handelt sich auch nicht um einen durch Propaganda erzeugten Glauben, den umgekehrte Propaganda beseitigen könnte. Die Unterschrift eines ukrainischen Politikers unter einem Vertrag bedeutet nichts.

Was sich nicht geändert hat, ist die vorhersehbar prekäre Situation West- und Mitteleuropas sowie der Ukraine in der bevorstehenden Heizperiode. Wenn es kalt wird, werden sich die Bürger von EU-Ländern wenig davon beeindruckt fühlen, dass die ukrainische Seite Kupyansk und Izyum eingenommen hat. Dass die ukrainische Seite vor Beginn der Heizperiode ihre territorialen Kriegsziele militärisch erreichen kann, erscheint ausgeschlossen.

Die für Russland aussichtsreichste Reaktion ist also eine Weiterführung des Krieges über den Winter. Zu vermuten ist auch, dass sich im Winter das militärische Kräfteverhältnis zumindest etwas zu russischen Gunsten verschieben wird. Ob sich das in strategische Erfolge umsetzen lassen wird, mag zweifelhaft sein, die russische Seite könnte aber durchaus in der Lage zu sein, die Frontlinie zu halten und weiter zu befestigen, während sie das Hauptaugenmerk auf den hybriden Krieg richtet. Dieses Szenario hat aus russischer Sicht den weiteren Vorteil, dass die wirtschaftlichen Probleme des Westens infolge der Energiekrise sich aller Voraussicht nach im Winter erheblich verschärfen werden. Über kurz oder lang werden sie sich in innenpolitischen Problemen äußern.

Der Druck auf Deutschland, die Waffenhilfe für die Ukraine auszuweiten, wird wachsen. Die Überlegenheit der russischen Panzerkräfte hat sich zwar in der Ukraine aufgrund der geografischen Gegebenheiten und befestigter Stellungen seit Monaten nicht mehr in militärische Erfolge umsetzen lassen. Dennoch wird das Argument verwendet werden, dass die Ukraine Kampfpanzer westlicher Bauart brauche und diesem Argument wird die deutsche Regierung irgendwann nachgeben.

Das Frühjahr 2023

Die Ukraine und der Westen werden versuchen, eine Frühjahrs- und Sommeroffensive der ukrainischen Streitkräfte zu ermöglichen, um 2022 verlorene Territorien zu befreien. Umgekehrt wird die russische Seite versuchen, ihre personellen und materiellen Ressourcen so weit zu vergrößern, dass sie ihre Eroberungen halten kann. Die innenpolitische Stabilität wird sich im Westen und in Russland im Winter angesichts der hohen Kriegskosten und geringer Erfolge vermutlich verringern. In der Ukraine wird das nicht unbedingt der Fall sein. Hier greift der David-gegen-Goliath-Effekt. Viele Ukrainer werden es als riesigen Erfolg sehen, dem russischen Angriff mehr als ein halbes Jahr standgehalten und nun auch noch einen ersten strategischen Erfolg errungen zu haben. Das wird die Ukraine durch diesen Winter tragen, der für die Bevölkerung sehr hart werden wird. Dass es vor dem Versuch einer ukrainischen Frühjahrs- und Sommeroffensive 2023 zu einem Friedensschluss oder auch nur formellen Waffenstillstand kommt, halte ich für unwahrscheinlich.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden