Minsk II und wie weiter?

Kiew/Donezk/Luhansk Die ersten Stunden des Waffenstillstands stimmen vorsichtig optimistisch. Wird Minsk II enden wie Minsk I oder ist eine politische Lösung möglich?

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Wie Minsk I zustande kam

Minsk I war das Ergebnis einer militärischen Niederlage der Kiewer Kräfte. Bis etwa zum 21. August 2014 hatte Kiew berechtigte Hoffnungen, den Bürgerkrieg militärisch für sich zu entscheiden. Die Strategie ruhte auf drei Säulen. Erstens sollte die Versorgungssituation der Bevölkerung in dem von den Separatisten beherrschten Gebiet unerträglich gemacht werden- man wollte die Separatisten aushungern. Zweitens versuchte die Regierung, ihre relative militärische Schwäche durch eine Kombination von regulärem Militär, der neu geschaffenen Nationalgarde und von Freiwilligenverbänden zu überwinden. Von diesen war das reguläre Militär leidlich gut ausgebildet, die Soldaten und Offiziere waren aber in der Mehrzahl unwillig, in einem Bürgerkrieg zu kämpfen. Die Nationalgarde war schlecht bis mäßig ausgebildet, aber loyal. Die Freiwilligenverbände kaschierten weitgehendes militärisches Unvermögen mit einer extrem hohen Kampfmoral. Drittens waren die Kiewer Kräfte, insbesondere das reguläre Militär, den Separatisten waffentechnisch stark überlegen, vor allem was die Typen und die Anzahl schwerer Waffen betraf. Den Kiewer Kräften war es dadurch nahezu gelungen, die Verbindung zwischen den Kräften der „Donezker Volksrepublik“ (DNR) und der „Luhansker Volksrepublik“ (LNR) zu unterbrechen und Belagerungsringe um die Städte Donezk und Luhansk zu schließen.

In der Woche vom 22. bis zum 28. August brachen alle drei Pfeiler zusammen. Die Entscheidung Putins am Morgen des 22. August 2014, den ersten humanitären Hilfskonvoi auch ohne Zustimmung der Kiewer Regierung nach Luhansk zu schicken, machte die Aushungerungsstrategie obsolet. Die Kette solcher Hilfskonvois ist seitdem nicht abgerissen. In der Folge traten die militärischen Kräfte der DNR und LNR zu einer koordinierten Offensivoperation an, nachdem sie zuvor ähnlich unkoordiniert gekämpft hatten wie die Kiewer Kräfte. Nun erwies sich auf Kiewer Seite die Mischung verschiedener Kräfte, von denen insbesondere die Freiwilligenverbände keine Befehle der zentralen Führung befolgten, als desaströs. Zudem war die Kiewer Militärführung mit der Parade zum Unabhängigkeitstag am 24. August beschäftigt und hatte dort nicht unbeträchtliche Kräfte und Mengen an Militärtechnik gebunden. Noch am 24. August kesselten die Kräfte der DNR und LNR den Großteil der Kiewer Kräfte im Operationsgebiet ein. In den Folgetagen zerrieben sie die Kessel. Die Kiewer Kräfte verloren, selbst nach Poroschenkos Aussagen von Anfang September, 60% ihrer Militärtechnik, vermutlich große Anteile davon intakt an die Separatisten. Zum Beispiel scheinen die Separatisten sogar in den Besitz eines BM-30 Smersh-Systems gelangt zu sein, das vom ukrainischen Militär gegen Luhansk eingesetzt worden war und eine Reichweite von 90 km hat. Zumindest haben sie ein solches System vor einer Woche gegen des Hauptquartier der „Antiterroristischen Operation“ (ATO) in Kramatorsk eingesetzt.

Am 28. August hatte sich die strategische Lage grundlegend gewendet. An einen Sieg der Kiewer Kräfte im Bürgerkrieg vor dem Winter war nicht mehr zu denken. Vielmehr hatten die Kräfte der DNR und LNR die strategische Initiative und es bestand die reale Gefahr, dass sie über die Grenzen der Oblaste Luhansk und Donezk hinaus weiter nach Westen vorstoßen könnten.

Minsk I kam in dieser Situation auf Initiative von Wladimir Putin zustande. Putin hatte ein Interesse, zu einer Übereinkunft mit dem Westen zu gelangen und angesichts der neuen militärischen Lage befand er sich in einer ausgesprochen vorteilhaften Verhandlungsposition. Um die Auseinandersetzung mit dem Westen beizulegen, war er sogar bereit, Kiew so weit entgegen zu kommen, dass Poroschenko Minsk I vom 5. September 2014 zu Hause als eine Übereinkunft auf der Basis seines eigenen Friedensplanes darstellen konnte. Umgekehrt war Poroschenko angesichts der desaströsen militärischen Lage bereit, den Separatisten weit entgegen zu kommen. In einer dramatischen Parlamentssitzung am 16. September gelang es ihm, sehr weit gehende Gesetze zur Selbstverwaltung der von den Separatisten gehaltenen Regionen durch Gesetze zu verankern. Daraufhin wurde am 19. September in Minsk ein weiteres Memorandum unterzeichnet, nach dem alle Artillerie mit einem Kaliber von 100 mm und mehr zu beiden Seiten um 15 km von der Frontlinie abgezogen werden sollte, wodurch eine 30 km breite Pufferzone ohne schwere Waffen entstanden wäre.

Woran Minsk I gescheitert ist

Schon zuvor hatte der Westen deutlich gemacht, dass ihm nichts an einer politischen Lösung auf der Basis von Minsk I lag. Sowohl die USA als auch die EU sahen die neue Situation als geostrategische Niederlage an und machten das durch die Einführung neuer Sanktionen gegen Russland deutlich. Der Europarat tat sich damit bereits am 8. September hervor, die USA am 12. September. In einer Situation, in der Putin erheblichen Druck auf die Separatisten ausgeübt haben musste, um sie an der weiteren Ausnutzung eines strategischen Vorteils zu hindern, glaubte die westliche Politik, Russland bestrafen zu müssen.

Schlechte Politiker kann man grob in Ideologen und Opportunisten einteilen. In der Kiewer Regierung waren im September 2014 die handelnden Kräfte fast ausschließlich Ideologen, Poroschenko ist ein Opportunist und der Außenminister Pavlo Klimkin möglicherweise ein guter Politiker. Die Ideologen teilten die westliche Einschätzung von Minsk I als Niederlage. Zu dieser Zeit wurde in Kiew offen diskutiert, dass man den Waffenstillstand als Atempause brauche, aber letztendlich das Donbass wieder erobern werde. Die Kiewer Kräfte setzten das Memorandum vom 19. September, das für die Separatisten vorteilhaft war, weil es der Donezk und Luhansk Sicherheit gegeben hätte, nicht um. Poroschenko hatte entweder nicht die Macht oder nicht den Willen, dafür zu sorgen. Das Stadtzentrum der Hauptstadt der DNR verblieb in Artilleriereichweite der Kiewer Kräfte. Diese hielten auf dem bereits weitgehend zerstörten Flughafen von Donezk eine zur Festung ausgebaute Stellung mit Panzern, Mehrfachraketenwerfern und Artillerie. Für die Separatisten war das verständlicherweise unakzeptabel, aber statt das Problem auf dem Verhandlungsweg zu lösen, gingen sie am 28. September 2014 zum Angriff auf den Flughafen über, nachdem es schon seit dem 23. September erste Scharmützel gegeben hatte, bei denen unklar ist, wer zuerst geschossen hatte.

Den nächsten Schlag erhielt Minsk I mit dem Ergebnis der ukrainischen Parlamentswahlen am 26. Oktober. Entgegen aller Wahlumfragen gewann die Volksfront Jazenjuks, ein Sammelbecken aller auf eine militärische Lösung gerichteten, fanatisch anti-russischen Kräfte, bei den Parteilistenmandaten knapp gegen den eher für eine politische Lösung stehenden Block Poroschenko. Infolge einer viel größeren Zahl von Direktmandaten war der Block Poroschenko zwar dennoch die stärkste Kraft im Parlament, nicht aber stark genug, um eine stabile Regierung ohne die Volksfront zu bilden. Die Volksfront setzte sich bei der Regierungsbildung durch. So blieb Jazenjuk Premierminister, weitere für die ATO stehenden Kräfte bekamen einflussreiche Posten, der Übergangspräsident Turtschinow wurde mit verfassungswidrig erweiterten Vollmachten Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, der Initiator der ATO und Verantwortliche für den Einsatz der Freiwilligenverbände, Arsen Awakow, blieb Innenminister und der ehemalige Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und Militärkommandant des Maidan, Andrij Parubij, wurde Vizesprecher des Parlaments. Angesichts dieser Regierung konnten die Separatisten- und Putin- nicht mehr hoffen, zu einer politischen Lösung zu gelangen.

Bereits am 2. November 2014, weit vor der Regierungsbildung in Kiew, hatten allerdings die Separatisten selbst durch Separatwahlen in der DNR und LNR Minsk I torpediert. Das von den Führern der beiden selbst proklamierten Republiken unterzeichnete Abkommen hatte Lokalwahlen nach ukrainischem Recht am 7. Dezember 2014 vorgesehen. Kiew, die EU und die USA verurteilten die Wahlen vom 2. November, Russland vertrat offiziell die Position, die Ergebnisse zu respektieren, aber nicht anzuerkennen. Am 5. Dezember bemerkte der russische Außenminister allerdings, die Wahlen hätten dem Geist von Minsk I entsprochen. Poroschenko reagierte mit einer de facto Aufkündigung von Minsk I, die durchaus eine opportunistische Reaktion auf das Wahlergebnis vom 26. Oktober gewesen sein könnte. Er sprach von einer Wiederbewaffnung der Ukraine, einer Verlegung weiterer Truppen in den Donbass und einer Aufkündigung der am 16. September beschlossenen Autonomiegesetze.

In der Folge wurde klar, dass sich Kiew auf eine Wiederaufnahme der Kämpfe vorbereitete. Der allgemein an Zahlen arme Haushaltsentwurf des fast bankrotten Landes sah für 2015 eine erhebliche Erweiterung der Militärausgaben auf 5,5% bzw. 5,5 Milliarden US$ vor. Die Separatisten, die im Dezember 2014 noch immer militärisch stärker waren als die Kiewer Kräfte, mussten eine Umkehr der Kräfteverhältnisse im Frühjahr oder Sommer 2015 befürchten.

Währenddessen waren die Kämpfe um den Donezker Flughafen immer weiter eskaliert. Die Kiewer Kräfte, zum größten Teil die Freiwilligenverbände unter ihnen, hatten in für beide Seiten verlustreichen Kämpfen alle Sturmangriffe der Separatisten zurück geschlagen. In den ukrainischen Medien nahmen sie Ende Dezember und Anfang Januar als „Cyborgs“ einen geradezu mythischen Status ein. Um so größer war der psychologische Effekt, als sich Mitte Januar abzeichnete, dass der Flughafen fallen würde. In dieser Situation verkündete die Kiewer Regierung am 20. Januar eine vierte Mobilisierungswelle für die Armee, bei der 50'000 Soldaten einberufen werden sollten. Sie erwies sich als genau so unpopulär wie die ersten drei Mobilisierungswellen. Ruslan Kotsaba, ein Journalist aus dem westukrainischen Ivano-Frankivsk, der sich gegen die Mobilisierung ausgesprochen hatte, wurde am 8. Februar wegen Hochverrats verhaftet, ein Fall mit dem sich inzwischen Amnesty International befasst.

Am 21. Januar fiel der Donezker Flughafen in die Hände der Separatisten. Dadurch wurden auf Seiten der DNR kampferfahrene Truppen mit hoher Moral frei. Die Separatisten wandten sich nun Debaltseve zu, einem Verkehrsknotenpunkt zwischen Donezk und Luhansk, der seit dem Versuch der Kiewer Kräfte, die Verbindung zwischen DNR und LNR zu unterbrechen, in ihrer Hand geblieben war. Debaltseve war der Endpunkt eines relativ schmalen Streifens, den die Kiewer Kräfte zwischen von den Separatisten beherrschten Gebieten hielten.

Wie Minsk II zustande kam

Minsk II ist das Ergebnis einer militärischen Niederlage der Kiewer Kräfte. Gegen Ende Januar zeichnete sich ab, dass die Kräfteverhältnisse es der Kiewer Seite nicht erlauben würden, Debaltseve zu halten. Die Separatisten kündigten an, die dort befindlichen Kiewer Truppen einkesseln zu wollen und nahmen eine Ortschaft nach der anderen in der Umgebung ein. Die militärische Logik hätte geboten, die Kiewer Kräfte aus Debaltseve abzuziehen und die Front zu begradigen. Es wird wohl ein Geheimnis der Kiewer Militärführung bleiben, warum das nicht geschah. Der Gebietsverlust und die Verschlechterung der strategischen Situation wären freilich beträchtlich gewesen und auch der Rückzug vermutlich verlustreich, aber diese Lösung wäre immer noch erheblich besser gewesen, als eine Einkesselung eines großen Teils der kampferfahrenen Kiewer Kräfte im Donbass und ihrer schweren Waffen. Nach dem 2. Februar 2015 war an einen Ausbruch nur noch unter schwersten Verlusten zu denken. Spätestens am Morgen des 10. Februar hatten die Separatisten die volle Kontrolle über die einzige Straße, über die zuvor die Kiewer Kräfte noch versorgt werden konnten, wobei diese Straße auch zuvor schon tagelang unter Artilleriefeuer der Separatisten gelegen hatte. Teile der Stadt waren bereits unter Kontrolle der Separatisten.

Ein Fall von Debaltseve wäre für die Kiewer Kräfte eine strategische Niederlage von noch größerem Ausmaß gewesen, als die Ereignisse vom 24.-28. August 2014, einfach deshalb, weil er wiederum das Gros der auf Kiewer Seite noch vorhandenen schweren Technik und kampferfahrenen Truppen ausgeschaltet hätte, diesmal aber auf Kiewer Seite von einem niedrigeren und auf Seite der DNR und LNR von einem höheren Niveau aus. Die Kiewer Kräfte hätten einer weiter gehenden Offensive der Separatisten dann nur noch wenig entgegen zu setzen gehabt. Zumindest die Oblast Charkiw wäre zusätzlich gefährdet gewesen. Unklar war auch, wie lange sich die Regierung in Kiew unter solchen Umständen hätte halten können. Zumindest die Einführung des Kriegsrechts wäre unvermeidlich geworden, ein Akt, der einem ökonomischen Selbstmord gleich gekommen wäre.

Minsk II kam in dieser Situation auf Initiative von Angela Merkel mit Francois Hollande im Schlepptau zustande. Es war völlig klar, dass die USA, welche die Destabilisierung der Regierung Janukowitsch und die Installation von Jazenjuk als Premierminister betrieben hatten, die drohende geostrategische Niederlage noch größeren Ausmaßes als im September 2014 nicht hinnehmen würden. Im ersten Schritt war eine Bewaffnung der Kiewer Kräfte mit panzerbrechenden Waffen geplant, militärisch nicht völlig unsinnig, weil nach dem Fall von Debaltseve wohl der größte Teil der einsatzfähigen ukrainischen Panzer in der Hand der DNR und LNR gewesen wären. Gleichwohl hätte das wenig gebracht, angesichts der geringen Kampfmoral und schlechten Ausbildung der verbleibenden Kiewer Kräfte. Es hätte in den USA eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt, an deren Ende Auseinandersetzungen hätten stehen können, bei denen US-Militärberater von regulären russischen Truppen getötet worden wären. Ein solches Szenario musste unter allen Umständen vermieden werden.

Merkel und Hollande hatten noch weitere Gründe, unbedingt eine politische Lösung zu suchen. Die Sanktionspolitik ist innerhalb der EU stark umstritten. Es droht ein Auseinanderbrechen der EU in einer wichtigen außenpolitischen Frage, in der zum Beispiel Polen und Litauen auf der einen und Tschechien und Griechenland auf der anderen Seite konträre Positionen vertreten. Die Auswirkungen auf andere Politikfelder innerhalb der EU wären beträchtlich.

Man muss verstehen, dass Merkel und Hollande hier eine Zeitbombe zu entschärfen hatten, denn die Einigung musste unbedingt vor dem bereits absehbaren Fall von Debaltseve erfolgen. Putin auf der anderen Seite hatte diesmal kaum einen Anreiz einzulenken, zumindest dann nicht, wenn man die offiziellen Verlautbarungen zum Maßstab nimmt. Falls Merkel und Hollande Putin nicht unveröffentlichte Zusicherungen gegeben haben, bleibt es ein Rätsel, warum er so starken Druck auf die Separatisten ausgeübt hat, dass Debaltseve nicht gefallen ist.

Wie könnte eine politische Lösung aussehen?

Minsk II ist nicht einfach eine Kopie, sondern eine Weiterentwicklung von Minsk I. Der Rückzug schwerer Waffen ist viel genauer und großräumiger definiert. Wenn er so durchgeführt wird, entfällt für die Separatisten die Sorge um einen Beschuss von Luhansk und Donezk. Gleichzeitig werden die Separatisten bezüglich dieses Rückzugs der schweren Waffen nicht für ihre Gebietsgewinne seit Minsk I belohnt, während sie aber andererseits diese Gebiete auch nicht wieder abgeben müssen. Für den Rückzug der schweren Waffen gibt es einen engen und klaren Zeitplan. Die militärische Komponente ist diesmal hinreichend scharf formuliert, mit der einzigen Ausnahme, dass das Schicksal von Debaltseve offen bleibt. Darauf komme ich weiter unten zurück.

Die Frage ist nun, ob beide Seiten ein hinreichendes Interesse daran haben, den Rückzug der schweren Waffen umzusetzen. Auf Kiewer Seite scheint das der Fall zu sein. Im Gegensatz zu früheren Waffenstillständen stellt sich Kiew diesmal auf den Standpunkt, über kleinere Scharmützel hinwegzusehen und nur auf systematische Verletzungen zu reagieren. Ebenfalls im Gegensatz zu früheren Versuchen verlautbaren selbst die faschistischen Freiwilligenverbände Rechter Sektor und Asow, sie wollten sich an den Waffenstillstand halten. Man geht wohl kaum fehl in der Annahme, dass so viel Vernunft nur mit der Lage von buchstäblich Tausenden in Debaltseve eingeschlossenen Kiewer Kämpfern zu erklären ist. Auch die Separatisten haben ein Interesse am Rückzug der schweren Waffen, denn nur so kann die Lage in Donezk normalisiert werden. Was nun Debaltseve betrifft, so ist ein Verbleib von tausenden Kiewer Kämpfern ohne schwere Waffen in dem Teil der Stadt, den sie jetzt noch halten, unsinnig, zumal sie nur mit dem Einverständnis der Separatisten überhaupt versorgt werden können. Die sinnvolle Lösung ist ein freier Abzug dieser Kräfte mit ihren schweren Waffen. Diese Lösung wird auf beiden Seiten schwer durchzusetzen sein, aber genau davon hängt ab, ob Minsk II die nächsten beiden Wochen überleben wird. In dieser Frage werden Merkel, Hollande und Putin Druck ausüben müssen.

Präziser formuliert ist jetzt auch, wie entschieden werden soll, welche Gebiete im Donbass die versprochene Autonomie erhalten. In den Gesetzen vom 16. September 2014 war das offen geblieben. Nun muss das Kiewer Parlament innerhalb von 30 Tagen nach der Unterzeichnung am 11. Februar diese Gebiete spezifizieren. Der Gefangenenaustausch, der sich nach Minsk I sehr in die Länge gezogen hatte, soll nun innerhalb von fünf Tagen nach dem Abzug der schweren Waffen beendet werden und zwar „alle für alle“. Es soll eine allgemeine Amnestie geben, was eine unabdingbare Voraussetzung für den Verbleib des Donbass in der Ukraine wäre. Allerdings hat Poroschenko diesen Punkt bereits in Zweifel gezogen, obwohl sein Emissär die Vereinbarung unterschrieben hatte.

Der Kiewer Seite ist eine Fortsetzung der Blockade humanitärer Hilfslieferungen verboten und sie muss die eingestellten Zahlungen sozialer Leistungen wieder aufnehmen. Auch in diesen Punkten kommt die Vereinbarung den Separatisten entgegen, was eben der militärischen Lage entspricht. Alle ausländischen Söldner, die es auf beiden Seiten des Konflikts gibt, müssen die Ukraine verlassen. Alle illegalen militärischen Verbände sind aufzulösen, wobei nicht explizit gesagt ist, ob das auch die Freiwilligenverbände auf Seiten der Kiewer Kräfte betrifft. Im Wortsinne sollte es das, denn da sie sich nicht einer staatlichen Befehlsstruktur unterworfen haben, verstoßen sie gegen das Gewaltmonopol des Staates. Über diese Frage wird es Diskussionen geben.

Im Gegensatz zu Minsk I präzisiert Minsk II ganz klar und mit einem Zeitrahmen eine langfristige Perspektive zur Beilegung des Konflikts, welche die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine (ohne Krim) gewährleistet. Beginnend am ersten Tag nach den lokalen Wahlen im Donbass und spätestens bis Ende 2015 soll die Kontrolle Kiews über die Staatsgrenze wieder hergestellt werden. Allerdings hat dieses große Zugeständnis der Separatisten, das eine Aufgabe aller strategischen Vorteile impliziert, eine Bedingung erfordert. Es muss eine Verfassungsreform in der Ukraine geben, wobei die neue Verfassung ebenfalls bis Ende 2015 in Kraft treten muss. Mit anderen Worten kann die Ukraine nur mit neuer Verfassung wieder souverän werden. Die Minimalbedingungen für die Autonomie des Donbass in dieser Verfassung- und ihre permanente Regelung- sind in einer Fussnote festgelegt. Insbesondere sind dies eine Amnestie für die an den Kriegshandlungen beteiligten Separatisten, lokale Mitsprache bei den Ermittlungsbehörden und der Gerichtsbarkeit, sprachliche Selbstbestimmung, zentrale Unterstützung grenzüberschreitender Zusammenarbeit mit russischen Regionen, die Aufrechterhaltung lokaler Volksmilizen (schon am 16. September 2014 zugestanden) und ein Verbot der vorzeitigen Abberufung lokaler Abgeordneter und Offizieller. Diese Festlegungen schließen genau das Verhalten aus, mit dem die Jazenjuk-Regierung seit Ende Februar 2014 die Unruhen in den östlichen Oblasten erzeugt hat. Man kann voraussagen, dass sich die Oblast Charkiw ähnliche Bedingungen wünschen wird. Dort wird gerade versucht, mit einem Gerichtsverfahren den populären Bürgermeister Kernes, auf den 2014 ein Mordanschlag verübt wurde, aus dem Amt zu drängen und hinter Gitter zu bringen.

Kann aus all dem etwas werden? Das wird vor allem davon abhängen, ob Merkel und Hollande gegenüber den USA einknicken. Die USA werden sich Jazenjuks bedienen, um diese Lösung zu hintertreiben. Momentan hat Jazenjuk angesichts der militärischen Lage schlechte Karten. Wenn die neue Verfassung für die Separatisten- und die Bevölkerung im Donbass- so akzeptabel sein soll, dass dieses Gebiet in die Ukraine zurückkehrt, wird damit eine einseitige Westbindung der Ukraine unmöglich. Zumindest militärisch wird das Land neutral bleiben müssen. Für den Russlandhandel wird es eine trilaterale Einkunft zwischen der Ukraine, der EU und Russland geben müssen. Nichts davon ist im Interesse der USA. Anzunehmen ist daher, dass die USA angesichts der Aussichtslosigkeit einer militärischen Rückeroberung des Donbass versuchen werden, eine Politik des „Lieber die halbe Ukraine ganz als die ganze halb“ durchzusetzen. Das wiederum ist nicht im Interesse der EU. Hier hat sich nun der Interessengegensatz zwischen der EU und den USA voll herausgebildet, der sich bereits im Telefongespräch Nuland-Pyatt angedeutet hat. Wenn die Ukraine nicht zerrieben werden soll, ist eine Verständigung zwischen der EU und Russland auch gegen den Willen der USA unabdingbar.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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