Mythen und Fakten

Covid-19 Die öffentliche Corona-Diskussion passt wieder einmal nicht zur Datenlage.

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Es ist Herbst und damit Erkältungssaison. Nicht unerwartet nehmen die Covid-19-Infektionen zu. Dazu haben Politiker, Mediziner, Wissenschaftler und Journalisten verschiedene Meinungen, die breite Öffentlichkeit natürlich auch. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten lässt sich ein Mainstream-Narrativ ausmachen, das die meisten Politiker und viele Journalisten teilen. Dieses Narrativ basiert auf einer Schuldzuweisung an eine Gruppe von Menschen, nämlich diejenigen, die sich impfen lassen könnten, das aber nicht tun. Ein solches Narrativ halte ich persönlich für kreuzgefährlich – man muss sich nur die Geschichte von Schuldzuweisungen an gesellschaftliche Minderheiten ansehen. Ich sollte hier erklären, dass ich selbst seit Mitte Juni doppelt geimpft bin und, sobald es ein Angebot dafür für meine Altersgruppe in der Schweiz gibt, ich auch eine Auffrischungsimpfung wahrnehmen werde. Was den Nutzen eines solchen Boosters betrifft, halte ich die israelischen Daten für sehr überzeugend. Daraus folgt für mich aber nicht, dass andere Menschen nicht anderer Meinung sein könnten. Wenn man sie mit Druck zu einer Impfung bewegen will, muss man stichhaltige Daten haben, die belegen, dass das Ungeimpftsein anderen Menschen unzumutbaren Schaden zufügt. Hier werde ich untersuchen, ob das der Fall ist.

Zwei Argumente stützen die Meinung, das Impfunwilligkeit anderen Menschen Schaden zufügen kann. Zunächst wird angenommen, dass die Verbreitung des Virus stark mit der Impfquote abnimmt. In der öffentlichen Diskussion wurde in den letzten beiden Wochen wiederholt die Behauptung vorgebracht, dass die Verbreitung plötzlich aufhören würde, wenn die Impfquote noch 10% höher sei als jetzt. Aus Sicht des Mechanismus der Verbreitung ist Letzteres nicht sehr plausibel, denn dafür müsste oberhalb eine Schwellwerts die Reproduktionszahl (R-Wert) generell unter 1 fallen. Dem werde ich am Ende des Blogbeitrags nachgehen. Das zweite Argument ist, dass Ungeimpfte mit höherer Wahrscheinlichkeit erkranken und ein Intensivbett benötigen, was zu einer Knappheit führt, die dann wiederum anderen Menschen unzumutbaren Schaden zufügt. Es ist plausibel und durch Daten auch gut belegt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Hospitalisierung und Intensivbehandlung für Ungeimpfte tatsächlich höher ist, nach den besten Daten, die wir haben, um etwa einen Faktor 10 zwischen zwei Wochen und zwei Monaten nach der Impfung. Später lässt die Schutzwirkung nach.

Unzumutbar wird das höhere Risiko Ungeimpfter für andere allerdings nur, wenn die ungeimpften Intensivpatienten tatsächlich ein Kapazitätsproblem erzeugen. Das ist nicht für jede Altersgruppe gleich wahrscheinlich. Daten aus Frankreich von Ende Juni 2021 zeigen, dass dort 66% der Covid-19-Intensivpatienten über 60 Jahre alt waren. In dieser Altersgruppe entfallen derzeit in Deutschland 60.9% aller symptomatischen Erkrankungen auf geimpfte Personen. Diese beiden Zahlen lassen allerdings noch keinen Schluss zu, wie schwer das Problem mit ungeimpften Intensivpatienten ist. Dazu müsste man nach Altersgruppen, am Besten in Altersdekaden, sowohl die Impfquoten als auch die Anteile geimpfter und ungeimpfter intensiv behandelter Personen kennen. Solche Daten werden in Deutschland nicht erfasst. Die Frage kann nicht einmal mit den viel besseren israelischen Daten geklärt werden, die zwar Krankenhauseinweisungen nach Altersgruppen und Impfstatus erfassen, nicht aber den Unterschied zwischen einer einfachen Hospitalisierung und einer Intensivbehandlung. Auf dieser Ebene können wir die Frage also nicht beantworten. Wir werden über Kapazitäten reden müssen.

Vorab stellt sich aber eine allgemeinere Frage. Ist diese Pandemie so ernst, dass sie überhaupt Grundrechtseinschränkungen begründen kann? Daran kann man mit Blick auf Abbildung 1 zweifeln. Die über die gesamte Pandemie akkumulierte Übersterblichkeit beträgt in Deutschland bisher 3.1%, in Österreich 7.5% und in der Schweiz 6.8%. Diese Zahlen halten einige Leute für zu hoch geschätzt, weil die zugrunde liegenden erwarteten Sterblichkeiten den steigenden Altersdurchschnitt der Bevölkerung vernachlässigen. Diesem Argument will ich nicht weiter folgen. Selbst die dargestellten, auf World in Data verfügbaren Daten, geben die Behauptung nicht her, es handle sich in den betrachteten drei Ländern um eine schwere Epidemie. Schwankungen der Sterblichkeit in dieser Größenordnung zwischen Jahren hat es immer gegeben, auch wenn keine Pandemie deklariert worden war. Ja, es gibt Epidemiewellen, die auch sichtbar sind. Zum Teil werden sie durch eine Untersterblichkeit in den Folgemonaten kompensiert, vor allem sind sie aber nicht oder nicht viel höher als die Übersterblichkeitswellen durch Grippeepidemien in den letzten Jahren davor. Daraus, dass jeder Todesfall tragisch ist, kann man eben noch nicht schlussfolgern, dass jeder Todesfall durch Infektionen verhindert werden könnte und, selbst wenn das möglich wäre, dass man dazu beliebig in Grundrechte eingreifen dürfte. Im Folgenden lasse ich aber auch dieses Argument beiseite. Ich gehe davon aus, dass bestimmte Maßnahmen die Sterblichkeit senken könnten, ohne dass ich dafür vorerst einen Beleg hätte.

Gibt es ein Problem mit Intensivbehandlungskapazitäten und wenn ja, warum?

Schauen wir uns zuerst an, wie sich Deutschland, Österreich und der Schweiz die Zahlen positiver Tests (auf 100‘000 Einwohner) und die Krankenhausbelegung durch Covid-19-Patienten (grün, für Deutschland nicht erfasst) sowie die Intensivstationsbelegung (rot) zeitlich entwickelt haben (Abbildung 2). Auffällig ist zunächst der sehr ähnliche zeitliche Verlauf der Intensivstationsbelegung in Deutschland und Österreich bei doch sehr unterschiedlichen zeitlichen Verläufen der Zahl positiver Tests/100‘000 Einwohner. In Österreich und der Schweiz fällt auch auf, dass das Verhältnis zwischen intensivbehandelten und insgesamt hospitalisierten Covid-19-Patienten über die letzten zwölf Monate erstaunlich stark schwankt. Wenn Impfungen vor steigender Schwere der Erkrankung immer besser schützen würden, müsste es in diesem Herbst deutlich höher sein als im vorigen. Diesen Effekt sieht man weder in Österreich noch in der Schweiz. Wenn man einen Effekt ausmachen kann, so ist dieses Verhältnis nach Beginn der Impfkampagnen schlechter geworden.

Die Zahlen kann man auch in Relation setzen. Derzeit liegen zwischen einer Person auf etwa 25‘000 (Österreich) und einer Person auf etwa 50‘000 (Schweiz) mit Covid-19 auf der Intensivstation. Solche Raten sollten das Gesundheitssystem eines entwickelten Landes eigentlich nicht in Verlegenheit bringen. Warum scheint das in Deutschland trotzdem der Fall zu sein? Der Grund liegt nicht darin, dass ein Drittel der Bevölkerung ungeimpft sind (was diejenigen einschließt, die derzeit gar nicht geimpft werden können). Im vorigen Herbst war ja auch niemand geimpft. Der Grund liegt in einem drastischen Abbau der Intensivbetten, wie Abbildung 3 für Deutschland insgesamt (grau) und die drei an die Tschechische Republik grenzenden Bundesländer (Bayern blau, Thüringen grün, Sachsen rot) gezeigt ist. Gegenüber der Maximalkapazität im Mai 2020 sind zwischen 23% (Sachsen) und 40% (Thüringen) der Kapazität abgebaut worden. Das Argument des Mainstream-Narrativs dazu ist Personalverlust. Ein Personalverlust im Intensivbereich in dieser Größenordnung ist nicht nur unwahrscheinlich – wenn es ihn tatsächlich gegeben hätte, hätte ein Gegensteuern für die Politik die Priorität Nummer 1 in einer Pandemie sein müssen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass per 1. Oktober 2021 in Sachsen mehr als 10% des Intensivpersonals gekündigt haben.

Würde es helfen, mehr zu testen?

Ich persönlich hielt es im September für falsch, kostenlose Tests abzuschaffen, nur um Druck auf Impfunwillige auszuüben. Inzwischen ist das eine Mainstream-Meinung. Lässt es sich aber auch belegen? Dazu können wir uns Abbildung 4 anschauen. Zunächst sehen wird, dass die drei Länder derzeit sehr ähnliche Impfquoten (blau) haben und auch der Aufbau dieser Impfquoten wie auch der Erstimpfungen (grau) recht ähnlich war. Die kürzere Spanne zwischen Erst- und Zweitimpfung in der Schweiz ist Ausdruck einer politischen Entscheidung über die Frist zwischen beiden Impfungen, nicht Ausdruck eines anderen Verhaltens der Bevölkerung. Zusammen mit der ähnlichen geographischen Lage, dem sehr ähnlichen Entwicklungsstand und ähnlicher Mentalitäten macht das einen Vergleich dieser drei Länder aussagekräftig, zumal auch der zeitliche Verlauf der Zahl der Intensivpatienten pro Kopf recht ähnlich ist (Abbildung 2). Die Testintensität ist es ganz und gar nicht. In Österreich (Mitte) ist die Skala um einen Faktor 10 anders (Tests/1000 Einwohner, in Deutschland und der Schweiz Tests/10000 Einwohner). Auch ist das Testregime in Österreich viel agiler, wie man an den schnelleren Schwankungen der Testzahlen sieht. Was man nicht sieht, ist ein Einfluss verschiedenen Teststrategien und stark verschiedenen Testintensitäten auf den Epidemieverlauf. Die Entwicklung der letzten Wochen ist in Österreich sogar etwas ungünstiger als in Deutschland – und das kann nun wirklich nicht daran liegen, dass in Österreich fast zwanzigmal mehr getestet wird. Oder vielleicht doch? Dass die „Inzidenz“ in Österreich heute etwa 800 beträgt, in Deutschland aber bei etwa 280, dürfte sehr viel mit der verschiedenen Testintensität zu tun haben.

Von Interesse sind für die spätere Diskussion auch noch die Auffrischungsimpfungen (Booster). In Israel war Anfang August damit begonnen wurden, weil die Unzulänglichkeit der Zweifachimpfung zu diesem Zeitpunkt offensichtlich war. Die deutschsprachigen Länder haben sehr lange gebraucht, das zur Kenntnis zu nehmen, die Schweiz am Längsten. Zwar gibt es nun auch in der Schweiz solche Drittimpfungen (grün in Abbildung 4), sie finden aber noch keinen Eingang in international verfügbare Datensätze. Auch wo eher begonnen wurde, wie in Deutschland oder Österreich, gehen die Auffrischungsimpfungen sehr viel langsamer vonstatten als in Israel. Schaut man sich die israelischen Daten an, so muss man leider sagen, dass dieses schleppende Tempo zu höherer Belegung der Intensivbetten und zu mehr Todesfällen führt. Der Nutzen der Drittimpfung ist unbestritten, sonst wäre sie in Deutschland, Österreich und der Schweiz auch nicht zugelassen worden. Es gibt auch keine epidemiologische oder medizinische Begründung für eine Frist von 6 Monaten zwischen zweiter und dritter Impfung. Politik und Medizinfunktionäre scheinen hier in dem Denken gefangen zu sein, dass Erst- und Zweitimpfungen gesunder, jüngerer Menschen wirkungsvoller wären als Drittimpfungen älterer Menschen, sogar solcher mit Vorerkrankungen. Für diese Ansicht spricht gar nichts.

Impfung und Weiterverbreitung

In Massenmedien und teilweise sogar in Verlautbarungen von Wissenschaftlern und Mediziner hört man gern das folgende Argument: Im Land A ist die Impfquote höher als im Land B und im Land B ist die Inzidenz höher. Das muss daran liegen, dass eine hohe Impfquote die Weiterverbreitung stoppt. Mit so einem anekdotischen Vergleich zu argumentieren, ist leider völlig unwissenschaftlich. In der Regel haben die Länder A und B verschiedenes Klima, ein verschiedenes Alltagsverhalten der Bevölkerung, eine verschiedene epidemische Vorgeschichte (Anteil Genesener) und – wie wir für Österreich und Deutschland gesehen haben – verschiedene Teststrategien und Intensitäten. Kann man trotzdem klären, inwieweit eine höhere Impfquote die Weiterverbreitung von Covid-19 verringert?

Man kann der Wahrheit darüber zumindest sehr viel näherkommen, als durch anekdotische Vergleiche. Sofern die Teststrategie eines Landes sich nicht zeitlich sehr stark ändert, fällt sie aus einem Vergleich von Reproduktionsraten heraus. Um dieser Voraussetzung möglichst nahe zu kommen, beschränke ich den Vergleich auf die letzten 3 Monate. Die klimatischen Unterschiede verringert man am Besten durch Beschränkung auf ein nicht zu großes geografisches Gebiet. Dieses sollte aber auch nicht zu klein sein, weil wegen der anderen Unterschiede eine Mittelung über möglichst viele Länder sinnvoll ist. Ich habe deshalb 31 Länder Nord-, West- und Mitteleuropas gewählt, wobei ich nur die Zwergstaaten (bis einschließlich zur Größe von Luxemburg) weggelassen habe, weil in diesen Ländern nicht statistisch valide Reproduktionsraten ermittelt werden können. Das Ergebnis der Auswertung ist in Abbildung 5 zu sehen.

Um den Bezug zu den anderen Abbildungen herzustellen, habe ich links zunächst den zeitlichen Verlauf der Reproduktionsrate für Deutschland (blau), Österreich (grün) und die Schweiz (rot) dargestellt, wobei ich das jeweils gleiche Zeitintervall im Herbst 2020 und Herbst 2021 gelb unterlegt habe. Zunächst sieht man hier, dass die Reproduktionsraten im Herbst 2021 im Schnitt geringer sind. Die höheren „Inzidenzen“ rühren daher, dass Anfang September 2021 die Infektionsrate höher war als Anfang September 2020.

Die Betrachtung von 31 Ländern über 92 Tage (Mitte) gibt etwas weniger Datenpunkte (2318) als man erwarten würde (2852), weil nicht für alle Länder über den gesamten Zeitraum die Reproduktionsraten und Impfquoten verfügbar sind. Trotzdem ist der Datensatz groß genug, um zu schließen, dass sehr geringe Impfquoten mit höheren Reproduktionsraten korrelieren. Der Korrelationskoeffizient zwischen Reproduktionsrate und Impfquote ist nicht hochrelevant (-0.26), berücksichtigt man aber, dass die Verbreitung mit der Reproduktionsrate exponentiell wächst, scheint das ein starkes Argument für die Impfung zu sein. Der einzige Einwand ist, dass Korrelation nicht Kausalität bedeutet. Es ist durchaus plausibel, dass dort, wo die Impfquote niedrig ist, auch Hygieneregeln eher lax gehandhabt werden. Die Korrelation könnte auch daher rühren. Dieses Argument will ich aber nicht weiter betrachten, auch weil es nicht mit Daten entscheidbar ist.

Mit Daten entscheidbar ist hingegen die Frage, ob auch bei einer schon hohen Impfquote eine weitere Erhöhung derselben die Weiterverbreitung des Virus substantiell verringert. Der rechte Teil von Abbildung 5 zeigt, dass es dafür keinen Beleg gibt. Als Schwellwert habe ich eine Impfquote von zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung verwendet, denn dort stehen derzeit Deutschland, Österreich und die Schweiz. Damit habe ich immer noch 540 Datenpunkte. Für Impfquoten von zwei Dritteln und höher findet man in Europa einen schwachen, nicht signifikanten Anstieg der Weiterverbreitung mit höherer Impfquote (Korrelationskoeffizient +0.04). Die Aussage dieser Auswertung ist, dass es keinen guten Grund gibt, Impfressourcen für die Erhöhung der Impfquote über zwei Drittel hinaus statt für Auffrischungsimpfungen zu verwenden. Aus propagandistischen Gründen mag das nach der langen Sündenbockkampagne gegen Impfunwillige ungelegen kommen. Aus ethischen Gründen ist es aber so, dass - wenn man den Impfstoff schon in hochentwickelten Ländern verimpft - dieser den Gruppen mit dem höchsten Risiko zugutekommen sollte, wenn diese Personen das wünschen. Derzeit sind das vor allem bereits zweifach geimpfte ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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