Poroschenko bekennt Farbe

Kiew Poroschenko hat sein politisches Schicksal erstmals klar mit einer Friedenslösung verbunden. Die politische Karriere Jazenjuks wird Anfang November auslaufen.

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Die ersten 100 Tage Poroschenkos

Die Anfangsphase

Am 25. Mai gewann Poroschenko die nach dem Februar-Putsch ausgerufenen vorgezogenen Präsidentschaftswahlen mit 54,7% der Stimmen im ersten Wahlgang. Am 7. Juni wurde er offiziell in das Amt eingeführt. Er legte einen Plan zur Dezentralisierung der Macht in der Ukraine vor, gegen den sich sofort die stärkste der Regierungsparteien, die Vaterland-Partei von Julia Timoschenko und Arseniy Jazenjuk wandte. Nachdem er am 16. Juni den Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, Andryi Parubyi, in seinem Amt bestätigt hatte, erreichte Poroschenko am 18./19. Juni eine kleine Regierungsumbildung. Der Generalstaatsanwalt Oleh Makhnitskyi von der nationalistischen Swoboda-Partei trat am 18. Juni „auf eigenen Wunsch“ zurück und wurde am 19. Juni durch Vitaly Yarema ersetzt, der bis zu diesem Zeitpunkt Vize-Premierminister mit dem Geschäftsbereich Strafverfolgung war. Diese Position wurde in der Regierung nicht wiederbesetzt. Außerdem wurde am 19. Juni der fanatisch antirussische Außenminister Andriy Deshchytsia entlassen, der kurz zuvor Putin mit einem Kraftausdruck belegt hatte. Ersetzt wurde er durch den Botschafter der Ukraine in Deutschland, Pavlo Klimkin, einen in Moskau ausgebildeten Physiker. Klimkin hatte sich 2013 als Botschafter der Regierung Janukowitsch stark für das EU-Assoziierungsabkommen der Ukraine eingesetzt.

Am 20. Juni verkündete Poroschenko einen 15-Punkte-Friedensplan und einen einseitigen Waffenstillstand. Zu diesem Zeitpunkt hatte er durch die Kiewer Militärführung weitgehend die Kontrolle über die offiziellen Kiewer Kräfte im Donbass, nicht aber über die formell dem Innenministerium unterstellten und kaum steuerbaren Freiwilligen-Bataillone und auch nicht über die Kräfte des Rechten Sektors. Diese Kräfte stellten die Kampfhandlungen nicht ein. Auch die Separatisten hatten zu diesem Zeitpunkt keine einheitliche Kommandostruktur. Ob Poroschenko intern einen Machtkampf um die Durchsetzung des Waffenstillstands verlor oder nie führte, ist unbekannt. Am 1. Juli wurden die Kampfhandlungen von Kiewer Seite wieder aufgenommen und intensiviert. Der erste Anlauf Poroschenkos zu einer Friedenslösung war gescheitert.

Versuch einer militärischen Lösung

Die Separatisten hatten seit Mitte April Slawjansk und Kramatorsk gehalten. Die Versorgungslage im seit Ende Mai belagerten Slawjansk war Ende Juni katastrophal geworden. Nachdem am 4. Juli Kiewer Kräfte den Ort Mykolaivka nahe Slawjansk einnehmen konnten, wurde die Position der Separatisten in Slawjansk unhaltbar. In der Nacht vom 4. zum 5. Juli durchbrachen die Separatisten von innen den Belagerungsring um Slawjansk und retteten ihre Truppen unter geringen Verlusten und unter Mitnahme fast aller schweren Waffen nach Donezk. Sie gaben am 5. Juli auch Kramatorsk auf. Poroschenko hob den Aspekt des strategischen Sieges hervor, ohne den Aspekt der taktischen Niederlage einzugestehen. Der Verteidigungsminister Heletey sagte, es würde bis zur Kapitulation der Separatisten weiter gekämpft, erst danach könne man verhandeln. Einen weiteren einseitigen Waffenstillstand werde es nicht geben.

Die Separatisten blockierten am 7./8. Juli die Zugänge zu Donetsk und brachten bis Mitte Juli die Offensive der Kiewer Kräfte zum Stehen. Es wurde klar, dass die Separatisten nicht kapitulieren würden und dass ein militärischer Sieg eine weitere Eskalation und die Belagerung von Donezk und Luhansk erfordern würde. Dabei musste es zu erheblichen Verlusten unter den Kiewer Truppen und der Zivilbevölkerung des Donbass kommen. Die Risiken dieser Strategie waren Widerstand unter der Bevölkerung der Zentral- und Westukraine, Empörung der Weltöffentlichkeit und die Schaffung eines Vorwandes für ein offenes russisches Eingreifen. In dieser Situation hatte in Kiew jemand eine strategisch brillante und von jeglichen Skrupeln freie Idee. Wir wissen bis heute nicht genau, wer dieser Jemand war, können aber ausschließen, dass er Poroschenko hieß oder dass der Präsident vor der Umsetzung von dieser Idee erfuhr.

Die Vorgänge um den Abschuss von MH17

Bis heute haben wir keine eindeutigen Beweise, aber die Indizien sind erdrückend: Am 17. Juli schossen Kiewer Kräfte aller Wahrscheinlichkeit nach absichtlich unter Einsatz mindestens eines Kampfflugzeugs das Passagierflugzeug MH17 der Malaysian Airlines ab, um diesen Abschuss den Separatisten und indirekt Russland in die Schuhe zu schieben. Zuvor war die Flugroute der Maschine durch die ukrainische Bodenkontrolle geändert worden, so dass sie entgegen der ursprünglichen Planung über von den Separatisten kontrolliertes Gebiet führte. Zudem war die Flughöhe um 1000 Fuß abgesenkt worden. Der ukrainische Geheimdienst SBU beschlagnahmte sofort die Tonaufzeichnungen der Bodenkontrolle. Er veröffentlichte angeblich abgehörte Telefongespräche zwischen Separatisten und russischen Führungsoffizieren und behauptete zunächst, die Separatisten hätten mit einem von der ukrainischen Armee erbeuteten Buk-Raketensystem die Maschine abgeschossen. Sehr schnell wurde die Geschichte zum ersten Mal geändert und behauptet, das Raketensystem sei von Russland zur Verfügung gestellt worden. Ein eindeutig falsches, im von der Regierung kontrollierten Kramatorsk aufgenommenes, Video wurde in Umlauf gebracht. Ende August änderte der SBU seine Geschichte noch einmal und behauptete, eine russische Buk-Besatzung habe MH17 absichtlich abgeschossen. In diese letzte Geschichte passen die angeblich abgehörten Telefongespräche absolut nicht mehr hinein. Auf Poroschenkos Webseite wurde bereits am 17. Juli behauptet, ukrainische Kräfte hätten keine Luftziele beschossen.

Vladimir Putin telefonierte mit Barack Obama sofort über die russischen Erkenntnisse zum MH17-Absturz und Russland informierte die Weltöffentlichkeit darüber, dass dieses Telefongespräch stattgefunden hatte. Die US-Regierung wollte sich zunächst nicht darüber äußern, ob in dem Gespräch über MH17 geredet worden sei. Zuerst Obama und dann der UN-Weltsicherheitsrat riefen zu einem Waffenstillstand und einer Untersuchung der Vorgänge auf. Poroschenko beauftragte seinen Vertrauten in der Regierung, den Vizepremier für regionale Fragen Volodymyr Groysman, mit der Untersuchung. Nach einigem Zögern verkündete Poroschenko am 21. Juli nicht die von Obama geforderte Waffenruhe im gesamten Donbass, wohl aber eine Waffenruhe in einem Umkreis von 40 Kilometern um die Absturzstelle. Der Radius wurde später auf 20 Kilometer verringert.

Ebenfalls am 21. Juli hielt Russland eine Pressekonferenz ab, auf der Satelliten- und Radarinformation veröffentlicht wurde, die auf eine Beteiligung Kiews an den Vorgängen hindeutete. Auf dieser Pressekonferenz wurden 10 Fragen an die Kiewer Regierung gestellt. Diese Fragen sind bis heute nicht beantwortet. Bis heute haben die westliche Seite und Kiew nach meinem besten Wissen keine begründeten Zweifel an der Authentizität der russischen Satelliten- und Radardaten vorgebracht. Der Westen hat zugegeben, über eigene Aufklärungsergebnisse zu verfügen, hat diese aber nicht öffentlich gemacht oder in die Untersuchung der Vorfälle einfließen lassen. Fred Westerbeke von der niederländischen Untersuchungskommission hat noch am 12. September verlauten lassen, (noch) nicht über die US-Satellitenfotos zu verfügen und keinen Beweis für die Authentizität der angeblich vom SBU abgehörten Telefongespräche zu haben.

Sehr bald nach dem 17. Juli muss Poroschenko zu den Entschluss gekommen sein, die Regierung auszuwechseln. Nach der gültigen Verfassung war das nur über eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen möglich. Um den Vorwand für die Parlamentsauflösung zu schaffen, stimmten am 24. Juli die mit Poroschenko verbündete UDAR-Fraktion Klitschkos und die Swoboda-Fraktion gegen einen Gesetzentwurf der Regierung und schieden damit aus der Regierungskoalition aus. Am 14. September stellte sich heraus, dass dem eine Übereinkunft zwischen Poroschenko und Swoboda-Führer Tyahnybok vorausgegangen war, nach der Poroschenkos Block bei den Neuwahlen in bestimmten Wahlkreisen keinen eigenen Kandidaten gegen die Direktkandidaten der Swoboda aufstellen wird.

Premierminister Jazenjuk trat am 24. Juli zurück und übergab die Geschäfte am 25. Juli interimistisch an Poroschenkos Vertrauten Groysman. In der Pressemitteilung dazu wurde betont, dass Groysman die Untersuchungen zum MH17-Absturz leite. Selbst westliche Medien gaben auch diesen Teil der Information getreu wieder, möglicherweise ohne zunächst zu verstehen, was eine solche Mitteilung in diesem Zusammenhang andeutete. Eine Vertrauensabstimmung über Jazenjuk wurde für den 31. Juli angesetzt. Zwischen seinem „Rücktritt“ und der Vertrauensabstimmung leitete Jazenjuk eine Kabinettssitzung.

An der Parlamentssitzung vom 31. Juli nahmen 309 der 450 Abgordneten teil. Von diesen 309 blieben mehr als die Hälfte, nämlich 184 dem Vertrauensvotum über Jazenjuk fern. Von den Teilnehmern der Abstimmung wandten sich 16 gegen Jazenjuk und 109, weniger als ein Viertel aller Abgeordneten, sprachen ihm das Vertrauen aus. De jure konnte Jazenjuk damit weiter regieren. De facto hatte Poroschenko ihm klar gemacht, dass er das Vertrauen des Parlaments nicht mehr genoss. Während westliche Medien nur das de jure-Ergebnis wiedergaben, verbreiteten ukrainische Medien auch die Information über die Abstimmungsbeteiligung. Der 31. Juli markiert einen wichtigen, aber noch nicht den entscheidenden Erfolg Poroschenkos im Machtkampf mit Jazenjuk.

Am 7. August trat Andryi Parubyi ohne Angabe von Gründen von seinem Amt als Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats zurück. Parubyi hatte zuvor die paramilitärische Organisation Patriot der Sozial-Nationalistischen Partei der Ukraine (heute Swoboda), die Selbstverteidigungskräfte des Maidan und seit dem 13. März die Nationalgarde der Ukraine aufgebaut. Er ist bis heute ein Alliierter von Jazenjuk und des vormaligen Interimspräsidenten und jetzigen Parlamentssprechers Turtschinow. Inzwischen ist er Mitglied des politischen Rats von Jazenjuks Volksfront. Man kann sicher davon ausgehen, dass Parubyi nicht aus freien Stücken zurückgetreten ist. Der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats wird vom Präsidenten ernannt, der formell diesem Rat vorsteht. Poroschenko entließ am 18. August Parubyi vollends aus dem Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat, auch das ohne Angabe von Gründen.

Ebenfalls am 7. August kündigte Poroschenko offiziell die Waffenruhe um das Absturzgebiet von MH17. Diese Waffenruhe war zuvor wiederholt von den Kiewer Kräften gebrochen wurden, die durch Artilleriebeschuss die Untersuchungen und den Abtransport von Trümmerteilen verhinderten und bis zum heutigen Zeitpunkt verhindern. Selbst nach dem neuerlichen generellen Waffenstillstand vom 5. September erhalten Kiewer Kräfte den Artilleriebeschuss dieses Gebiets aufrecht.

Die strategische Offensive der Kiewer Kräfte

Vordergründig führte der Abschuss von MH17 zu Ergebnissen, die für die Kiewer Kriegsführung günstig waren. Es kam zu ersten wirksamen Sanktionen gegen Russland, die Unterstützung der Bevölkerung für eine Eskalation in der Ostukraine wurde größer und die Weltöffentlichkeit tolerierte diese Eskalation. In verlustreichen Kämpfen und unter vermehrtem Einsatz schwerer Waffen bis hin zu taktischen Raketen gelang es den Kiewer Kräften, die strategische Initiative zu übernehmen und bis Mitte August die Separatisten in eine schwierige militärische Lage zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt hing der Ausgang des Donbass-Krieges von der Entwicklung an drei strategisch wichtigen Punkten ab. Erstens war es den Kiewer Kräften nahezu, aber eben nicht ganz, gelungen, die Verbindung zwischen den Separatisten der „Luhansker Volksrepublik“ und denjenigen der „Donezker Volksrepublik“ zu unterbrechen. Die Separatisten hielten nur noch eine Verbindungsstraße.

Zweitens war Donezk auf drei Seiten umstellt. In der Nacht vom 18. auf den 19. August gelang es dem auf eigene Faust kämpfenden Freiwilligenbataillon Donbass in die Stadt Ilovaysk einzudringen, die für die Abriegelung der vierten Seite strategisch wichtig war. Die Stadt wurde überraschend fast kampflos eingenommen, erwies sich aber praktisch sofort als Falle. Das Donbass-Bataillon bekam die Situation in der Stadt nicht unter Kontrolle und war nahezu eingeschlossen. Es hatte riesige Verluste. Die Kiewer Militärführung organisierte zunächst keine Verstärkung für die ihm nicht unterstellten und unkoordiniert kämpfenden Truppen. Das mochte strategisch sogar richtig gewesen sein. Die Führung unterschätzte aber völlig die psychologische Wirkung. In Kiew und ukrainischen Medien kam es zu Protesten gegen den „Verrat“ der Führung am Donbass-Bataillon.

Drittens zeichnete sich schon vor Mitte August ab, dass die Versorgungslage von Luhansk demnächst unhaltbar werden würde. Zwar war die Stadt entgegen den Behauptungen der Kiewer Militärführung zu keinem Zeitpunkt vollständig abgeriegelt, aber der Zufluss an Nahrungsmitteln war kleiner als der Verbrauch und die Wasserversorgung prekär. Stromausfälle und Ausfälle des Mobilfunknetzes und Internets waren häufig und lang andauernd. Über kurz oder lang musste diese Situation wie schon in Slawjansk dazu führen, dass die Separatisten die Stadt würden aufgeben müssen.

Der russische humanitäre Hilfskonvoi

Russland hatte erkannt, dass die Versorgungslage in Luhansk zum Fall der Stadt und in der Folge zu einem Sieg der Kiewer Kräfte im Donbass noch vor dem Winter führen konnte. Am 11. August kündigte der Kreml einen Hilfskonvoi in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz an, für den es gute humanitäre Gründe anführen konnte. Kiew und der Westen erkannten sofort die militärische Dimension dieses Konvois: Die Strategie eines Aushungerns von Luhansk würde durchkreuzt und ein Sieg im Donbass vor dem Winter unrealistisch. Kiew hatte nicht die Ressourcen, im Winter im Donbass Krieg zu führen und es zeichnete sich deutlich ab, dass die Regierung nach dem Winter keine Unterstützung für eine Wiederaufnahme der Kampfhandlungen finden würde, falls sie selbst überhaupt den Winter überstehen konnte.

In den folgenden anderthalb Wochen versuchte die Kiewer Kriegsfraktion den Hilfskonvoi mit allen Mitteln zu verhindern. Westliche Politiker unterstützten das. Die gesamte westliche Propagandamaschinerie war offensichtlich entsprechend instruiert. Allerdings wurde dabei ein innerer Machtkampf in Kiew offenbar. Wiederholt gelangten Unterhändler der Regierung zu Übereinkünften mit Russland, die wiederholt von der Regierung gebrochen wurden. Gegen Ende der anderthalb Wochen wurde die Auseinandersetzung selbst auf Ministerebene in Kiew öffentlich ausgetragen. Dadurch wurden die westliche Propaganda und die innerukrainische Propaganda selbstwidersprüchlich und unglaubwürdig. Zudem sprachen die Bilder aus Donezk und die trotz der Blockade durchsickernden Nachrichten aus Luhansk für sich selbst. Russland gewann die Propagandaschlacht um den Hilfskonvoi. Am 20. August wurde klar, dass der Konvoi allenfalls noch ein paar Tage verzögert, aber nicht mehr verhindert werden konnte. Die Verzögerung wurde durch Arbeitsverweigerung der an der Kontrolle beteiligten ukrainischen Zöllner in Szene gesetzt. In einem (verzweifelten) Versuch, den Konvoi in letzter Minute durch Falschinformation zu stoppen, behauptete die Kiewer Militärführung am 21. August, sie habe Schlüsselstellungen in Luhansk bereits unter ihre Kontrolle gebracht.

In einem weiteren Propagandadesaster hatte sich die Kiewer Regierung entschlossen, am 24. August, dem Unabhängigkeitstag der Ukraine, eine Militärparade in Kiew durchzuführen. Diese Paraden waren unter Janukowitsch abgeschafft worden. Inwieweit die paradierenden Truppen und ihre Waffen einsatzfähig waren, sei dahingestellt. Jedenfalls entstand in der ukrainischen Öffentlichkeit der Eindruck, dass sie es seien und die Regierung verstärkte diesen Eindruck noch, indem sie verlautbarte, die Truppen würden unmittelbar nach der Parade an die Front im Donbass ziehen. Poroschenko nahm die Parade ab.

Die militärische Wende

Am Morgen des 22. August entschied sich Putin, die Blockade des Hilfskonvois nicht länger hinzunehmen. Bereits wenige Stunden später waren die Propagandalügen aufgeflogen, die Stadt Luhansk sei vollständig abgeriegelt und Schlüsselstellungen in der Stadt seien durch Kiewer Kräfte besetzt. Die Moral der Luhansker Bevölkerung und der Separatisten wurde erheblich gestärkt. Der Konvoi wurde schnell entladen und verließ noch am selben Tag wieder das ukrainische Territorium.

Am 23. August traten die Separatisten zur Gegenoffensive an. Die mit anderen Dingen beschäftigte Kiewer Militärführung erkannte bis zum Folgetag nicht das Ausmaß und die Stoßrichtung der Operation. Während etwa 1500 Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen in Kiew paradierten, wendete sich die militärische Lage im Donbass grundlegend und unwiderruflich. Am Mittag des 24. August war es bereits zu spät. Die Truppen der Separatisten hatten einen zweiten, großen Belagerungsring um Ilovaysk geschlossen. Itar-Tass gab um 11:46 Uhr Moskauer Zeit Verlautbarungen der Militärführung der „Donezker Volksrepublik“ wieder, nach denen tausende Soldaten, 50 Panzer, 200 andere gepanzerte Fahrzeuge, 50 Raketenwerfer und mehr als 100 Artilleriesysteme und Mörser zusammen mit dem Hauptquartier des 80. Armeekorps eingekesselt seien und berichteten von einem zweiten, etwas kleineren Kessel. Die weitere Entwicklung zeigte, dass diese Meldungen kaum übertrieben waren.

Nachdem die Hauptkräfte des Gegners immobilisiert waren, kesselten die Separatisten in den Folgetagen eine ganze Reihe weiterer Kiewer Truppenteile ein, die in der Fläche des Donbass verteilt waren. Diese Operationen wurden dadurch vereinfacht, dass der Krieg im Donbass kein Frontenkrieg im eigentlichen Sinne gewesen war. Die vom Kiewer Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrate veröffentlichten Karten waren in dieser Hinsicht ausgesprochen irreführend. Am 25. August eröffneten die Separatisten bei Nowoassowsk an der russisch-ukrainischen Grenze eine Südfront. In den Folgetagen brachten sie den gesamten Grenzabschnitt zwischen dem Asowschen Meer und dem bereits zuvor von ihnen kontrollierten Teil der Grenze unter ihre Kontrolle. Zudem stießen sie am Asowschen Meer bis Mariupol vor und banden dort die praktisch letzten beweglichen Kiewer Kräfte.

Am 28. August war nicht nur klar, dass die Kiewer Kräfte auf absehbare Zeit nicht mehr die strategische Initiative würden übernehmen können, sie waren nun nicht einmal mehr zu lokalen Gegenoffensiven in der Lage. Poroschenko sagte angesichts der Lage einen geplanten Staatsbesuch in der Türkei ab und forderte seine Militärführung öffentlich auf, nicht in Panik zu geraten. Tatsächlich bestand Grund zur Panik. Hätte Putin zu diesem Zeitpunkt direkt eingreifen wollen, so hätte ihn vermutlich wirklich niemand mehr hindern können, in zwei Wochen Kiew zu erreichen. Hätten die Separatisten hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung von Mariupol in Kauf genommen, so hätte sie niemand an der Einnahme der Stadt hindern können.

Zur Erklärung der umfassenden militärischen Niederlage führten Kiew und der Westen an, starke reguläre russische Kampfverbände seien an der Offensive beteiligt gewesen. Die einzige belastbare Evidenz für eine Anwesenheit regulärer russischer Soldaten in der Ukraine ist die Festnahme von zehn russischen Fallschirmjägern auf ukrainischem Territorium 20 Kilometer von der russischen Grenze am 26. August. Diese Fallschirmjäger waren nicht an Kampfhandlungen beteiligt. Angesichts des überwältigenden Interesses der Kiewer Regierung und des Westens, eine direkte Einmischung Russlands zu beweisen, kann man mit ziemlich großer Sicherheit annehmen, dass keine großen regulären russischen Verbände an der Offensive beteiligt waren.

Mit ebenso großer Sicherheit darf man allerdings auch annehmen, dass die Operation von hochrangigen russischen Offizieren geplant und geführt wurde und dass die Kampftruppen der Separatisten Unterstützung durch russische Militärberater und russische Aufklärungsdaten hatten.

Die Gründe für den kriegsentscheidenden Erfolg der Offensive sind, in dieser Reihenfolge, der Einsatz koordinierter Kräfte der Separatisten unter einheitlichem Kommando gegen unkoordinierte und schlecht geführte Kiewer Kräfte, der schnelle Anfangserfolg durch die Überraschung und Blockade der Hauptstreitmacht des Gegners und die geringe Moral der regulären Truppen der ukrainischen Armee.

Die Entscheidung für eine Friedenslösung

Poroschenko hatte seinen Wahlkampf mit dem Versprechen einer Friedenslösung geführt, welche die Interessen der Ukraine nicht verraten würde. Er hatte eine solche Friedenslösung im internen Kiewer Machtkampf nicht durchsetzen können und hatte sogar selbst zu einigen Zeitpunkten einer militärischen Eskalation das Wort geredet. Es ist schwer zu sagen, ob er zu diesen Zeiten tatsächlich an einen solchen Kurs glaubte, oder nur meinte, seine Machtposition mit derartigen Äußerungen absichern zu müssen. Mitte bis Ende Juli erschien es nach Umfragen denkbar, dass die rechtsextremistische radikale Partei von Oleh Lyashko nach Neuwahlen die stärkste Fraktion stellen könnte.

Die umfassende militärische Niederlage in der letzten Augustwoche schwächte auch die Position der Kriegsfraktion in der Kiewer Regierung und im Kiewer Parlament entscheidend. Die Schutzbehauptung über ein Eingreifen überwältigender russischer Kräfte konnte die Verantwortung der Regierung Jazenjuk für die Niederlage nicht verschleiern. Zudem gab es angesichts der wirtschaftlichen und finanziellen Lage und der für den Winter ungesicherten Energieversorgung keine wirkliche Alternative mehr zu Verhandlungen. Eine Regierung, die den bisherigen extrem antirussischen Kurs fortsetzen würde, konnte den kommenden Winter nicht überstehen.

Da auch Russland aus wirtschaftlichen und außenpolitischen Gründen Interesse an einer Verhandlungslösung hatte und angesichts der militärischen Lage und Gesamtsituation seine Kernforderungen durchsetzen konnte, kam es am 5. September in Minsk zu einer Einigung über einen Waffenstillstand und über Kernpunkte einer Verständigung. Keine der beiden Seiten hielt sich strikt an die Waffenstillstandsvereinbarung, aber die Kämpfe flauten merklich ab. Große Verschiebungen der Frontlinie kamen danach nicht mehr durch Kämpfe zustande, sondern nur noch durch Zurücknahme von Kiewer Truppen aus unhaltbar gewordenen Positionen. Die kleineren Verschiebungen durch Kämpfe wirkten sich zugunsten der Separatisten aus. Allerdings gelang es den Kiewer Kräften, den weitgehend zerstörten Flughafen von Donezk zu halten.

Bereits am 25. August hatte Poroschenko Parlamentsneuwahlen für den 26. Oktober ausgerufen. Aufgrund gesetzlich geregelter Termine mussten alle bei der Wahl antretenden Parteien bis zum 15. September Parteikongresse abhalten. Poroschenko selbst verfügte nur über eine relativ kleine Partei, die Solidarität, deren Umfrageergebnisse sich zwischen dem Putsch und Anfang Juli rasant verbessert hatten, danach aber, vermutlich auch wegen des von Poroschenko unterstützten Kriegskurses, abgestürzt waren. Am 27. August wurde die Partei in Block Petro Poroschenko umbenannt. Am 2. September verkündete der Fraktionsvorsitzende von Klitschkos UDAR ein gemeinsames Antreten der beiden Parteien bei der Wahl. Ein Parteikongress des Block Petro Poroschenko am 14. September rief Witali Klitschko als Spitzenkandidaten aus. Der 14. September war zugleich der 100. Tag der Amtszeit des Präsidenten Petro Poroschenko.

Die vergangene Woche

Das Gesetz über die Autonomie im Donbass

Am 16. September fand die dramatischste Sitzung des ukrainischen Parlaments seit der Unabhängigkeit des Landes statt. Zunächst wurde in geschlossener Sitzung über ein Gesetz für einen Sonderstatus des Donbass und eine umfassende Amnestie abgestimmt. Angesichts der Situation, die Poroschenko selbst den Abgeordneten erklärte, waren die Zugeständnisse weitgehend. Sie schließen sogar die Bildung lokaler Volksmilizen im Donbass ein. Die Bestimmungen gehen über die Föderalisierung hinaus, die im Februar und März von ostukrainischen Politikern gefordert worden war und für die diese Politiker von der Generalstaatsanwaltschaft unter Makhnitzkyi gerichtlich verfolgt worden waren.

Im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf wurde Poroschenko Verrat vorgeworfen. Einige Abgeordnete und Journalisten verglichen ihn mit Janukowitsch. Das Gesetz indes wurde angenommen. Poroschenko machte in seiner Stellungnahme klar, dass er das Volk hinter sich weiß. Er sprach von der Unmöglichkeit, mit ihm an der Spitze einen „kriminellen Krieg“ in der Ostukraine zu führen. Westliche Medien unterschlugen das Attribut „kriminell“, ukrainische jedoch nicht oder doch nicht durchgängig.

Am 18. September veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel von Daniel Brössler aus Brüssel, in dem anhand eines angeblich vorliegenden Protokolls eines Gesprächs zwischen Poroschenko und Barroso behauptet wurde, Putin habe in einem vorherigen Gespräch mit Poroschenko gedroht, russische Truppen können binnen zwei Tagen in Warschau, Riga, Vilnius oder Bukarest stehen. Bereits zuvor hatte eine EU-Sprecherin einen vorherigen Bericht über ein Telefongespräch zwischen Barroso und Putin dementieren müssen, der in der italienischen Zeitung La Republicca lanciert worden war, und die gleiche Behauptung in Bezug auf Kiew und einen Zeitraum von zwei Wochen enthielt. Man hätte also journalistische Vorsicht erwarten sollen. Die Administration des ukrainischen Präsidenten hat die Darstellung in der Süddeutschen laut einer Glavcom-Meldung vom 18. September 23:05 Uhr Kiewer Zeit dementiert. Der Pressesekretär des Präsidenten, Svyatoslav Tsegolko, sagte: "Wir bestätigen die Information nicht, die in dieser Zeitung verbreitet wurde." Nach seinen Worten hat die ukrainische Seite ein negative Meinung zu Spekulationen, welche die Bemühungen aller Seiten zur Implementierung eines Friedensprozesses gefährden. Dieses Dementi wird bis heute in westlichen Medien unterdrückt.

Politisch ist es hoch interessant. Poroschenko hat hier über seinen Sprecher den (scheidenden) EU-Kommissionspräsidenten oder zumindest dessen Administration frontal angegriffen. Das zeigt, wie ernst ihm diese Sache ist. Die Kriegsfraktion in Brüssel, die keine Handhabe gegen Poroschenko hat, wird dies in Zukunft berücksichtigen müssen.

Insgesamt muss man sagen, dass Poroschenko in den vergangenen zwei Wochen eine unwiderrufliche Entscheidung für Frieden und eine Verständigung mit Russland getroffen hat, weil er verstanden hat, dass eine andere Politik die Existenz der Ukraine gefährdet. Das hat nichts damit zu tun, dass er ein Freund Putins werden will, die Annexion der Krim anerkennt, oder die Einmischung Russlands im Donbass gut findet. Es ist einfach eine realpolitische Position. Poroschenko hat begriffen, dass die USA und die EU die Ukraine in einem Stellvertreterkrieg gegen Russland als Schachfigur benutzt haben, zum Schaden der Ukrainer. Er weiß seit langem, dass die Ukraine vom Westen nicht die Unterstützung erwarten kann, die sie bräuchte, um diesen Stellvertreterkrieg unbeschadet zu überstehen. Insofern weist die Erkenntnis Poroschenkos tatsächlich Parallelen zu derjenigen von Janukowitsch im Oktober 2013 auf. Eine genaue Analyse des EU-Assoziierungsabkommens zeigte damals, dass der wirtschaftliche Teil des Abkommens der Ukraine schaden musste. Die EU war nicht bereit, diese Schäden in irgendeiner Weise zu kompensieren und die Ukraine war schon damals wirtschaftlich nicht in der Lage, für eine vielleicht bessere Zukunft durch Jahre großer Verluste zu gehen.

Die Ratifizierung des EU-Assoziierungsabkommens

Der zweite Punkt der dramatischen, nun wieder öffentlichen Parlamentssitzung vom 16. September war die simultane Ratifizierung des Assoziierungsabkommens durch das ukrainische Parlament und das EU-Parlament. Der wirtschaftliche Teil des Abkommens ist bis zum 31.12.2015 ausgesetzt und steht unter dem Vorbehalt der Nachverhandlung von Problemen, die daraus im Handel zwischen der Ukraine und Russland erwachsen. In westlichen Medien wird diese Aussetzung als Zugeständnis an Russland betrachtet. Auch einige ukrainische Journalisten haben sich dieser Ansicht angeschlossen.

Tatsächlich ist diese Aussetzung ein Eingeständnis der Tatsache, dass die Ukraine die nächsten Monate wirtschaftlich nicht überleben kann, wenn das Abkommen so in Kraft tritt, wie es ausgehandelt wurde. Dieses Problem ist in den letzten zehn Monaten nur dramatischer geworden. Man kann es kurz sagen: Die Öffnung des EU-Markts bringt der Ukraine relativ wenig, weil sie kaum konkurrenzfähige Exportprodukte für diesen Markt hat, selbst wenn die Zölle wegfallen. In der Tat hat die EU am 23. April bereits einseitig die Zölle wegfallen lassen, ohne dass die ukrainische Wirtschaft davon stark profitieren konnte. Konkurrenzfähig ist sie in erster Linie bei Metallen, von denen ein großer Teil aus dem Donbass stammt. In vielen anderen Kategorien erfüllen ukrainische Produkte EU-Standards nicht, während sie nach Russland bereits jetzt zollfrei exportiert werden können. Es ist sinnvoll, zunächst an der Zulassung von Produkten im EU-Markt zu arbeiten, ehe man riskiert, dass sie im russischen Markt durch neu festgelegte Zölle verdrängt werden.

Erheblich verändert hat sich die Situation seit November 2013 in Bezug auf Agrarprodukte, die allerdings häufig EU-“Qualitätskriterien“ nicht erfüllen, obwohl sie geschmacklich oft besser sind als die in der EU gehandelten Produkte. Durch die russischen Sanktionen in diesem Sektor hat die ukrainische Landwirtschaft zusätzliche Absatzschwierigkeiten sowohl in Russland als auch in der EU. Die Zölle auf Getreide, Obst und Fleisch werden ohnehin durch das Abkommen nicht abgeschafft. Die Quote für Gemüse und Eier bleibt geringer als das mögliche Exportvolumen (Studie von 2012 zu den Konsequenzen des geplanten Abkommens).

Das Lustrations-Gesetz

Das dritte am 16. September angenommene Gesetz geht auf eine Forderung zurück, für die sich die Swoboda stark gemacht hatte und die auf dem Maidan Popularität erlangte, weil sie mit dem Kampf gegen Korruption assoziiert wurde. Hier geht es um eine Lustration, auf Deutsch eine Säuberung aller Ebenen der öffentlichen Verwaltung. Wegen des antisemitischen Charakters des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 in Deutschland ist es delikat, die Parallelen dieses Gesetzes mit dem Lustrationsgesetz in der Ukraine zu diskutieren. Das ukrainische Gesetz ist in keiner Weise antisemitisch.

Was allerdings die andere Stoßrichtung des Gesetzes angeht, so sind die Parallelen offensichtlich. Das Gesetz zielt nicht in erster Linie auf die Korruptionsbekämpfung ab, sondern auf die Entfernung politisch missliebiger Beamter und Politiker aus ihren Positionen. Im ukrainischen Fall sind das vor allem pro-russische Personen. De facto trifft die Überprüfung aber jeden, der in der Verwaltung unter Janukowitsch eine Rolle gespielt hat. Unklar ist zum Beispiel, ob der jetzige Außenminister betroffen ist. Klar gestellt wurde, dass Poroschenko selbst, der unter Janukowitsch Minister war, nicht betroffen sei, weil er jetzt ein Wahlamt innehabe und die Wahl einer öffentlichen Lustration gleich käme.

Die Lustration wird eine große Zahl fachlich fähiger und politisch kompetenter Persönlichkeiten aus ihren Positionen verdrängen und diese werden zu einem großen Teil durch fachlich weniger kompetente und politisch weniger fähige Persönlichkeiten ersetzt werden. Das ist unvermeidlich, denn es gibt in einer Bevölkerung nur einen bestimmten Kreis geeigneter Leute, von denen ein großer Teil in jedem System in Führungspositionen drängt. Schließt man alle Exponenten des vorherigen Systems aus, so sinkt die mittlere Eignung. Als ehemaliger DDR-Bürger, der die Wende und Übernahme durch die Bundesrepublik erlebt hat, weiß ich, wovon ich rede (ich selbst war durch die „Gnade der späten Geburt“ nicht betroffen).

Das Lustrationsgesetz bildet mit dem Donbass-Gesetz ein Paar, obwohl das weder in den westlichen noch in den ukrainischen Medien diskutiert wurde. Im Donbass könnte eine Lustration nur auf einer ähnlichen Basis wie in der ehemaligen DDR durchgeführt werden, nämlich durch Import der Führungskräfte aus dem Westen. Das hat schon in den neuen Bundesländern zu erheblichen Ressentiments geführt, die teilweise bis heute anhalten. Im Gegensatz zur deutschen Wiedervereinigung ist allerdings in der Ostukraine nicht mit einem sprunghaften Anstieg des Lebensstandards zu rechnen. In dieser Situation müssen die Ressentiments, die dort ohnehin schon vorgeformt sind, in offenen Hass umschlagen. Das Donbass-Gesetz löst dieses Problem nur teilweise. Das gleiche Problem besteht nämlich in den Oblasten Charkiw, Dnjepropetrowsk, Odessa und vermutlich Saporoschje.

Die neueste Wahlumfrage

Das Meinungsforschungsinstitut SOCIS hat vom 5.-10. September eine Umfrage zu den kommenden Parlamentswahlen am 26. Oktober durchgeführt und diese am 15. September veröffentlicht. Die Ergebnisse sind, bis auf eine Zusammenfassung in der Wikipedia, nur auf Ukrainisch verfügbar. Die Krim und Teile des Donbass waren von der Umfrage ausgeschlossen. Auf der Krim gibt es selbst nach ukrainischen Angaben nur noch weniger als 15% Einwohner mit ukrainischem Pass. Es wurden 2800 Teilnehmer befragt, die 18 Jahre oder älter sind. Davon wollen 46,3% sicherlich und weitere 28,2% wahrscheinlich zur Wahl gehen. 10,4% sind unentschlossen und 15,1% wollen sich sicherlich nicht beteiligen.

Unter denjenigen, die sich beteiligen wollen, gedenken 45,7% den Block Petro Poroschenko zu wählen. Da die Hälfte der Sitze durch Direktmandate besetzt wird und die andere Hälfte proportional (ohne irgendeinen Ausgleich für die Direktmandate), werden starke Parteien überproportional vertreten sein. Die 45,7% übersetzen sich so in eine solide absolute Mehrheit, falls die Umfrageergebnisse realistisch sind und die Stimmung bis zum 26. Oktober nicht umschwingt.

Zweitplatziert ist mit 13,7% die rechtsextreme Radikale Partei von Oleh Lyashko. Auf Platz 3 folgt die hierzulande unbekannte Zivile Position von Gritsenko knapp vor Timoschenkos Vaterland, beide mit 8,1%. Der Volksfront von Arseniy Jazenjuk, Oleksandr Turtschinow und Arsen Awakow fehlt mit 5,6% der Rückhalt im Volk. Das sind genau die Leute, welche die Eskalation in der Ostukraine vorangetrieben hatten. Weiter folgen die Swoboda (4,5%), die Starke Ukraine von Tihipko (4,4%) und die Kommunistische Partei (2,9%). Der Rest ist völlig unbedeutend. Die Swoboda ist ein Sonderfall, weil sie trotz ihres allgemein geringen Wähleranteils vermutlich in einigen Wahlbezirken der Westukraine mit ihren Direktkandidaten Sitze gewinnen wird, zumal ihr der Block Petro Poroshenko nach dem Deal im Juli dort freie Hand lässt.

Interessant ist noch die Trendgrafik . Sie lässt vermuten, dass der Vorsprung des Block Petro Poroschenko noch zunehmen könnte. Unklar ist allerdings, ob das Meinungsbild vom Gesetzespaket des 16. September noch beeinflusst werden wird. Völlig unwahrscheinlich ist in jedem Fall ein plötzlicher und starker Anstieg der Popularität von Jazenjuks Volksfront. Nach den letzten zwei Wochen wissen wir zudem sicher, dass der Schulterschluss zwischen Poroschenko und Jazenjuk immer nur vorgespielt war, weil sich das Land im Krieg befand. Poroschenko wird nach dem 26. Oktober aller Voraussicht nach keinen Koalitionspartner brauchen. Selbst wenn er noch einen braucht, stehen ihm andere und attraktivere Optionen zur Verfügung als Jazenjuks Volksfront.

Der Widerstand gegen Poroschenkos Politik war diese Woche kurz anhaltend und fand keinen Widerhall bei den Massen. Die Putschgefahr scheint vorüber. Der Februarrevolution wird wohl kaum eine Oktoberrevolution folgen. Das aber bedeutet, dass die politische Karriere Jazenjuks mit der Regierungsneubildung Anfang November ein Ende finden wird. Jazenjuks eigene Vorhersage von Ende Februar hat sich bestätigt, die Übernahme dieses Amtes in dieser Situation sei politischer Selbstmord. Seine Regierungszeit wird für immer mit dem Verlust der Krim und des Donbass, einem Bürgerkrieg und wirtschaftlichem Niedergang verbunden sein. Auch der kommende schwierige Winter wird ihm angelastet werden. Spannend bleibt, wer den erst 40-jährigen Jazenjuk in der Folge wo unterbringt.

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Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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