Schulz und wie weiter?

Berlin Der Wechsel in der SPD von Gabriel zu Schulz verlief chaotisch und ist auf sträfliche Weise unvollständig. Aber er nährt trotz allem eine Hoffnung.

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Die frühen Jahre

Martin Schulz wurde etwa anderthalb Jahre nach Angela Merkel geboren. Er scheiterte im Gymnasium zweimal an den Anforderungen der 11. Klasse. Sein Schuldirektor vermittelte ihm daraufhin eine Buchhändlerlehre. Während dieser Lehre sah sich Schulz selbst als im Leben gescheitert an und verfiel dem Alkohol, gleichwohl schloss er die Lehre erfolgreich ab und fand hinterher auch immer wieder einmal Arbeit in Verlagen oder Buchhandlungen. Allerdings verlor er durch den Alkohol seine Freundin und stand am 26. Juni 1980 ohne Arbeit da und war auch zuvor von der örtlichen Juso-Organisation als Vorsitzender geschasst worden. Es war der Wendepunkt in seinem Leben. Seit diesem Tag ist er Abstinenzler.

Die Alkoholgeschichte wird seinen Gegnern im kommenden Wahlkampf wenig nutzen. Martin Schulz ist immer offen damit umgegangen und dass er seit mehr als 36 Jahren trocken ist, bezeugt mehr Selbstkontrolle, als wir sie von Siegmar Gabriel aus einigen von dessen öffentlichen Auftritten gewohnt sind. Der Schulabbruch hingegen wird ihm sicherlich vorgehalten werden. Oliver Welke hat gestern in der „heute show“ schon damit begonnen. Dahinter steckt eine Verwechslung von formellem Bildungsabschluss und Bildung. Jegliches der Beiden kann durchaus ohne das jeweils andere vorliegen. Der Abschluss einer Buchhändlerlehre erfordert einiges an Belesenheit und Martin Schulz war von 1982 bis 1994 auch Inhaber einer Buchhandlung, die hauptsächlich politische Bücher vertrieb. Ich würde keine hohe Wette darauf abschließen, dass der tatsächliche Bildungsgrad von Oliver Welke, der Publizistik studiert hat, höher ist als derjenige von Martin Schulz. Sicher ist hingegen, dass Schulz mehr Erfahrung im Leben außerhalb der Berufspolitik aufweist als der Durchschnitt seiner Generation von Politikern.

Schulz wurde vier Jahre nach seinem Tiefpunkt für die SPD in den Stadtrat von Würselen gewählt und sieben Jahre nach diesem Tiefpunkt ebenfalls in Würselen der damals jüngste Bürgermeister Nordrhein-Westfalens. Dieses Amt hatte er auch noch während seiner ersten vier Jahre als Europaparlamentarier bis 1998 inne.

Der Europapolitiker

Um zu verstehen, wie Martin Schulz als Europapolitiker tickte, liest man wohl am besten den Spiegel-Artikel vom 11.3.2013, den Markus Feldenkirchen geschrieben hat und der ein Juwel an Vielschichtigkeit ist. Es gibt sie durchaus, die wirklich guten Beiträge in den Mainstream-Medien, sie sind nur dünn gesät. Schulz hat im EU-Parlament eine stetige aber nicht auffallend steile Karriere gemacht. Nach sechs Jahren als Hinterbänkler war er vier Jahre lang Vorsitzender der deutschen SPD-Landesgruppe. Danach wurde er Fraktionsvorsitzender der Sozialisten im Europaparlament (SPE) und nach weiteren fünf Jahren 2009 schließlich Europapolitischer Sprecher der SPD. Ebenfalls 2009 inszenierte Schulz ein Machtspiel im Europaparlament, mit dem er die erneute Ernennung von Barroso als EU-Kommissionspräsident verzögerte, bis er eine informelle Zusicherung der Europäischen Volkspartei (EVP) erhalten hatte, ab 2012 als Präsident des Europaparlaments fungieren zu können.

Sein Versuch, selbst Kommissionspräsident zu werden, scheiterte 2014 daran, dass die SPE europaweit weniger Stimmen als die EVP erhielt. Daraufhin handelte Schulz in nichtöffentlicher Verhandlung mit der EVP aus, bis Anfang 2017 Parlamentspräsident bleiben zu können und versprach im Gegenzug die Unterstützung der SPE für die Wahl eines EVP-Kandidaten als EU-Parlamentspräsidenten Anfang 2017. An diese Absprache hielt sich die SPE später nur bedingt und erst nach der Veröffentlichung der Vereinbarung durch die EVP.

Diese Vorkommnisse kann man als Postengeschacher eines machtgierigen Karrieristen interpretieren und der Spiegel-Artikel von Markus Feldenkirchen deckt eine solche Interpretation. Wir werden sie im Wahlkampf sicher zu hören bekommen. Man kann die Vorkommnisse aber auch anders auslegen. Martin Schulz hatte das Demokratiedefizit der EU richtig erkannt und kämpfte für einen stärkeren Einfluss des Parlaments. Ihm war klar, dass das nur mit einem starken Parlamentspräsidenten funktionieren konnte und dass die meisten Politiker seiner Generation im EU-Parlament entweder dort saßen, weil sie eben keinen Machtehrgeiz und keinen Hunger nach Verantwortung hatten oder abgehalfterte ehemalige Politiker waren. Auch diese Auslegung wird von Markus Feldenkirchens Artikel gedeckt. Sicher ist, dass Martin Schulz den Kampf um einen dauerhaft größeren Parlamentseinfluss mit der Wahl Antonio Tajanis zum neuen Parlamentspräsidenten vorerst verloren hat.

Insgesamt kann man sagen, dass die Rechte des EU-Parlaments in der Zeit gestärkt wurden, die Martin Schulz dort verbracht hat und dass er dazu einen Beitrag geleistet hat. Das ist mehr als das, was viele Politiker seiner Generation bewegt haben. Es ist aber kein Durchbruch. Im Wesentlichen wird die EU durch eine undurchsichtig ausgekungelte Kommission regiert, die niemandem wirklich verantwortlich ist, und durch einen phantastisch aufgeblähten Apparat in Brüssel, in dem es wenig Sachkenntnis, viel Ideologie und noch mehr Lobby-Einfluss gibt.

Rivalen oder Zwillinge?

Das absurdeste TV-Duell, das ich je gesehen haben, war dasjenige zwischen Jean-Claude Juncker und Martin Schulz „um den EU-Kommissionsvorsitz“ im Vorfeld der Europawahl 2014. Es gab keine wesentlichen politischen Meinungsverschiedenheiten. Die beiden veranstalteten ein Theater, zu dessen Anfang gleich bekannt wurde, dass beide privat so ziemlich beste Freunde sind. Martin Schulz trat in seinen Eröffnungssätzen gegen die geheimen Kungeleien in Brüssel auf, die der Demokratie schaden, aber das relativiert sich angesichts der Absprachen, die ihm jeweils die Parlamentspräsidentschaft sicherten. Abgesehen von dieser Anfangsbemerkung, die der „nette Herr“ (Trump über Juncker) nett und ohne Schärfe damit konterte, dass er Schulz hinter verschlossenen Türen in einem abgedunkelten Raum kennengelernt habe und ja selbst auch für Transparenz sei, konnte von einem Duell keine Rede sein.

Warum sollte das im Bundestagswahlkampf anders sein? Schulz konnte „wie ein Rohrspatz über Merkel fluchen“ (Feldenkirchen), wenn sie Geld und Macht bei den Nationalstaaten halten wollte, aber er hatte doch auch als wichtige Person im EU-Parlament direkten Telefonzugang zu ihr und gab damit auch an. Außer der Macht- und Geldverteilung in Europa hatte er keine politischen Meinungsverschiedenheiten mit ihr, allenfalls bezüglich der finanziellen Unterstützung Griechenlands und anderer nach der Finanzkrise in Not geratener EU-Staaten. Wir wissen nicht, wie Angela Merkel darüber wirklich denkt, so wie wir überhaupt nicht wissen, wo Angela Merkel in wichtigen Fragen wirklich steht, denn ihr öffentlicher Standpunkt ist fast grundsätzlich die von ihr vermutete Mehrheitsmeinung der Bevölkerung. Einzig in der Flüchtlingskrise gab es eine gewisse Zeitverzögerung zwischen dem Meinungsumschwung in der Bevölkerung und bei der Bundeskanzlerin und sobald es zu dieser Verzögerung kam, war Schluss mit der Tefloneigenschaft von Angela Merkel, dass jeder politische Misserfolg einfach an ihr abperlt.

Zwischen Angela Merkel und Martin Schulz gibt es keine sichtbaren politischen Unterschiede. Wer aus der europapolitischen Haltung in den letzten Jahren solche Unterschiede konstruiert, verwechselt politische Haltung und politische Rolle. Martin Schulz vertrat die EU gegen die Nationalstaaten und Angela Merkel einen Nationalstaat gegen die EU. Beide dienten mit ihren Standpunkten ihren jeweils eigenen Machtinteressen. In Zukunft wird Martin Schulz einen Nationalstaat vertreten, als Bundeskanzler oder wahrscheinlicher als Außenminister. Der letzte Unterschied zu Angela Merkel wird dadurch zusammenschrumpfen. Beide teilen übrigens auch die Russophobie, eine unter westlichen Politikern und Journalisten weit verbreitete Massenpsychose. Das ist bei Martin Schulz, völlig im Westen sozialisiert, allerdings eher entschuldbar als bei Angela Merkel, die es aufgrund ihrer Biographie eigentlich besser wissen müsste.

Ein Ministerium wird geopfert

Der Machtwechsel in der SPD von Gabriel zu Schulz trägt noch völlig die Züge des ungenügenden politisch-handwerklichen Geschicks von Siegmar Gabriel. Alle wurden verprellt, die Öffentlichkeit, die SPD-Gremien, die Koalitionspartner und die Bundeskanzlerin, die es sich nur nicht anmerken lässt. Der Protest bleibt aber gedämpft, weil alle so froh sind, dass überhaupt geschehen ist, womit schon keiner mehr gerechnet hatte, der Rückzug Gabriels vor einer sonst zu erwartenden verheerenden Niederlage der SPD bei der Bundestagswahl 2017. Der Preis allerdings ist hoch.

Das handwerklich richtige Verfahren wäre zweifellos das folgende gewesen. Gabriel und Schulz hätten sich vorab auf den Machtwechsel geeinigt, dann gemeinsam die wichtigsten SPD-Politiker eingeweiht, dann Angela Merkel und dann die Parteigremien. Danach wäre es auf einem Parteitag öffentlich gemacht worden. Gabriel wäre, trotz seiner geringen Eignung, bis zur Bundestagswahl Wirtschaftsminister geblieben, Schulz als der offensichtlich beste Ersatz für Steinmeier Außenminister geworden.

Stattdessen wurde das Außenministerium geopfert, in einer Situation, in der es das Schlüsselministerium für die Zukunft des Landes ist. Die Wirtschaft läuft gut und das Wirtschaftsministerium hat ohnehin kaum Einfluss darauf, wie gut sie läuft. Hier wäre Gabriel weitgehend unschädlich gewesen, obwohl natürlich nicht verschwiegen werden soll, dass Frau Zypries eine Verbesserung darstellt. Das Außenministerium hingegen hat Einfluss auf den Lauf der Dinge und scheinbar kleine Fehler können dort schwerwiegende Folgen haben. Was zum Teufel hat die SPD geritten, dieses Ministerium nach der Amtsübernahme Trumps und vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich einem Politiker anzuvertrauen, der für den SPD-Vorsitz und als Kanzlerkandidat ungeeignet erscheint?

Nun scheint es dem Zeitgeist zu entsprechen, wichtige Positionen gegen den Typ zu besetzen. Boris Johnson war keine offensichtliche Wahl für einen Außenminister, auch wenn es innen- und machtpolitisch von Theresa May ein brillanter Schachzug war, ihn gerade mit diesem Amt zu betrauen. Donald Trump war keine offensichtliche Wahl für einen Präsidenten, Hillary Clinton allerdings auch nicht. Sowohl bei Boris Johnson als auch bei Donald Trump liegt aber eine große Dosis gewollte Überhöhung in ihren grellen und undiplomatischen Auftritten. Es ist in ihrem eigenen Sinn gelungene und kontrollierte Kommunikation. Bei Siegmar Gabriel ist es nur Kontrollverlust, wie jeder sieht, der sich seine Diskussion mit Mariette Slomka noch einmal anschaut. Donald Trump wird gern Dünnhäutigkeit im Umgang mit den Medien vorgeworfen. Was man bei Gabriel beobachten kann, ist welche. Der Chefdiplomat eines Landes sollte souveräner auf verbale Angriffe reagieren können und besser kontrollieren, welches Bild von sich – und seinem Land – er in der Öffentlichkeit vermittelt.

Die Herausforderungen

Der Öffentlichkeit wird das Bild vermittelt, in Berlin finde weiterhin Politik wie üblich statt, und schlimmstenfalls trifft das sogar zu. Es wäre völlig unangemessen, denn um uns herum hat sich die Welt fundamental verändert und sie ändert sich immer noch sehr schnell. Die deutsche Politik steht vor großen, zunächst hauptsächlich außenpolitischen, Herausforderungen, die sie nicht ungestraft ignorieren kann.

Zunächst muss die deutsche Regierung ein Arbeitsverhältnis zu Donald Trump und dessen Regierung finden und dieses Arbeitsverhältnis wird sich ziemlich fundamental von demjenigen unterscheiden, das bisherige deutsche Regierungen mit bisherigen US-Regierungen pflegten. Ich verstehe jeden Politiker und Journalisten, der Trump nicht mag, aber es ist unmöglich, an ihm vorbei Übereinkünfte mit den USA zu treffen und es ist unmöglich, die USA vier oder auch acht Jahre lang zu ignorieren. Dass deutsche Spitzenpolitiker sich sehr offen für Hillary Clinton und gegen Trump ausgesprochen hatten, wird für letzteren kein Problem sein, sondern eine Selbstbestätigung. In seinem Weltbild vertritt er die Interessen der USA besser als Hillary Clinton das getan hätte und schon deshalb muss er schlechter für die deutschen Interessen sein. Dieses Weltbild ist etwas sehr simpel, aber es ist vermutlich auch keine schlechtere Näherung als das bisher in Deutschland zumindest öffentlich vertretene, dass die Interessen der USA und Deutschlands nahezu deckungsgleich seien. Trump sieht Deutschland nicht als einen Vasallen, sondern als einen unabhängigen Staat mit eigenen und zum Teil zu denjenigen der USA konträren Interessen. Das ist im Kern richtig und erfordert, dass Deutschland Mechanismen zum Interessenausgleich mit den USA entwickelt. Ich traue das weder Siegmar Gabriel noch Angela Merkel zu.

In der EU wird Deutschland gerade im Zuge des Ausscheidens Großbritanniens als übermächtig wahrgenommen. So wie Trump den Exportüberschuss Deutschlands im Handel mit den USA als Problem ansieht, sehen viele europäische Staaten den Handelsüberschuss Deutschlands mit sich als ein Problem. Auch das ist im Kern richtig und es ist im Kern richtig, dass der Euro ein Teil dieses Problems ist, weil er Deutschland einen Währungskurs beschert, der dessen Wirtschaftskraft nicht angemessen ist. Daraus hat sich ein mittlerweile strukturelles Problem im Welthandel und im innereuropäischen Handel entwickelt. Dieses Problem wird auf die eine oder andere Weise abgemindert werden müssen, nicht unbedingt vor der Bundestagwahl, aber doch spätestens in der nächsten Legislaturperiode.

Ob allerdings so viel Zeit bis zu einer ernsten Krise der EU bleibt, gegen die das gegenwärtige Kriseln als mildes Vorbeben erscheinen wird, steht in den Sternen. Am 23. April findet in Frankreich die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Bis dahin kann sich noch viel tun, aber meine gegenwärtige Vorhersage ist, dass Marine Le Pen in Führung liegen und weit von einer absoluten Mehrheit entfernt sein wird, während Emmanuel Macron mit dem zweithöchsten Stimmenanteil ihr Gegenkandidat in der Stichwahl sein wird. In dieser Situation läge es im objektiven Interesse einer großen Mehrheit der Franzosen, dass Macron Präsident würde, was zugleich der bestmögliche Ausgang für die EU und mittelbar auch für Deutschland wäre. Ob das allerdings eine Mehrheit der französischen Wähler in der Stichwahl am 7. Mai auch so sehen würde, ist sehr unsicher. Macron ist zu leicht als eine Fortsetzung der Ära Hollande mit anderem Gesicht darzustellen. Gewönne aber am 7. Mai Marine Le Pen, so müssten nach den transatlantischen Beziehungen auch die Beziehungen innerhalb der EU neu geordnet werden. Dann wären innerhalb eines halben Jahres die beiden Grundpfeiler der (bundes)deutschen Außenpolitik nach dem 2. Weltkrieg gebrochen. Wie jemand vor diesem Hintergrund Siegmar Gabriel das Außenministerium anvertrauen kann, erschließt sich mir nicht.

Die Migrationspolitik liegt im Grenzbereich zwischen Außen- und Innenpolitik. Niemand kann voraussagen, wie groß der Migrationsdruck im Sommer 2017 sein wird und zu welchen Problemen innerhalb der EU das führen wird. Niemand weiß auch, wie sich das Vierecksverhältnis zwischen der Türkei, den USA, Russland und der EU weiterentwickeln wird und welcher Migrationsdruck auf Griechenland sich daraus ergeben wird. Sicher kann man wohl voraussagen, dass das Problem nicht verschwinden wird, schon weil der Migrationsdruck ein säkulares Problem ist und alles Gerede von einer Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern Wunschdenken. Das Wohlstandsgefälle zwischen diesen Ländern und dem Westen, sowie deren übermäßiges Bevölkerungswachstum werden sich in absehbarer Zukunft nicht entscheidend verändern. Diese beiden Dinge sind die Hauptursache der Migration. Selbst die tatsächlichen Flüchtlingsströme haben mittelbar etwas mit einem zu schnellen Bevölkerungswachstum zu tun, das zur Destabilisierung einiger Länder bis zu einem Punkt beigetragen hat, an dem es zu Aufständen und dann mit äußerer Finanzierung, nicht zuletzt auch durch westliche Länder oder deren Verbündete in der Region, zu Bürgerkriegen gekommen ist.

Die innenpolitischen Aspekte der Migration sind der finanzielle und der sicherheitspolitische. Derzeit gibt die Bundesregierung etwa 20 Mrd. Euro pro Jahr für die Folgen der „Flüchtlingskrise“ aus. Ein Teil davon fließt in Form von Steuereinnahmen zurück, aber andererseits haben Länder und Kommunen weitere Ausgaben. Es ist also eine konservative und von der Größenordnung her richtige Abschätzung, dass pro Kopf der deutschen Bevölkerung etwa 20 € pro Monat aufgebracht werden. Das bringt im reichen Deutschland niemanden um, andererseits gibt es durchaus Leute und Familien, für die 20 € pro Kopf und Monat kein vernachlässigbarer Solidaritätsbeitrag sind. Vor allem aber kann man das auch andersherum rechnen, was die AfD vermutlich tun wird. Ebenfalls sehr konservativ geschätzt, kostet jeder Flüchtling oder Migrant 1000 € pro Monat. Wenn Sie so rechnen, gibt es plötzlich sehr viele Leute in Deutschland, die das anstößig finden werden. Die Zahl erstaunt auch, wenn man weiß, unter welchen Bedingungen ein Teil der Flüchtlinge und Migranten monatelang gelebt hat. Man darf sich fragen, wie effizient und wie effektiv ihre Unterstützung organisiert ist, nachdem mehr als ein Jahr Zeit war, die Dinge zu ordnen.

Der sicherheitspolitische Aspekt wird übertrieben, aber er ist für die Medien sehr interessant (Gewalt hat immer Nachrichtenwert und sexuelle Gewalt einen noch größeren). Richtig ist, dass der bei weitem größte Anteil der Migranten und Flüchtlinge sich an die deutschen Gesetze hält, richtig ist aber auch, dass es Straftaten und auch Todesopfer gibt, die es ohne die „Flüchtlingskrise“ nicht gegeben hätte und dass diese Fälle medial extrem gut sichtbar sind. Es ist, entgegen den Behauptungen der AfD, nicht so, dass die „Lügenpresse“ die Berichterstattung unterdrückt, vielmehr findet ein Mord durch einen Asylbewerber mehr überregionale mediale Aufmerksamkeit als ein Mord durch einen Einheimischen. Anschläge finden immer große Aufmerksamkeit. In diesem Fall ist zwar die gefühlte Bedrohung auch viel größer als die tatsächliche, die Berichterstattung der Medien aber weniger verzerrt. Im Fall Amri lag tatsächlich Staatsversagen vor und der Fall zeigt exemplarisch, dass bestimmte Aussagen zu Mängeln in Recht und Ordnung nicht schon dadurch falsch werden, dass die AfD die einzige Partei ist, die sie vorbringt.

Merkel oder Schulz?

Auf die meisten der oben genannten Herausforderungen müssen zumindest Teilantworten in einer Zeit gefunden werden, in der Martin Schulz bestenfalls die öffentliche Meinung beeinflussen kann, nicht aber direkt politische Entscheidungen. Indirekt wird er als Vorsitzender einer Regierungsparei natürlich einen gewissen Einfluss auf Regierungsentscheidungen haben. Schon deshalb war die (vorgebliche) Taktik der SPD, ihn aus Wahlkampfgründen aus der direkten Regierungsverantwortung herauszuhalten, falsch. Er kann als Parteivorsitzender einer Regierungspartei nicht gleichzeitig einen Wahlkampf auf der Basis oppositioneller Positionen führen. Abgesehen davon ist es ein starkes Stück an Verantwortungslosigkeit dem Staat gegenüber, den weniger fähigen und weniger für das Amt geeigneten Politiker aus parteipolitischen Gründen zum Außenminister zu machen.

Nach all dem wird es den Leser oder die Leserin überraschen, dass ich für Martin Schulz als Kanzler und gegen Angela Merkel als Kanzlerin argumentiere. Bei aller Kritik an der SPD ist die CDU ausweislich ihres Wahlparteitags in einer desolaten Verfassung und unberechenbar. Wer wirklich gegen die Positionen der AfD ist, kann schwerlich zur Wahl der CDU aufrufen. Angela Merkel ist ohnehin unberechenbar. Selbst wenn man ihre Position heute kennt, kann man ihre Position morgen nicht mit hinreichender Sicherheit vorhersagen: Sie könnte auf einmal die entgegengesetzte vertreten. Das ist in der Vergangenheit vorgekommen. Frau Merkel ist nicht nur ausgebildet in der Quantenphysik, sie verhält sich wie ein Quantenpartikel. Man kann nicht gleichzeitig ihre Position und ihre Richtung und Geschwindigkeit kennen.

Martin Schulz hat Positionen und er vertritt sie offen. Mit einer Reihe dieser Positionen stimme ich nicht überein, aber wenn er außer Angela Merkel der einzige Kandidat mit gewissen Chancen ist, ziehe ich ihn entschieden vor. Schulz ist zwar wie Merkel ein etablierter Politiker, aber eben nicht in Berlin. Wenn es neue Ansätze braucht, woran ich sehr fest glaube, so kann eher Martin Schulz diese vertreten als Angela Merkel. Zudem ist Schulz weniger mit den Lobbys verquickt als Angela Merkel. Das hat ironischerweise etwas mit der relativen Bedeutungslosigkeit des EU-Parlaments zu tun, die ihm so weh getan hat. Auf europäischer Ebene stecken sich die Lobbys hinter die Kommission und hinter den Apparat in Brüssel, denn dort wird wirklich entschieden. Alles in allem ist Martin Schulz der am wenigsten verbrauchte Politiker, der nach der Bundestagswahl 2017 eine wichtige Rolle spielen kann, es sei denn, Sie wollten sich für die AfD entscheiden, was nun wieder ironischerweise das so ziemlich Schlechteste sein dürfte, was Sie im deutschen nationalen Interesse tun könnten (und ja, es gibt nationale Interessen und diese sind legitim, sie sind nur nicht absolut zu setzen).

Es gibt noch etwas, das für Martin Schulz spricht. Zwar wäre ich der Letzte, der für mehr Brüssel und mehr EU plädiert. Ich weiß aus eigener Anschauung auf meinem eigenen Arbeitsgebiet, dass der Apparat in Brüssel von keiner Sachkenntnis getrübt ist, Entscheidungen nach gesellschafts- und europapolitischen Kriterien ohne Rücksicht auf sachliche Kriterien trifft und insgesamt in einer Blase lebt, die sein Gruppendenken vollständig von der Lebensrealität der EU-Bürger aller Länder, einschließlich sogar Belgiens isoliert. Martin Schulz ist von der Europapolitik stark geprägt und hat dadurch einen inzwischen natürlichen Impuls zu „mehr Europa“. Es besteht aber derzeit und in absehbarer Zeit wirklich nicht die Gefahr, dass das zu politischen Konsequenzen führt. Der Strom der Zeit fließt inzwischen in die entgegengesetzte Richtung und droht, zu einem reißenden Strom zu werden. Man sollte immer antizyklisch handeln. Martin Schulz ist die antizyklische Antwort auf eine übermäßige Nationalisierung der Politik in Europa, also auf das Zurückschlagen des Pendels nach einer übermäßigen Zentralisierung auch auf Feldern, auf denen die Entscheidungen besser national, regional oder lokal getroffen worden wären.

Wird in Frankreich Macron gewählt, prima. Mit dem wird Schulz blendend auskommen, besser sogar als Angela Merkel. Wird wider Erwarten doch Fillon gewählt, so kann Schulz ein partnerschaftliches Gegengewicht abgeben, ohne dass das deutsch-französische Verhältnis abkühlt. Wird Le Pen gewählt, so braucht es in Deutschland einen mit Rückgrat, wie Martin Schulz und keine Wendehälsin.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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