Schweizer Corona-Testdaten. Eine Autopsie.

Covid-19 Politik wird mit irreführenden Zahlen gemacht.

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Ich möchte vorausschicken, dass wir heute über einen der weltweit besten Datensätze eines Landes zu Covid-19 reden, möglicherweise sogar den besten überhaupt. Die Probleme, die wir hier sehen, treten sehr wahrscheinlich überall auf. In den meisten Ländern gibt es sie wohl in stärkerem oder sogar viel stärkerem Ausmaß. Aus anderen Ländern sind zudem weitere Probleme bekannt, auf deren Auftreten in der Schweiz ich keinerlei Hinweis habe. Dort, wo Krankenhäuser oder Ärzte Zuschüsse für Covid-19 erhalten, besteht ein Anreiz zum Subventionsbetrug durch Meldung zusätzlicher Covid-19-Fälle. Dem Vernehmen nach kommt das in den USA, Russland und Armenien auch vor. Die Dunkelziffer ist unbekannt. Wie dem auch sei, wir betrachten heute einen Fall mit vergleichsweise hoher Zuverlässigkeit der Daten und prüfen, wie sicher diese Daten als Interpretationsgrundlage sind.

Wie groß ist die Datenunsicherheit?

Für die schweizweite, tagesgenaue Zahl positiver SARS-Cov2-Tests habe ich vier offizielle Daten-quellen ausfindig machen können. Die Daten der Kantone werden auf einem GitHub-Server zusammengetragen (im Folgenden rot), den ich in der Vergangenheit bereits genutzt habe. Die oberste Schweizer Gesundheitsbehörde (Bundesamt für Gesundheit, BAG) unterhält einen Datensatz für die Grafiken in den eigenen Berichten (grün) und einen weiteren, auf dem eine Visualisierungs-App basiert (blau). Schließlich sind Schweizer Daten im weltweiten Datensatz des offenen Datenportals der EU zu finden (schwarz). In allen Fällen wird über das Fürstentum Liechtenstein wie über einen Schweizer Kanton berichtet.

Das linke Diagramm in Abbildung 1 zeigt, dass die Übereinstimmung der tagesgenauen Daten nur mäßig ist. Die beiden BAG-Datensätze (grün und blau), stimmen sehr gut überein, aber nicht perfekt. Die Situation bei den anderen Datensätzen verbessert sich erheblich, wenn man die kumulierten Fälle betrachtet (mittleres Diagramm). Das legt nahe, dass der Hauptgrund der Abweichungen im linken Diagramm verschiedene Zuordnungen der Fallzahlen zu den Tagen sind. Im mittleren Diagramm fällt auf der Skala der Gesamtepidemie eigentlich nur noch ein Problem auf: die Verschiebung der schwarzen Kurve gegenüber den drei anderen Kurven. Diese Verschiebung legt eine Verzögerung der internationalen Daten nahe. Tatsächlich sieht die Überlagerung der Gesamtdaten fast perfekt aus, wenn man ein Verzögerung der internationalen Daten um drei Tage annimmt (rechtes Diagramm). Eine solche Verzögerung ist mehr als ein Schönheitsfehler. Will man etwa wissen, bis zu welchem Datum die Kurve exponentiell anstieg (siehe unten) oder wie Regierungsmaßnahmen auf den Epidemieverlauf gewirkt haben, macht sich die Verzögerung als Fehler bemerkbar. Im Folgenden werde ich daher mit den Daten arbeiten, die den Grafiken im Situationsbericht des BAG zugrunde liegen (grüne Punkte und Linien in der Abbildung).

Die gute Übereinstimmung für die Gesamtepidemie lässt sich nicht auf die späte Phase seit Mitte Mai übertragen (Detailgrafik in Abbildung 1, Tag 80 ist der 14. Mai). Die Steilheit der Kurven (1. Ableitung) als Funktion der Zeit weicht für die vier Datensätze erheblich voneinander ab. Wenn man aus den Datensätzen jeweils eine zeitliche Entwicklung des R-Werts berechnen würde, würde diese sehr verschieden ausfallen. Allen Kurven gemeinsam ist allerdings, dass es eine neue Anstiegsphase der gemeldeten positiven SARS-Cov2-Tests gibt (Wechsel des Vorzeichens der 2. Ableitung), die je nach Datensatz zwischen Tag 110 (13. Juni) und 120 (23. Juni) einsetzt. Ob man schlussfolgern kann, dass es sich hier auch um einen Anstieg der Zahl der Neuinfektionen handelt, untersuche ich weiter unten. Zunächst widme ich mich der Frage, bis wann die Fallzahlen exponentiell anstiegen und was daraus für die These von der Effektivität der Regierungsmaßnahmen und der Verhaltensänderungen folgt.

Der exponentielle Anstieg und sein Ende

First, increasing case numbers mean that we are facing an exponentially growing problem. Once case numbers start to increase, they will continue doing so until an intervention (or changed behavior of the population) stops them.

Aus: “Strategy to react to substantial increases in the numbers of SARS-CoV-2 (26 June)”, Swiss National COVID-19 Task Force

Diese zu prüfende These hat die Schweizer Nationale COVID-19 Task Force in ihrem am 26. Juni veröffentlichten Strategiepapier formuliert. Sie hat zwei Teile: 1. Wenn Fallzahlen ansteigen, hat man es mit einem exponentiell wachsenden Problem zu tun. 2. Sie werden weiter [exponentiell] ansteigen, bis eingegriffen wird oder sich das Verhalten der Bevölkerung ändert.

Ich werde das anhand der Schweizer SARS-Cov2-Testdaten 2020 und der deutschen Übersterblich-keitsdaten zur Grippeepidemie 2018 überprüfen. Im zweiten Fall ist von vornherein klar, dass die Gesamtthese nicht zutrifft. Es hat damals keine merklichen Regierungsmaßnahmen und keine merkliche Verhaltensänderung der Bevölkerung gegeben. Dennoch ist die Epidemie vorübergegangen. Ein quantitativer Vergleich der beiden Epidemiewellen ist dennoch aufschlussreich.

Zunächst schauen wir aber die Schweizer Covid-19-Daten in Abbildung 2 an. Wir können die kumulierten Falldaten betrachten, weil das Integral einer Exponentialfunktion ebenfalls eine Exponentialfunktion mit der gleichen Anstiegsrate ist. Ich habe Bereiche beginnend am 25. Februar bis zu einem Endpunkt zwischen dem 15. und 30. März mit einer Exponentialfunktion angepasst. Das Ende des exponentiellen Wachstums habe ich dem Tag zugeordnet, an dem die Wurzel der auf die Datenpunktzahl normierten Fehlerquadratsumme mehr als doppelt so groß wird, wie im bestangepassten Bereich. Wie man in der Abbildung sieht, ist das auch visuell sehr einleuchtend. Das exponentielle Wachstum geht maximal bis zum 20. März. Es hat mit der Funktion e-t/T – 1 eine Anstiegszeitkonstante von 4,8 Tagen. Am 21. März ist es sicher gebrochen. Einschneidende Regierungsmaßnahmen wurden am 13. März und 16. März vom Schweizer Bundesrat beschlossen, letztere traten am 17. März in Kraft.

Naiv könnte man nun denken, diese Maßnahmen hätten das Ende des exponentiellen Anstiegs bewirkt, weil sie vor dem 20. März in Kraft traten. Diese Schlussfolgerung ist falsch. Zwischen dem Inkrafttreten einer Maßnahme und dem Sichtbarwerden in der Zahl der Neuinfektionen vergeht Zeit. Die Mindestzeit ist die Summe aus der Inkubationszeit und der mittleren Verzögerung zwischen dem Auftreten von Symptomen und der Meldung des positiven Tests. Sicher ausschließen können wir daher sofort eine Wirkung der Maßnahmen, die am 17. März in Kraft traten oder von deren Ankündigung am Nachmittag des 16. März. Die Zeit war schlicht zu kurz, um ab dem 21. März einen Effekt zu sehen.

Bezüglich des 13. März ziehe ich zuerst die Schweizer COVID-19 Science Task Force selbst zu Rate. In ihrem ersten Policy Brief hat sie angegeben, dass die zu einem gegebenen Zeitpunkt laborbestätigten Infektionen Übertragungen entsprechen, die zwei bis drei Wochen eher aufgetreten sind (Part 2, Question 2 auf Seite 11). Die nachfolgende Begründung setzt ein absolutes Minimum von 9-10 Tagen. Der 21. März liegt aber nur 8 Tage nach dem 13. März. Vor dem 13. März gab es in der breiten Schweizer Bevölkerung ein eher nur mäßiges Problembewusstsein. Das legt nahe, dass das exponentielle Wachstum aus anderen Gründen abgebrochen ist. Um noch viel mehr ist dies der Fall, wenn man die eigentliche Schätzung der Swiss COVID-19 Task Force von mindestens 14 Tagen verwendet. Wir sind dann beim 7. März als dem Tag, bis zu dem Maßnahmen oder Verhaltensänderungen hätten effektiv sein müssen, um das Ende des exponentiellen Anstiegs zu erklären. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Maßnahmen und Verhaltensänderungen ausgesprochen mild.

Ein weiterer interessanter Vergleich ist derjenige zu einer Epidemie, in der es gar keine Maßnahmen gab, die die Allgemeinbevölkerung betroffen haben. Das trifft auf die Grippeepidemie 2017/18 in Deutschland zu, die eine erheblich höhere Übersterblichkeit aufwies als Covid-19 in Deutschland. Es gab 2017/18 auch keine merklichen Verhaltensänderungen in der Bevölkerung. Bezogen auf die Einwohnerzahl der Schweiz und Deutschlands war die Sterblichkeit vergleichbar zu derjenigen, die 2020 in der Schweiz Covid-19 zugeordnet wurde.

Abbildung 3 zeigt, dass beide Kurven einen ähnlichen Verlauf aufweisen, wobei Covid-19 etwa doppelt so schnell anstieg. Die Abweichung vom exponentiellen Anstieg trat bei Covid-19 in der Schweiz etwa nach 20 Tagen, bei der Grippeepidemie 2017/18 in Deutschland nach etwa 44 Tagen ein. Aus einem Vergleich von zwei Datensätzen sollten wir hier nicht gleich ein allgemeines Gesetz behaupten, nach das exponentielle Wachstum nach etwa der vierfachen Anstiegszeit abbricht. Das Beispiel zeigt allerdings schon, dass man nicht an der Behauptung festhalten kann, die die Swiss National COVID-19 Task Force aufgestellt hat und die am Anfang dieses Abschnitts zitiert ist.

Von der Sorglosigkeit

International travel controls, public transport closure, and restrictions on domestic movements had little effect on the number of COVID-19 cases. Bonardi et al. (2020)

Aus: “Strategy to react to substantial increases in the numbers of SARS-CoV-2 (26 June)”, Swiss National COVID-19 Task Force

Nachdem der Schweizer Bund die außerordentliche Lage am 19. Juni beendet und die Verantwortung an die Kantone übergeben hat, begann die Swiss National COVID19 Science Task Force über ihre Medienkontakte Propaganda gegen die Öffnungspolitik des Bundes zu betreiben. Diese bezeichnete sie als zu schnell. Als erstes Ziel setzte sie sich die Einführung einer Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln. Das erscheint angesichts des am Anfang dieses Abschnitts zitierten Satzes aus ihrem eigenen Strategiepapier als effektive Maßnahme nicht sonderlich plausibel. Die Propaganda war aber von Erfolg gekrönt. Der Schweizer Bundesrat hat am Donnerstag, dem 2. Juli eine solche Pflicht mit Gültigkeit vom Montag, dem 6. Juli angeordnet. Meine eigenen Beobachtungen am Freitagabend in Zürich und Basel zeigten, dass die Bevölkerung großmehrheitlich nicht gewillt war, das vorher bereits freiwillig zu tun.

Damit sind wir beim Punkt der Sorglosigkeit, die Journalisten und die Swiss National COVID-19 Task Force konstatieren und die ihren Behauptungen nach in den letzten zwei Wochen zu einem sich beschleunigenden Wiederanstieg der Infektionen in der Schweiz und der Gefahr einer zweiten Welle geführt hat. Dieser Anstieg ist in der Detailgrafik im linken Diagramm von Abbildung 1 erkennbar.

Ich verfolge seit Wochen aus beruflichen Gründen die Daten des Kantons Zürich (etwa 1,5 Millionen Einwohner) auf github.com/openZH/covid_19. Nach ersten Vergleichen der verfügbaren Daten Anfang April verfolge ich als Referenz auch diejenigen des Kantons Genf (etwa 500‘000 Einwohner), der damals auch deutlich stärker betroffen war, wie in Abbildung 4 zu sehen ist. Der Kanton Genf hat von allen Schweizer Kantonen zuerst getestet und hat vom 25. Februar bis 3. Juni täglich die - zur Interpretation unbedingt erforderliche - Zahl der durchgeführten Tests gemeldet. Seit dem 30. Juni meldet Genf keine Daten mehr. Der vollständige Datensatz ist als Excel-Datei verfügbar. In Abbildung 4 ist auch ersichtlich, warum Genf die Meldungen eingestellt hat. Die kumulierten positiven Tests sind asymptotisch gegen einen Grenzwert (gepunktete rote Linie) gelaufen, wie man das gegen Ende einer Epidemiewelle auch erwartet.

Im Kanton Zürich beobachtet man dieses zu erwartende kontinuierliche Abflachen der Kurve gegen Ende nicht (blaue Punkte in Abbildung 4). In den letzten zwei Wochen sieht man sogar eine Anstiegsstufe, dann wieder einen flacheren Verlauf. Dieser Anstieg wurde von der Swiss National COVID-19 Task Force und ihr nahestehenden Journalisten einer zunehmenden Sorglosigkeit der Bevölkerung zugeschrieben.

Der Vergleich der Genfer und Zürcher Daten stützt diese Interpretation nicht. Zwar mag der Genfer Johannes Calvin etwas gestrenger gewesen sein als der Zürcher Huldrych Zwingli. Der Schweizer Bevölkerung zu verkaufen, dass auf der welschen Seite des Röstigrabens sehr viel mehr Disziplin gegenüber Regierungs- und BAG-Ratschlägen vorherrscht, als auf der schwyzerdütschen Seite, dürfte aber eine etwa aufwändigere Propagandaaktion erfordern.

Dennoch kann man eine gewisse Sorglosigkeit konstatieren, nämlich wissenschaftliche Sorglosigkeit auf Seiten der Swiss National COVID-19 Science Task Force. Im Englischen redet man von „jumping to conclusions“, im Deutschen von voreiligen Schlüssen.

Geprächsversuche mit der Swiss National COVID-19 Science Task Force

Weil zwischen meiner Interpretation der Daten und meinen Anforderungen an gute Daten auf der einen Seite und den Vorstellungen der Swiss National COVID-19 Task Force zu diesen Punkten auf der anderen Seite erhebliche Unterschiede bestehen, habe ich versucht, mit führenden Vertretern der Task Force ins Gespräch zu kommen. Am Montag dieser Woche habe ich unter Einschaltung einer gemeinsamen Bekannten einen Vertreter um eine wissenschaftliche Diskussion, zum Beispiel per Video gebeten. Ich habe nur eine ausweichende Antwort erhalten. Nach einer zweiten Nachfrage schrieb mir nicht der Vertreter selbst, sondern unsere gemeinsame Bekannte, dass er in der Task Force so beschäftigt sei, dass man nicht auch noch erwarten könne, dass er mit mir diskutiere. Die Formulierung dieser Antwort habe ich hier etwas abgeschwächt paraphrasiert.

Nachdem sich dieser Versuch im Sande verlaufen hatte, habe ich am Donnerstag vier Mitgliedern der Task Force, darunter zwei führenden, die folgenden beiden Fragen gestellt:

  1. Werden gegenwärtig in allen Schweizer Kantonen positive SARS-Cov2-Tests vor der Meldung durch einen unabhängigen zweiten Tests in einem anderen Labor bestätigt? Mit anderen Worten, ist die Meldung falsch positiver Tests weitgehend ausgeschlossen?
  2. Ist in den letzten zehn Tagen die Zahl der Tests ausgeweitet worden und wenn ja, wie stark?

Auf die zweite Frage erhielt ich von einem der führenden Vertreter die Antwort, dass das der Fall gewesen sei, mit hilfreichen Links zu den Situationsberichten des BAG, aus denen das ersichtlich ist. Darauf komme ich im nächsten Abschnitt zu sprechen. Zur ersten Frage war er nicht auskunftsfähig. Er hat sein E-Mail aber wohl als Blindkopie an den zweiten führenden Vertreter geschickt, denn dessen Antwort ist anders kaum interpretierbar. Auch dieser hat meine erste Frage nicht eindeutig beantwortet. Ich weiß nun zwar, dass die Tests nicht mehr durch einen zweiten Test in einem anderen unabhängigen Labor bestätigt werden, nachdem man die Labore akkreditiert hat. Ich weiß aber nach wie vor nicht, ob sie überhaupt durch einen Zweittest bestätigt werden, bevor sie gemeldet werden.

Ich habe mehrfach per E-Mail um eine klare Antwort auf diese Frage gebeten, ohne noch einmal eine Antwort zu erhalten. Den führenden Vertreter der Task Force, der für diesen Punkt zuständig ist, konnte ich auch nicht über sein Diensttelefon erreichen. In dieser Situation erscheint es mir angebracht, davon auszugehen, dass keine Antwort auch eine Antwort ist. Ich werde mich und den folgenden Abschnitt gern korrigieren, falls die Sache klargestellt wird und die positiven Tests unerwarteterweise doch vor der Meldung durch einen Zweittest bestätigt worden sind.

Anatomie der unendlichen Epidemie

Zusätzlich weisen in einigen Fällen die Untersuchungen mit den SARS-CoV-2-negativen Kontrollproben 340060, 340062 und 340065 auf Spezifitätsprobleme hin, die unabhängig von Vertauschungen sind. Es ist abzuklären, ob diese falsch positiven Ergebnisse auf ein Spezifitätsproblem der angewendeten Teste oder auf eine Verschleppung von SARS-CoV-2 bei der Testdurchführung in den betreffenden Laboren zurückzuführen sind.

Aus: „Kommentar zum Extra Ringversuch Gruppe 340 Virusgenom-Nachweis - SARS-CoV-2“, H. Zeichhardt, M. Kammel, INSTAND Gesellschaft zur Förderung der Qualitätssicherung in medizinischen Laboratorien e.V., 2.5.2020

Tatsächlich hatte ich die täglichen Situationsberichte des BAG längere Zeit nicht mehr angesehen, weil die Daten auf github.com/openZH/covid_19 erheblich informativer waren. Dass in den Situationsberichten täglich die Zahl der insgesamt vorgenommenen Tests mitgeteilt wird, war mir neu. Die Antwort, die ich von zwei führenden Vertretern der Task Force erhalten hatte, war in diesem Punkt auch etwas euphemistisch. Wie man anhand des Archivs dieser Situationsberichte leicht nachprüfen kann, wird diese Zahl erst seit dem 25. Juni veröffentlicht. Weil das Archiv derzeit nur bis zum 29. Juni ergänzt worden ist, ich aber die Situationsberichte erst seit dem Donnerstag (2. Juli) selbst heruntergeladen habe, fehlen mir derzeit die Daten vom 30. Juni und 1. Juli. Ich werde sie ergänzen, sobald das Archiv aktualisiert ist, vermutlich am kommenden Montag oder Dienstag. [Das hat etwas länger gedauert, weil ich an den Abenden anderweitig beschäftigt war. Inzwischen wird auch das Archiv täglich aktualisiert. Die Abbildung mit den ergänzten Datenpunkten wird im Nachtrag diskutiert.]

Die Frage, ob und wann Zweittests durchgeführt werden, ist ausweislich der Ergebnisse der oben bereits zitierten Ringstudie, die in Kooperation mit der Charité (Christian Drosten) durchgeführt wurde, von großer Bedeutung für die Interpretation von SARS-Cov2-Testdaten. Von Interesse ist die Tabelle auf den Seiten 36-38 des Dokuments, in der die Tests an einer SARS-Cov2-negativen Probe (Lysat von nicht infizierten Zellen, Probe 340062) gezeigt sind. Berücksichtigt man alle 607 Tests an dieser Probe, so findet man 4 fragliche und 5 falsch positive Tests, also eine Spezifizität von 98,5% oder 1.5% falsche oder fragliche Ergebnisse.

In der Schweiz wird das von Kanton zu Kanton verschieden sein, weil vermutlich nicht alle die gleichen Testkits benutzen. Im Routinebetrieb sind Ergebnisse in der Regel auch etwas schlechter als in einer Ringstudie, in der sich alle besondere Mühe geben. Die Auswertung der Genfer Daten vom 1. Mai bis 2. Juni mit einem gleitenden Wochenmittel legt nahe, dass dort die Rate falsch positiver Tests bei etwa 0,8 bis 0,9% lag, sofern die gemeldeten Daten in diesem Kanton nicht durch einen Zweittest bestätigt worden waren. Mit nur den falsch positiven Tests aus der Ringstudie (5/607) kommt man auf 0,82%. Ich nehme daher im Folgenden 0,8% falsch positive Tests an.

Im linken Diagramm von Abbildung 5 ist ersichtlich, dass der sprunghafte Anstieg der Zahl positiver SARS-Cov2-Tests in der Schweiz Anfang Juli der Erwartung für die Ausweitung der Testzahlen um etwa 50% entspricht. Es handelt sich hier um eine Fata Morgana. Geht man davon aus, dass die Meldungen vor einer Bestätigung durch einen Zweittest erfolgt - was die Swiss National COVID-19 Science Task Force auf Anfrage zumindest nicht dementieren wollte – so liegen die Zahlen der gemeldeten positiven Tests zudem seit dem Tag, an dem die Zahl der Gesamttests bekannt ist, immer innerhalb des Unsicherheitsbandes falsch positiver Tests (grün im rechten Diagramm von Abbildung 5), auch wenn gar keine Neuinfektionen mehr vorliegen sollten.

Man kann daraus nicht schließen, dass es gar keine Neuinfektionen mehr gibt. Sehr wahrscheinlich ist aber nur ein geringer Anteil der gemeldeten positiven Tests korrekt. Aus den vorliegenden Daten kann unter keinen Umständen auf einen starken Anstieg der Zahl der Neuinfektionen geschlossen werden, wie das die Swiss National COVID-19 Science Task Force tut.

Öffentlichkeit, Politik und die Swiss National COVID-19 Science Task Force

Wissenschaft ist die unvoreingenommene Untersuchung von Vorgängen. Sie erfordert ein stetiges Infragestellen der Qualität der Daten, die man interpretieren möchte, sowie der Annahmen, die man bei dieser Interpretation macht. Die politischen Papiere der Swiss National COVID-19 Science Task Force lassen diese Art von Wissenschaftlichkeit vermissen.

Die Öffentlichkeit und die Politik sollten von der Task Force verlangen, dass Daten so erfasst und kommuniziert werden, dass sie auch sicher interpretierbar sind. Das verlangt die folgenden Änderungen:

  1. Die Gesamtzahl der Tests muss nicht nur in den Situationsberichten erwähnt, sondern auch in die öffentlich zugänglichen Datentabellen eingetragen werden.
  2. Positive Tests sind durch einen Zweittest zu bestätigen, bevor sie gemeldet werden. Der Zweittest soll in einem anderen Labor erfolgen, weil Laborkontaminationen nicht auszuschließen sind.
  3. Echt positive Tests sind den Klassen „Lokaler Ausbruch“ (Cluster positiver Tests) und „Einzelfall“ zuzuordnen und getrennt auszuweisen.

Punkt 1 erfordert keinen nennenswerten Zusatzaufwand und dient der Transparenz und Vertrauensbildung. Punkt 2 verzögert die Meldung geringfügig, was angesichts der gegenwärtigen Unsicherheit der Testdaten (Detailgrafik im linken Diagramm von Abbildung 1) sicher keine Verschlechterung darstellt. Es ist besser, zuverlässige Daten etwas später zu haben, als irreführende jetzt. Wichtig ist das, weil Ressourcen für Reaktionen begrenzt sind, gerade auch, was die Geduld, das Vertrauen und die Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung betrifft. Punkt 3 ist wichtig, um einen Gesamtüberblick zu gewinnen, der eine sinnvolle Lenkung der Ressourcen ermöglicht.

Fazit

In der Corona-Krise riskieren die Wissenschaft und ihre Institutionen einen weitgehenden Vertrauensverlust. Das liegt daran, dass führende Vertreter Politik statt Wissenschaft betreiben und in Narrativen denken, statt die Situation ergebnisoffen zu erforschen. Dieses Verhalten tut weder der Wissenschaft noch der Gesellschaft gut.

Nachtrag - Statistische Unsicherheit der Positivrate (9. Juli, 21:30 Uhr)

Der Zeitverlauf des Anteils positiver Tests in der Schweiz seit dem 25. Juni bis zum heutigen Tag ist in Abbildung 6 dargestellt. Erst seit diesem Tag ist die Zahl der täglich in der Schweiz und Liechtenstein durchgeführten PCR-Tests öffentlich bekannt. Die Daten sind aus den täglichen Situationsberichten des BAG entnommen (falls es jemand genau wissen will: Ich lade die PDF-Datei mit Matlab® automatisch herunter, extrahiere den Text mit Ghostscript und dann alle für mich interessanten Daten per Stringverarbeitung).

Für jeden Tag haben wir eine Zahl P positiv verlaufener PCR-Tests und eine Zahl N unternommener Tests. Die Frage falsch positiver Test lasse ich hier beseite und frage nur, wie groß die statistischen Unsicherheit des prozentualen Anteils 100·P/N positiver Tests ist. Ich nehme an, dass N sicher bekannt ist und die Anzahl positiver Tests unter N Tests einen Erwartungswert E hat. Die Wahrscheinlichkeit, P positive Ergebnisse für einen Erwartungswert E zu erhalten, folgt einer Poisson-Verteilung - sofern es keine systematischen Fehler gibt. Wenn wir für jeden möglichen Erwartungswert E die Wahrscheinlichkeit von P kennen, können wir das umkehren und berechnen welcher Bereich von Erwartungswerten min(E) bis max(E) 95% der Gesamtwahrscheinlichkeit abdeckt. Das ergibt einen Fehlerbalken, innerhalb dessen der Erwartungswert E mit 95%iger Sicherheit liegt, wenn wir P gefunden haben. Diese Fehlerbalken sind in Abbildung 6 eingezeichnet.

Vom 25. Juni bis 1. Juli sieht man tatsächlich einen signifikanten, wenn auch keineswegs exponentiellen, sondern eher linearen Anstieg. betrachtet man allerdings nur die Zeit vom 28. oder 29. Juni bis zum 9. Juli, so ist ein konstanter Anteil das beste Modell. Die Streuung scheint etwas größer zu sein als die Poisson-Verteilung vorhersagt.

Die Frage ist nun, ob sich überhaupt etwas Signifikantes getan hat. Schaut man nur auf die statistische Unsicherheit, dann sieht es für die Anfangsphase so aus. Ein systematischer Trend der Daten kann sich aber ergeben, wenn sich entweder die Teststrategie ändert oder sich der Anteil der Tests zwischen Laboren verschiebt, die zum Beispiel unterschiedliche Anteile falsch positiver Tests aufweisen.

Nehmen wir an, es seien echt positive Tests und die Teststrategie sei in dem Sinne verbessert worden, dass stärker bevorzugt Personen getestet werden, die auch infiziert sind. Nehmen wir an, eine solche Änderung der Strategie sei ab dem 25. Juni eingeführt worden. In der Zeit, in der sie sich durchsetzte, wäre es dann zu dem Anstieg gekommen, den man in den Daten sieht.

Natürlich ist das reine Spekulation. Der Übergang von einer Phase mit um die 0,5% positiver Tests zu einer mit um 1% kann einem Anstieg mittlerer Infektionszahlen entsprechen. Wenn dem so war, so sollte sich mit einer gewissen Verzögerung die mittlere Zahl der täglichen Sterbefälle verdoppeln. Dieser Test ist allerdings unmöglich. Außer der Nachmeldung zweier lange zurückliegender Todesfälle am 30.6. gab es in der gesamten Periode nur zwei neue, am 1. und 2. Juli, davor keine und danach keine.

Diesem Auseianderlaufen der Zahl positiver Tests und der Zahl der Sterbefälle werde ich am Wochenende noch einmal näher nachgehen, denn hierbei handelt es sich um ein international weit verbreitetes Phänomen, das sich zu verstärken scheint.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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