Stehend bankrott

Kiew Ein ursprünglich veröffentlichter Bericht zur makroökonomischen Lage der Ukraine im November wurde depubliziert. Das Land steht vor einem finanziellen Kollaps.

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Am 9. Dezember hatte die die Kyiv Post den Monatsbericht der Firma SigmaBleyzer über die makroökonomische Situation der Ukraine im November 2014 veröffentlicht. Wie üblich hatte ich nur den Link abgespeichert, dort finden sich aber nur noch die Kommentare. Auch das U.S.-Ukraine Business Council hat es vorgezogen, diesen Bericht auf seiner Homepage nicht zu veröffentlichen, derjenige von Oktober ist noch zugänglich. SigmaBleyzer selbst allerdings hat den Bericht nicht zurückgezogen. Für das gesamte Jahr 2014 werden eine Kontraktion der Wirtschaft um 7% und ein Rückgang des Konsums in gleichem Ausmaß, ein Fall der Währung um 47% gegen den US$, ein Budget-Defizit des Staates von 12% und ein Rückgang der Devisenreserven von 20.4 auf 8 Milliarden US$ vorhergesagt. Für die Währungsreserven am Ende des Jahres hatte noch der September-Bericht das Doppelte, also 16 Mrd. US$ angenommen. Die Wirtschaft habe sich auf dem niedrigen Niveau des Oktobers stabilisiert. Zusammengebrochen war sie im Juni bis August, und ich möchte anmerken, dass dieser Zusammenbruch nicht zufällig mit der Offensive der Kiewer Regierung im Donbass zusammenfällt.

Die Staatsverschuldung, die noch zwei Monate nach dem Ende der Janukowitsch-Regierung für Ende 2014 mit 53% des Bruttosozialproduktes (BSP) vorhergesagt wurde, wird jetzt mit 68% angenommen, was Russland theoretisch das Recht gibt, für die im Dezember 2013 gewährten Anleihen von 3 Mrd. US$ eine sofortige Rückzahlung zu verlangen. Die Schranke dafür liegt bei einer Verschuldung von 60% des BSP. Für 2015 wird eine weitere Kontraktion des BSP um 4% vorhergesagt. Der britische Economist hat abgeschätzt, dass das BSP der Ukraine ab jetzt bis 2030 jährlich um 10% wachsen müsste, damit sie bis dahin das Niveau Polens erreicht. Ein EU-Beitritt der Ukraine in absehbarer Zeit ist völlig ausgeschlossen. Die Ukrainer sind heute im Durchschnitt um 20% ärmer als beim Zusammenbruch der Sowjetunion. Für die Finanzierungslücke der Ukraine nimmt der Economist 20 Mrd. US$ an und bemerkt, dass vor Ende 2014 keine weitere ausländische Finanzhilfe zu erwarten sei und dass sie danach zu spät kommen könnte.

Die Zeilen zum Export und Import von Gütern und Dienstleistungen in der Haupttabelle von SigmaBleyzer, die es im April noch gab, sind verschwunden. Weiter hinten ist aus einer Grafik ersichtlich, dass die Exporte übers Jahr um 28%, die Importe sogar um 37% gesunken sind. SigmaBleyer nimmt an, dass die Ukraine im kommenden Jahr 12 Mrd. US$ neue Schulden aufnehmen muss. Bis Ende 2016 werden laut Economist zudem 16 Mrd. US$ Schuldenrückzahlungen fällig.

Seit dem Beginn dieses Jahres schmelzen laut SigmaBleyzer die Bankeinlagen sowohl in ausländischen Währungen als auch in der Landeswährung ab, ein Trend der sich auch im Oktober und November nicht verlangsamt hat. Insbesondere hat sich zwischen den Einlagen und Krediten in US$ eine Schere aufgetan. Erstere sind über das Jahr um über 30% gefallen, letztere aber nur um etwa 12%. Auch in der Landeswährung sind die Einlagen stärker gefallen als die Kredite. Die Tauschrate des einheimischen Hryvnia zum US$ ist von etwa 8 zu Anfang des Jahres auf jetzt etwa 15 gewachsen, die Währung hat also bereits jetzt fast die Hälfte ihres Werts verloren. SigmaBleyzer sagt für nächstes Jahr 17 voraus, Timothy Ash von der Standard Bank laut Economist bis zu 25.

Diese Zahlen wiederum haben Professor Andrei Kirilenko von der renommierten MIT Sloan School of Management veranlasst, einen Artikel über die Unabhängigkeit der ukrainischen Nationalbank zu verfassen, der vernichtende Aussagen enthält. Er geht von der Aussage aus, dass der Hryvnia in den letzten 5 Wochen 19% an Wert verloren habe und erklärt auch, wie das genau geschehen ist. Ende September hat Präsident Poroschenko die führenden Banker und Geschäftsleute versammelt, ihnen mitgeteilt, wie die Austauschrate sein müsse und mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Die Nationalbank hat sie dann auf diesem Niveau verteidigt, wie man auch der Grafik von SigmaBleyzer entnehmen kann. Das erklärt zumindest zum Teil auch die schnelle Abnahme der Währungsreserven, die SigmaBleyzer nicht vorhergesehen hatte. Diese wahlvorbereitende Maßnahme, wie Kirilenko es betrachtet, hat seiner Meinung nach mehrere hundert Millionen US$ der wertvollen Reserven gekostet. Bald nach den Wahlen brach der Kurs dann in einer Woche um 14% ein.

Kirilenko schätzt die Nettowährungsreserven derzeit auf nur noch mehrere hundert Millionen US$ ein. Das legt nahe, dass SigmaBleyzer nicht alle bereits bekannten Verbindlichkeiten eingerechnet hat. Nach Kirilenko steuert das Bankensystem schnell auf die Insolvenz zu (meine Hervorhebung). Mehr als die Hälfte der Kredite sei notleidend, während, wie schon von SigmaBleyzer bemerkt, die Einlagen weiter fallen. Derweil liegt laut Economist die Discount-Rate der Zentralbank bei happigen 14%, so dass sich die Banken selbst nur schwer refinanzieren können.

Vor dem Hintergrund dieser Zahlen muss die Einstellung des Bankbetriebs in den von Separatisten besetzten Gebieten durch Poroschenko am 15. November nicht in erster Linie ein Versuch gewesen sein, den Separatisten zu schaden, zumal das in der dortigen Bevölkerung wohl kaum zu einem Popularitätszuwachs der Kiewer Regierung geführt haben dürfte. Durch diese Einstellung des Bankbetriebs wurde ein Teil der Einlagen de facto eingefroren, was den Kollaps der Banken verzögert. Zugleich hat die Regierung alle Verbindlichkeiten für nichtig erklärt, die sie selbst dort hat, womit sie ebenfalls Zeit bis zum finanziellen Kollaps kauft.

Formell ist bisher weder das Bankensystem zusammengebrochen, noch ist die Ukraine als Staat zahlungsunfähig geworden. Das dürfte vor allem daran liegen, dass alle Marktteilnehmer von den westlichen Staaten erwarten, dass sie im Ernstfall Geld nachschießen. Anderenfalls würden sie ein seit über einem Jahr groß angelegtes geostrategisches Machtspiel verlieren, in das sie selbst bereits große Summen und viel politisches Kapital gesteckt haben.

Faktisch sehen aber die westlichen Regierungen das Land wohl bereits als zahlungsunfähig an. Die Präsenz ausländischer Minister in der gegenwärtigen Regierung dürfte kaum auf die Initiative ukrainischer Politiker zurückgehen. Alles spricht dafür, dass Poroschenko von den Geldgebern dazu gezwungen wurde und dass diese Leute Insolvenzverwalter sind. Am Deutlichsten ist das bei der US-amerikanischen Finanzministerin Natalie Jaresko. Keine Regierung gibt freiwillig die Kontrolle über ihre Finanzen an einen Vertreter des Außenministeriums eines anderen Staates ab, auch wenn dieser Staat als Verbündeter angesehen wird. Jaresko wird vom Westen mit den Mitteln ausgestattet werden, die eine Zahlungsunfähigkeit der Regierung verhindern. Zu diesem Zweck wird die US-Regierung auch kaum davor zurückschrecken, Druck auf die EU-Staaten und auf private Gläubiger der Ukraine auszuüben. Ob Jaresko freilich innerhalb der Ukraine den Zusammenbruch des Bankensektors verhindern kann- oder auch nur verhindern soll- steht in den Sternen. Meine Vorhersage für 2015 ist ein Aufblühen von Ablegern US-amerikanischer Banken in der Ukraine.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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