Tor

Nicht, was Sie denken Es geht um die Geschichte eines Pyrenäen-Dorfs und vielleicht um viel mehr.

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Die Nacht zuvor hatte ich in Areu verbracht. Auf der Michelin-Karte 145 Pirineos Centrales / Pirineos Aragonés sieht das Dorf wie ein Endpunkt der Zivilisation aus. So ist es nicht. Die Straße zum Rifugio Vallferrera geht zunächst noch befestigt weiter und am Samstagnachmittag waren ein Restaurant und eine Bar geöffnet; Siesta-Stimmung mit großen Rotwein-Gläsern. Am gegenüberliegenden Hang waren drei katalanische Fahnen auszumachen. Auch das im Vall Ferrera übliche Schild fehlte nicht: "Katalonien gibt es seit 1000 Jahren. Areu gibt es schon immer."

Der Sonntagmorgen war angenehm kühl und schnell war ich nach Alins hinabgerollt, wo der Abzweig nach Tor noch ausgeschildert ist. Die schmale Asphaltstraße klettert einen kurzen Hang hinauf, der schon in der Sonne lag. Oben angelangt, stürzt sie sich gleich wieder hinab in die enge Schlucht der La Noguera de Tor. Kurz vor dem Abzweig nach Noris kam mir ein Quad entgegen. Es sollte die letzte Begegnung mit einem Menschen bis weit oberhalb von Tor sein.

Die Asphaltstraße wendet sich nach Noris, nach Tor geht es auf Beton weiter. Ich erinnerte mich an die Beschreibung von Carles Porta in seinem Tatsachenroman „Tor. Das verfluchte Dorf.“ Im Winter wird diese Straße nicht geräumt und ist nur mit Schneemobilen befahrbar. Im Frühjahr kann sie vereist und gefährlich sein. Jetzt, Mitte Juni, fuhr sie sich angenehm. Sie steigt beträchtlich an. Aber die Gangschaltung meines Reiserads konnte sie nicht in Verlegenheit bringen.

Am Anfang des Gemeindegebiets von Tor quert die Straße noch einmal auf einer Betonbrücke die Noguera. Hier irrt die Michelin-Karte 146 nach der anderen Seite, indem sie die Straße bis ins Dorf hinein befestigt wähnt. Nach der Brücke gibt es nur noch einen Fahrweg aus schwarzer Erde mit großen Steinen, der einem Radfahrer Konzentration abverlangt. Bis zum ersten Haus sind es noch einige hundert Meter. In Tor stehen nur noch neun Häuser. Vier Häuser brannten im Juli 1944 ab, als der Maquis im Dorf auftauchte, die Familie Sansa die Guardia Civil rief und es zum Kampf kam. Die betroffenen Familien zogen weg.

An meinem Junisonntag lag Tor auch deutlich nach 9 Uhr noch im Schatten. Vielleicht wirkte es deshalb so unbewohnt. Einzig die Casa Sisqueta machte einen einladenden Eindruck. Vor dem Haus spielten drei junge Katzen, denen der Platz noch bis 10 Uhr gehören würde. Dann öffnet das Restaurant. Sonst nichts. Kein Mensch. Kein Hund. Kein Auto. Der alte Sansa, Josep Montané, wurde im Juli 1995 ermordet. Nie wurde geklärt, von wem.

Hier gibt es keine Ausschilderung, aber in Tor kann man sich nicht mehr verfahren. Der einzige Weg nach oben quert noch einmal über eine Betonbrücke die Noguera, nur um dann noch unbefestigter zu wirken als der Weg, der von unten nach Tor führt. Die kleine Kirche und die letzten beiden Höfe waren schnell passiert. Von hier aus geht es zum Port de Cabús, der auf der Grenze zwischen Spanien und Andorra liegt. Diesen Weg hat Sansa zwischen 1964 und 1968 gebaut. Ein paar hundert Meter nach Tor quert er den Riu de la Rabassa und noch einmal hundert Meter weiter gibt es einen Abzweig. Nach links quert der Weg wieder den Riu und zieht sich dann im Wald den Hang hinauf. Das ist Sansas Weg Pleià.

Ich jedoch fuhr geradeaus weiter auf dem Weg, der durch die Grundstücke von Palanca verläuft, La Rabassa heißt und die schöneren Ausblicke versprach. Zwei Holzfäller, die Palancas Leibwächter waren, wurden im Juli 1980 von Dionisio Rodrigo und Ramón Miró erschossen. Die beiden waren damals die Leibwächter des Aragoniers Ruben Castañer. Ein Streit der beiden Gruppen war zuerst zur Prügelei ausgeartet, dann zückte einer der Leibwächter Palancas einen Dolch.

Auf dem Weg La Rabassa gibt es kurz nach dem Abzweig eine etwa 15% steile Rampe, die mich zum Absteigen und Schieben zwang. Kurz nach der Rampe, ich war kaum wieder aufgestiegen, öffnete sich plötzlich das Tal. Es lag in der Sonne. Links unterhalb des Weges, weit verstreut, weidete eine riesige Pferdeherde. An diesem Punkt verstand ich, warum Tor trotz seiner Abgelegenheit bis zum 2. Weltkrieg ein reiches Dorf gewesen ist. Seit dem 13. Jahrhundert hatten drei Familien dominiert, die Sansa, die Palanca und die Cerdà. Dabei hatte der Boden des Tor-Berges allen im Dorf gehört, zunächst de facto und seit dem 14. Juli 1896 auch de jure. Die Sansa, Palanca und Cerdà waren einfach diejenigen gewesen, die am meisten Vieh besaßen. Der Palanca von 1980 lebte weitgehend vom Handel mit Pyrenäen-Stuten, schönen Pferden, wie ich sie auch jetzt links des Weges sah. Im Jahr 2008 soll er die damals geplante Asphaltierung der Straße zum Port de Cabús verhindert haben.

Am Talende quert Palancas Weg in einer Furt den Riu de la Rabassa. Dort kehrt er auch und zieht sich dann auf der gegenüberliegenden Talseite den Hang hinauf. Zu dessen Überwindung braucht er einige Serpentinen, in denen mir zwei Burschen auf Geländemotorrädern begegneten. Sie fuhren langsam, weil die Spurrinnen hier sehr tief sind. Auf der Hochebene von Llumaneres trifft Palancas Weg La Rabassa wieder auf Sansas Weg Pleià. Ab hier gibt es nur noch eine Möglichkeit, zum Pass zu gelangen. Auf der Hochebene stand eine zweite, kleinere Pferdeherde. Das Leitpferd mit der hellklingenden Glocke tat ein paar Schritte, als ich es passierte.

Dass Sansa 1964 zu den Weiden der Hochebene von Llumaneres einen Weg baute, ist verständlich. Aus dem restlichen Stück Pfad bis zum Pass einen Fahrweg zu machen, wie er es bis 1968 tat, leuchtet weniger ein, denn bis zur andorranischen Grenze kommt nun kein Weideland mehr. Allerdings war das seit jeher ein Schmugglerpfad. Der neue Fahrweg machte den Übergang am Port de Cabús zur idealen Schmuggelroute für die in Andorra hergestellten Zigaretten. Das führte noch nicht zum Streit. Man darf annehmen, dass sowohl Sansa als auch Palanca Einkünfte aus dem Wegzoll erzielten.

Hier kommt Ruben Castañer ins Spiel, der als Immobilienmakler an der Erschließung des andorranischen Skigebiets Arinsal beteiligt war. Die führenden andorranischen Familien, die ihn anfangs benutzten, wussten zu verhindern, dass der Fremde zu reich wurde. Er wurde aber doch wohlhabend genug und wusste, wie man Investoren für Großprojekte findet. In Arinsal hatte 1973 der erste Skilift geöffnet. Ebenfalls in Andorra wurde nun ein weiteres Skigebiet in Pal erschlossen. Über den Berg von Tor und das Rabassa-Tal hätten sich beide Gebiete verbinden lassen. Dort, in Spanien, hätten die andorranischen Familien keinen Einfluss auf Ruben Castañers Projekt gehabt. Er erschien 1976 in Tor und wandte sich an Sansa, der den Weg zum Port de Cabús gebaut hatte.

Die Eigentumsverhältnisse am Berg von Tor waren jedoch heillos kompliziert. Der Boden gehörte de jure gemeinsam allen 13 Familien, die 1896 in Tor gelebt hatten. Vier davon aber waren nach 1944 weggezogen, was sie nach dem Statut der Miteigentümergesellschaft ausschloss. Zudem zogen die drei Familien Sansa, Palanca und Cerdà viel mehr Profit aus dem Grundeigentum, weil sie eben mehr Vieh weiden lassen konnten. Ruben Castañer wollte das Problem dadurch lösen, dass er nur mit den Vorständen dieser drei Familien verhandelte und die anderen vom Eigentum ausschloss. Die Handhabe dafür war eine Bestimmung im Statut der Miteigentümergesellschaft, nach der das Land denjenigen gehörte, die in Tor „das Feuer nicht ausgehen ließen“, also ganzjährig dort wohnten. Das tat 1976 niemand mehr, aber es gab doch Unterschiede. Auf diese Idee gingen Sansa und Cerdà ein, während sich Palanca verweigerte. Daraufhin versuchten Sansa und Cerdà, auch Palanca aus dem Miteigentum zu drängen. Dessen Familie hatte es eher aufgegeben, ganzjährig in Tor zu wohnen.

Rechtssicherheit bedeutet, dass Gerichte in nützlicher Frist einigermaßen vorhersagbare Entscheidungen treffen, die dann auch Bestand haben. So etwas hat es in westlichen Gesellschaften einmal gegeben, aber in diesem Fall schon Ende der 1970er Jahre nicht mehr. Bis 1995 kam es zu keiner Entscheidung über die Eigentumsfrage am Berg Tor. Als sie dann fiel, konnte sie keiner verstehen.

Zwischen der Hochebene von Llumaneres und dem Port de Cabús begegneten mir zwei Mountainbiker, die angehalten hatten, um Fotos zu machen und sich zu beratschlagen. Der eine, mit Integralhelm und verspiegeltem Visier nickte mir freundlich zu. Bald danach kam ich zu dem Schild, das die Grenze des Gemeindegebiets von Tor anzeigt. Es sind dann vielleicht noch zweihundert Meter bis zur spanisch-andorranischen Grenze. Dort geht der steinige, zerfahrene Weg plötzlich in die sieben Meter breite, gut asphaltierte andorranische Straße CG-4 über. Das Stück zwischen Col de la Botella und Port de Cabús liegt wunderschön am Hang und geht auf die Initiative von Ruben Castañer zurück. Es wurde 1978 fertig. Bei der Feier am Pass gab es Streit und auch hier fiel ein Schuss, der allerdings in die Luft abgefeuert wurde.

Seit 2001 sind Arinsal und Pal auf der andorranischen Seite durch eine Seilbahn verbunden und seit 2004 bilden sie zusammen mit Ordino-Arcalis ein zusammenhängendes Skigebiet. Ein Skigebiet am Berg von Tor wäre wohl immer noch profitabel, aber von viel kleinerer Bedeutung, als es 1976 schien.

Damals, während sich die Gerichte viel Zeit mit der Klärung der Eigentumsverhältnisse ließen und die Verzögerungstaktik von Palancas Anwalt unglaublich erfolgreich war, begannen Sansa und Ruben Castañer mit ersten bescheidenen Bauvorhaben. Was fertig war, fanden sie kurz darauf zerstört vor. Man darf wohl annehmen, dass es von Palanca oder seinen Leuten zerstört wurde. Jedoch kann niemand sicher sagen, was in den dunklen Nächten im elektrizitätslosen Dorf Tor geschah.

Wer auch immer glaubt, dass nur alte weiße Männer in abgelegenen Pyrenäengegenden so destruktiv handeln, der irrt. Oder, um es zu gendern, die oder der irrt. Ich weiß, wovon ich hier rede.

Die erste Entscheidung fällte am 24. Januar 1995 das Gericht von Tremp, einer kleinen katalonischen Stadt, die heute 5800 Einwohner hat. Sie erklärte Sansa zum Alleineigentümer des Berges von Tor. Auch die Cerdà gingen leer aus, Palanca und alle anderen sowieso. Im Juli des selben Jahres wurde Sansa tot aufgefunden. Er war verprügelt worden, dann erwürgt und sein Schädel war eingeschlagen. Die Leiche war bereits teilweise verwest. Sansa war ein Einzelgänger gewesen, wie übrigens auch Palanca. Direkte Erben hatte Sansa nicht.

Die englischen Investoren, die Ruben Castañer für sein Projekt gefunden hatte, waren schon nach dem Doppelmord von 1980 abgesprungen. Es ging hier schon lange nicht mehr um möglichen Reichtum und dessen Verteilung. Es ging darum, Recht zu behalten und für Palanca auch um das Weideland seiner Pferdeherde. Natürlich legte er gegen das Urteil des Gerichts von Tremp Revision ein. Im Januar 1997 kam das Gericht von Lleida zum entgegengesetzten Schluss. Der Berg sei Eigentum aller Dorfbewohner von Tor. Diesmal legten alle Prozessparteien Revision ein. Das Oberste Gericht kassierte dieses Urteil wegen Formfehlern und verwies die Sache zurück an das Gericht von Lleida.

Im Jahr 2002 fand das Gericht von Lleida, der Berg von Tor gehöre den Erben der Gründer der Miteigentümergesellschaft von 1896, weil sie über 30 Jahre namentlich im Grundbuch eingetragen gewesen seien. Daher kämen die Statuten dieser Gesellschaft nicht mehr weiter in Betracht. Dieses Urteil wurde vom Oberlandesgericht Katalonien 2005 in letzter Instanz bestätigt, nachdem der Rechtsstreit fast 30 Jahre gedauert hatte.

Palanca ist am Parkinson-Syndrom erkrankt und lebt weiter unten im Tal. Die Casa Sisqueta wird heute von Pilar Sisqueta geführt, die 27 Jahre alt war, als Carles Porta im Februar 1997 Interviews mit den Frauen von Tor für die katalanische Fernsehsendung „30 Minuts“ führte. Dass ein Interessenkonflikt aus dem Dorf hinaus zur Justiz getragen wurde, hielt sie damals für den Grund der ganzen Tragödie. Carles Porta fand Pilar offenbar sympathisch. Er beschreibt sie als energisch und intelligent.

Und ich glaube, sie hatte Recht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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