Über die Strenge geschlagen

Covid-19 Nur eine vorurteilsfreie, kühle Betrachtung wird es uns ermöglichen, die nötigen Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen.

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Judith Holofernes von Wir sind Helden, Guten Tag

Der Oxford-Strenge-Index

In der vergangenen Woche hatte ich argumentiert, dass staatliche Zwangsmaßnahmen den Covid-19-Epidemieverlauf nicht beeinflusst haben. Die Basis war die gleiche Form, insbesondere die gleiche Anstiegsrate der Übersterblichkeitskurven in acht Ländern, zu denen auch die sehr restriktiven Staaten Italien, Spanien, Frankreich und das sehr liberale Schweden gehörten und die Übereinstimmung der Kurvenform in allen acht Ländern mit korrekt normierten SARS-Cov2-Testdaten des Schweizer Kantons Genf. In der Diskussion hatte mich @Grenzpunkt o darauf hingewiesen, dass es eine Seite der Financial Times gibt, auf der die Strenge der Reaktion verschiedener Staaten auf einer Zeitachse visualisiert ist. Dem bin ich nachgegangen. Der quantitative Strenge-Index wurde an der University of Oxford entwickelt (Hale, Thomas, Sam Webster, Anna Petherick, Toby Phillips, and Beatriz Kira (2020). Oxford COVID-19 Government Response Tracker, Blavatnik School of Government). Auf die aktuellen Daten kann über ein Application Programming Interface (API) zurückgegriffen werden oder sie können als Datei heruntergeladen werden, was ich getan habe. Sie sind sehr detailliert, werden ständig aktualisiert und die Ideen, auf denen das Projekt beruht, sind sauber und ausführlich beschrieben. Es ist halt Oxford-Qualität.

Diese Daten lassen sich mit den Übersterblichkeiten in einer gemeinsamen Visualisierung verbinden. Ich komme hier nicht umhin, ein paar technische Details zu erklären. Ich verwende die aktuellen Übersterblichkeitsdaten von EUROMOMO, die am 14.5. bis zur Woche 19 aktualisiert wurden. Dabei wurden Korrekturen für die Wochen 17 und 18 angebracht, die ich berücksichtigt habe. Weil die Daten des Oxford-Strenge-Index (OSI) tagesgenau sind, habe ich die nur wochengenau gegebenen EUROMOMO-Daten formtreu interpoliert (stückweise kubische Splines), wobei ich die Punkte in die Wochenmitte gelegt und sie zudem um 11 Tage zurückdatiert habe. Damit erhalte ich eine Abschätzung des tatsächlichen Verlaufs der Infektionskurve. In der vergangenen Woche hatte ich eine Verzögerung von 10 Tagen zwischen Infektionskurve und Übersterblichkeitskurve gefunden, indem ich die Genfer Testdaten an die Schweizer Übersterblichkeitskurve angepasst hatte. Nun erschien es mir besser, die Genfer Daten an die von der gleichen Institution gemeldeten, mit Covid-19 im Zusammenhang stehenden, Sterbefälle anzupassen. Das ergibt die Verzögerung von 11 Tagen. Der eine Tag Unterschied ist als Unsicherheit dieser Abschätzung anzusehen.

Betrachtet man zunächst nur die Daten für England (linkes Diagramm), so könnte man mit sehr viel gutem Willen annehmen, dass die Infektionen durch die strikteren Maßnahmen gestoppt wurden. Etwa 8 Tage nachdem die Maßnahmen den OSI-Wert von 50 (Mitte der Skala) überstiegen, wurde der Höhepunkt der Infektionswelle überschritten. Diese 8 Tage sind die Verzögerung, die von der Gruppe um Tanja Stadler von der ETH Zürich angenommen wird, ehe sich Maßnahmen bemerkbar machen. Nimmt man die von Politikern lieber angenommenen 14 Tage an, passt es allerdings nicht mehr. Auch bei den 8 Tagen muss man ein Auge zudrücken. Die Kurve flacht vorher ab. Man könnte das aber darauf schieben, dass die Originaldaten ja nur wochengenau waren und die „formtreue“ Interpolation nicht das tatsächliche Verhalten rekonstruieren kann.

Allerdings zeigt diese Betrachtung am Ende nur, dass man nicht anhand eines anekdotischen Beispiels argumentieren darf, wie das in den Medien nur zu oft getan wird. Schaut man die Daten von Italien (mittleres Diagramm) an, passt die Argumentation nicht mehr. Der OSI von 50 wurde mehr als 11 Tage vor dem Ansteigen der Übersterblichkeit überstiegen und trotzdem stieg die Infektionskurve danach erst einmal stärker an. Sie flachte erstmals ab, als die Maßnahmen noch einmal verschärft wurden, aber ohne jede Verzögerung. Ein gemeinsames Muster mit England ist nicht erkennbar. Die Daten von Schweden (rechtes Diagramm) zeigen nur noch einmal, was ich bereits in der Vorwoche argumentiert hatte. Obwohl ein OSI von 50 nie überschritten wurde, unterscheidet sich die Kurvenform nicht merklich von der englischen (die absolute Übersterblichkeit ist in Schweden geringer). Insbesondere wurde der Höhepunkt der Epidemiewelle überschritten, bevor Schweden unter dem Eindruck der Panik ringsum seine Maßnahmen noch einmal moderat verschärfte.

Ein weltweiter Vergleich

Wie ich in der Vorwoche diskutiert habe, sind die Übersterblichkeitsdaten die beste verfügbare Basis für solche Vergleiche, weil der zeitliche Verlauf der Gesamtzahl der Tests fast nirgends dokumentiert wurde, die Testzahl in Bezug auf die Einwohnerzahl stark zwischen Ländern variieren kann und auch die Teststrategien verschieden sein können. Mit etwas Vorsicht kann man aber auch die kumulativen Zahlen positiver Tests interpretieren, die für die meisten Länder der Welt auf dem Offenen Datenportal der EU verfügbar sind und die am Anfang der Krise fälschlich verwendet wurden, um einen exponentiellen Anstieg der Fallzahlen zu suggerieren. Das Problem am Anfang der Krise war, dass überall, wo erste Infektionen bemerkt wurden, die Zahl der täglichen Tests schnell ausgeweitet wurde, was stark zum anfänglichen Anstieg der Zahl positiver Tests beigetragen hat. Aber nichts steigt lange exponentiell an, schon gar nicht die Zahl von Menschen durchgeführter Tests. Vernachlässigt man also den Anfang der Kurven, so sind sie brauchbar, besonders, wenn man die Daten semilogarithmisch aufträgt. Man sieht dann sehr gut, dass es fast nirgends einen exponentiellen Anstieg gab, sobald die Zahl positiver Tests höher war als 10 je 100‘000 Personen in der Gesamtbevölkerung. Das entspricht in Deutschland etwa 8‘300 positiven Tests insgesamt. Für die unbedingt notwendige Normierung auf die Bevölkerungszahl habe ich jeweils die aktuellste Zahl von der englischsprachigen Wikipedia-Homepage für das Land verwendet.

In Europa kann ich nun Deutschland einbeziehen, für das es auch nach den aktualisierten Daten des Statistischen Bundesamts (bis 12.4.) keine Übersterblichkeit gegeben hat. Deutschland hat viel später als Italien – auch bezogen auf die relative Zahl positiver Tests – scharfe Maßnahmen ergriffen und auch dann noch weniger scharfe. Schon bis dahin verlief die Kurve flacher als in Italien. Dann verlief sie etwa parallel weiter, was zu einer geringeren Gesamtinzidenz führte, die aber, wie bereits gesagt, auch von Testzahlen und Teststrategien beeinflusst sein kann. Slowenien blieb noch länger im grünen Bereich und als es in den gelben überging, knickte die Kurve sofort ab, zu schnell, um das den Maßnahmen zuzuschreiben. Die Regierung ging dann sehr schnell weiter in den roten Bereich, daraufhin tat sich nun aber zu lange Zeit nichts mehr am Anstieg der Kurve. In Polen wiederum, das bisher weniger betroffen war, steigt die Kurve noch an, obwohl das Land bereits geraume Zeit im roten Bereich ist. Wie man es auch dreht und wendet, zwischen dem Kurvenverlauf und den Farben besteht kein Zusammenhang, außer vielleicht der, dass Regierungen Maßnahmen getroffen haben, sobald die Zahl positiver Tests in Bezug auf die Gesamtbevölkerung hoch genug war, um solche Maßnahmen einigermaßen begründen zu können.

In Nord- und Lateinamerika flachen die Kurven allgemein später und langsamer ab als in Europa. Seit dem Tag 100 laufen die Kurven von Mexiko und Brasilien nahezu parallel, wobei in Mexiko schärfere Maßnahmen in Kraft sind. Seit etwa Tag 110 trifft das gleiche für die USA und Kanada zu. Berücksichtigt man allerdings den späteren Beginn der Epidemiewellen in Amerika und betrachtet die bisher erreichten Anteile positiver Tests an der Gesamtbevölkerung, so ist der Kurvenverlauf in Amerika kaum anders als in Europa.

China zeigt als einziges Land einen „klassischen“ Epidemieverlauf mit einer längeren exponentiellen Phase am Anfang. Landesweit hat die Führung zu keinem Zeitpunkt so strikte Maßnahmen getroffen, wie das, bis auf Schweden, alle westlichen Länder getan haben. Auf lokale Probleme wurde lokal reagiert. Das Ergebnis überzeugt in jeder Hinsicht besser als diejenigen in Europa oder Amerika. Japan hat einen wesentlich langsameren Anstieg als westliche Länder, ohne dass es zu einem Lockdown kam. Zu beachten ist auch, dass die Zahl der Fälle je 100‘000 Einwohner zur Zeit immer noch etwa zehnmal geringer ist als in Deutschland. Thailand hat zwei Wellen erfahren, von denen die erste allerdings auf einer linearen Skala gar nicht sichtbar wäre. Die zweite flachte ab, bevor die bisher in Thailand strengsten Maßnahmen ergriffen wurden. Sehr strenge Maßnahmen hat unter den ausgewählten Ländern nur Indien ergriffen, ohne dass irgendein positiver Effekt sichtbar wäre.

Kommen wir nun zu Afrika, das einen Spruch bestätigt, der zur Zeit in der Lausitz umgeht und den ich von meinen Eltern gehört habe: „Corona ist für die Reichen das, was Ebola für die Armen war.“ Wir befinden uns auf einer halblogarithmischen Skala. Tansania und drei seiner vielen Nachbarländer sind praktisch nicht betroffen. Eine Antikorrelation zwischen relativer Betroffenheit und Schärfe der Maßnahmen gibt es nicht, noch lässt der Kurvenverlauf in Kenia den Schluss zu, dass die schärferen Maßnahmen dort einen Effekt hatten.

Tansania und seine Nachbarländer habe ich absichtlich ausgewählt. Dieses Land lehrt uns eine Lektion über die gesamte Corona-Krise.

Tansania, Burundi und die WHO

Die Vereinigte Republik von Tansania ist weltweit eines der fortgeschrittensten Länder, was die Verfolgung von Epidemien betrifft. Es gibt 200 Gesundheitszentren, die Proben für ein nationales Labor sammeln. In Bezug auf die Bevölkerungszahl ist das nicht deutlich weniger als die reichlich 400 Gesundheitsämter in Deutschland. Das nationale Labor hat damit die Übersicht über die regionale Verteilung der Infektionen und verfolgt so die Ausbreitung. Bereits am 24. Mai 2018 hat Tansania - soweit ich weiß als erstes Land weltweit - eine Handy-App eigens für die Sammlung von Epidemiedaten eingeführt. AfyaData wird von ausgebildeten Gesundheitsreportern in den jeweiligen Gemeinschaften benutzt.

Das Muster der positiven SARS-Cov2-Tests in Tansania war – sagen wir es so – etwas erratisch (auf Wunsch kann ich ein Diagramm des zeitlichen Verlaufs machen). Es passte wohl auch nicht zu den Informationen, die das nationale Labor sonst sammelte. Eine Weile hat man sich das angesehen, bis am 30. April 174 Tests positiv waren, nachdem es am 29. April nur 6 waren und an den drei Tagen davor gar keine. Die Verantwortlichen fanden das auffällig und die WHO-Vertretung in Tansania drängelte auch schon lange, dass es mehr „social distancing“ brauche. In dieser Situation bekamen die Verantwortlichen einen Termin beim Präsidenten John Magufuli. Der entschied sich, erst einmal die Tests zu testen, auf eine etwas drastische Art. Was er einsenden ließ, waren Proben von einer Papaya, von einer Ziege und von einer Wachtel. Nachdem die Testergebnisse aller drei Proben positiv waren, warf er die WHO-Vertretung aus dem Land.

Der WHO-Vertreter im Nachbarland Burundi (das ist die grüne Kurve ganz weit unten, kumulativ 1 positiver Test je 1 Million Einwohner, die Stufen in der Kurve sind jeweils ein oder zwei positive Tests, inzwischen gibt es 27 positive Tests im ganzen Land) hatte den Schuss wohl nicht gehört und drängelte weiter, dass Burundi doch „social distancing“ einführen müsse. "Social distancing" über eine Quarantäne infizierter Personen hinaus, hatten die von der WHO selbst bestellten Experten für eine solche Situation gerade nicht empfohlen. Burundi befindet sich kurz vor Wahlen am 20. Mai und wies ebenfalls den WHO-Vertreter aus.

Was immer als politisch korrekt gelten mag, ich halte diese beiden Ausweisungen nicht nur für angemessen, sondern sogar für geboten. Keines der beiden Länder kann es sich wirtschaftlich oder gesundheitspolitisch leisten, dass die WHO dort eine Massenpanik erzeugt.

Da wir nun schon einmal bei Ziegen und Wachteln sind: Ich finde es auffällig, dass von täglich etwa 400 bis knapp 1000 positiv ausfallenden SARS-Cov2-Tests in ganz Deutschland so viele auf Schlachthofmitarbeiter entfallen. Vielleicht sollte man mal sauber abklären, ob sie auch auf Corona-Viren ansprechen, die in Schlachttieren vorkommen, aber für Menschen harmlos sind.

Falsch positive Tests

Damit wären wir beim Thema falsch positiver Tests, auf das einzugehen ich in der Diskussion zum Blogpost der Vorwoche öffentlich versprochen hatte. Heute früh gab es einen kurzen Schreck, weil nach einem Pull der aktuellen Schweizer Covid-19-Daten der beste mir zur Verfügung stehende Datensatz - die Zahl der positiven und insgesamt vorgenommenen Tests für den Kanton Genf - plötzlich rückwirkend bis zum 1. April kompromittiert war. Ab dem 1. April waren nun nicht mehr die neu vorgenommenen Tests zur Gesamtzahl der Tests hinzuaddiert, sondern stattdessen die positiven Tests.

Wer sich jetzt eine hübsche Verschwörungstheorie basteln möchte, den muss ich leider enttäuschen. So doof können die Illuminaten gar nicht sein, dass sie auf GitHub Daten zu verändern versuchen. Anders gesagt: Wenn es „1984“ schon Versionskontrollsysteme gegeben hätte, dann hätte Winston Smith vermutlich versucht, Sisyphos zu einem Jobtausch zu überreden.

Nachdem ich den Punkt gefunden hatte, an dem die Daten kompromittiert worden waren, habe ich das gemacht, was ich in anderem Zusammenhang von einem meiner Doktoranden gelernt habe: ein Issue auf (ja, ich hätte den Identifier des Commits mit angeben sollen, `tschuldigung). Nach Frühstück und Einkaufen hatte ich auch schon eine Antwort, aus der ich etwas gelernt habe. Ich benutze eine kumulative Datei mit Einzelmeldungen, von der ich annahm, dass immer nur am Ende neue Daten angefügt werden und zwar für Genf durch Eintippen neuer Daten von dem referenzierten PDF. Offenbar ist das anders, denn ich erhielt die Antwort, dass Genf gestern das Datenformat rückwirkend bis zum 1. April verändert habe und man sei beim Übertragen um eine Spalte verrutscht. Mag dem sein, wie es will, nach meinem Mittagessen war das Issue geschlossen und das Problem bereinigt (gestern gab es im Kanton keinen positiven Test von 97 durchgeführten). Da war aber meine Abbildung schon fertig, die daher auf den Daten von gestern 16:28 Uhr beruht.

Zum SARS-Cov2-Test gibt es keine brauchbaren analytischen Daten, wie Vivienne C. Bachelet kürzlich in einem Übersichtsartikel festgestellt hat. Auch CORRECTIV war am 7. April in einem Faktencheck dieser Frage nachgegangen. Nachdem in der Vergangenheit nicht alle von CORRECTIV befragten Kampfpiloten tatsächlich welche waren, hatten sie diesmal eine offizielle Stelle kontaktiert, nämlich das Robert-Koch-Institut (RKI), das täglich die Zahl der in Deutschland positiv verlaufenen SARS-Cov2-Tests veröffentlicht. Die Antwort war bemerkenswert: „Leider können wir das nicht auf eine Zahl begrenzen, dazu haben wir nicht die nötigen Daten.“ Die Behörde verwies CORRECTIV an das zuständige Konsiliarlabor, dasjenige von Christian Drosten. Der ging auf die analytische Spezifizität nicht ein (Zahl der tatsächlich positiven Tests/Zahl der gefundenen positiven Tests · 100%). Der Test würde auf andere pathogene Viren beim Menschen nicht ansprechen, nur auf ein sehr altes, das schon seit 16 Jahren nicht mehr beim Menschen gefunden worden sei und auf einige bei Tieren, zum Beispiel Rindern.

Um bei einem kleinen Anteil positiver Tests abschätzen zu können, wie viele echt positiv sind, muss man aber die analytische Sensitivität und Spezifizität kennen. Da es keine belastbaren Daten dazu gibt, kann ich nur ein didaktisches Beispiel diskutieren, nicht tatsächlich Daten korrigieren. Dazu verwende ich Daten, die 2010 für einen RT-PCR-Test auf ein Influenza-H1N1-Virus veröffentlicht worden sind. Ich gebe gern zu, dass die Teststatistik in dieser Publikation lausig ist, aber gängige Abschätzungen im Internet liegen bei 95% Spezifizität und ich nehme 98,1% an. Auf die Frage, wie man an bessere Daten kommen könnte und wie viel schlechter als meine Annahme der Test sein könnte, gehe ich weiter unten ein.

Nimmt man 91,22% Sensitivität und 98,1% Spezifizität an, so findet man, dass auf dem Höhepunkt der Epidemie die Zahl falsch negativer Tests im Kanton Genf höher war, als diejenige falsch positiver. Die angegebene Zahl positiv verlaufener Tests (rote Kreise) war daher etwas kleiner als die Abschätzung der tatsächlichen Werte (schwarze und graue ausgefüllte Kreise). Bei den jetzigen Testzahlen, die bis vorgestern noch recht hoch waren, und den geringen Zahlen positiver Tests ist es allerdings genau umgekehrt. Die Zahl der infizierten Personen wird überschätzt - wie man in dem rechten Diagramm sieht, sogar erheblich. Quantitativ hängt dieser Befund von meiner Annahme zur Testspezifizität ab, qualitativ allerdings nicht. Die analytische Spezifizität müsste utopisch gut sein, damit die gegenwärtig berichteten kleinen Zahlen positiver Tests wirklich zuverlässig wären (und ja, das gilt auch in Afrika). Wenn meine Annahmen in etwa stimmen, gibt es im Kanton Genf entweder keine oder nur noch sehr vereinzelte Neuinfektionen. Das wären Verhältnisse wie in Burundi, nur, dass Genf sich unter gar keinen Umständen mit einer UN-Organisation anlegen könnte.

Wie ist es in Deutschland? Jeden Mittwoch veröffentlicht das RKI die Testzahlen bis einschließlich der Vorwoche. Ich hatte heute am Morgen einen zweiten kleinen Schreck. Die PDF-Datei des Mittwoch-Berichts, die ich dummerweise nicht abgespeichert hatte, schien plötzlich auf der Homepage des RKI beschädigt zu sein. Das passierte mir beim Herunterladen mehrfach, sie ließ sich aber einfach reparieren, nur das Layout hat gelitten. Manchmal klappt es aber auch mit dem Herunterladen und falls ein Leser das gleiche Problem wie ich haben sollte, und deshalb meine Datenbasis nicht nachvollziehen kann, kann sie oder er nun auf eine Kopie auf Dropbox zugreifen.

Ich nehme die 2,7% positiver Tests an, die für Kalenderwoche 19 vom RKI gemeldet wurden. Außerdem gehe ich von 913 positiv verlaufenen Tests aus, was der Wert vom 15. Mai (gestern) ist. Ich verwende die oben bereits angegebene analytische Sensitivität und Spezifizität. Mit einem Monte-Carlo-Algorithmus kann ich dann Wahrscheinlichkeiten für die Zahl tatsächlich positiver Tests berechnen. Der Mittelwert ist 304 (etwa ein Drittel der angegebenen) und die Verteilung ist im linken Diagramm der Abbildung gezeigt. Man kann nun auch umgekehrt rechnen: Angenommen die tatsächliche Zahl positiver Proben sei 304 und es wurden 33‘815 Tests gemacht (2,7% davon sind 913), mit welcher Wahrscheinlichkeit erwartet man dann wie viele positiv verlaufende Tests? Das ist im rechten Diagramm der Abbildung gezeigt. Die Daten streuen erheblich, auch wenn die Zahl der täglichen Neuinfektionen gleichbliebe. Deshalb kann man den auf der Basis solcher Daten berechneten R-Wert: Getrost vergessen.

Warum die Tests getestet werden müssen

Diese Berechnungen beruhen auf schwach begründeten Annahmen, weil der SARS-Cov2-Test, der weltweit millionenfach eingesetzt wird, auch zwei Monate nach dem Ausrufen der Pandemie am 12. März immer noch nicht ordentlich charakterisiert ist. Wir wissen, dass die Spezifizität nicht sehr viel schlechter sein kann als in meiner Annahme. Ich weiß es allerdings auch nur aufgrund der Genfer Daten. Läge die Spezifizität deutlich niedriger, so müsste es in den letzten Tagen mehr positiv verlaufene Tests gegeben haben, selbst wenn es gar keine positiven Proben mehr gab. Aber die Spezifizität könnte besser sein als ich annnehme oder auch etwas schlechter.

Was man bei so geringen Fallzahlen machen muss, sind „B-Proben“. Die positiv getesteten Personen kontaktiert man ohnehin noch einmal. Sie haben auch ein Interesse daran, abgeklärt zu bekommen, ob sie wirklich infiziert sind. Man entnimmt noch einmal eine Probe (das ist in diesem Fall wichtig) und testet diese. Der Test ist gut genug, dass zwei positiv verlaufene Proben mit hinreichender Sicherheit eine Infektion belegen. Widersprechen sich die beiden Tests, so sollte man einen dritten machen. Ich frage mich zum Beispiel, ob die positiv auf Covid-19 getesteten Fußballer eine B-Probe bekommen haben, die sie bei jedem der viel zuverlässigeren Dopingtests bekommen hätten.

Wichtig sind Kontrollen der positiv verlaufenen Tests gesellschaftlich deshalb, weil eine unnötige Verlängerung von Restriktionen Milliardenschäden und nicht zuletzt soziale Schäden verursacht. Man muss also wissen, wann die Epidemie abgeklungen ist und dass kann man nur, wenn man falsch positive Tests auch als falsch erkennt. Wenn die Zahl sehr klein ist, kann es sogar nötig sein, einen dritten Test zu machen. Möglich wäre das schon jetzt völlig problemlos, gerade weil die Zahl positiv verlaufener Tests so viel kleiner ist als die Zahl unternommener Tests und damit auch als die Zahl verfügbarer Testkits. Auffällig ist, dass das RKI mit der Abnahme des Anteils positiver Tests nicht die Testzahlen wieder verringert hat, wie es der Kanton Genf tat und weiter tut.

Ein weiterer Vorteil der „B-Proben“ wäre, dass man so von ganz allein Daten zur analytischen Spezifizität erhält. Bei momentan noch 400-1000 positiv verlaufenen Tests täglich hätte man schon nach einem Tag eine sehr gute Schätzung dieses Parameters.

Fehlt noch die analytische Sensitivität, die bei dem jetzigen geringen Anteil positiv verlaufener Tests nicht mehr viel ausmacht, aber für einige andere Länder schon noch von Interesse wäre, gerade im Gesundheitswesen und zur Quarantäne tatsächlich infizierter Personen. Auch das ist einfach. Man bietet einfach zufällig etwa 1000 Personen, deren Tests negativ verlaufen sind, für einen zweiten Test auf. Verläuft dieser positiv, macht man einen dritten. Nachdem man mehrere hundert Milliarden (weltweit einige Billiarden) in die Corona-Krise versenkt hat, sollte man vielleicht mal die paar Zehntausend ausgeben, die es kosten würde, das ordentlich zu machen. Deutschland ist momentan in einer sehr guten Situation dafür (in der Schweiz gibt es wohl schon zu wenig echt positive Proben, um die Sensitivität genau bestimmen zu können) und könnte sich hier auszeichnen.

Fazit

Die Epidemie ist im kontinentalen Westeuropa vorbei oder nahezu vorbei und das hat nichts mit den verfügten Lockdowns zu tun. Man sollte das nicht weg zu lügen versuchen, indem man mit Bogusargumenten das Wasser trübt und man sollte vor allem nicht Beschränkungen aufrechterhalten, nur damit keiner merkt, dass der Kaiser nackt war. Stattdessen ist es nötig, die gegenwärtige Situation und danach auch den Epidemieverlauf so genau wie möglich zu analysieren, damit man in Zukunft angemessen auf solche Ereignisse reagieren kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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