Übersterblichkeit in der 2. Covid-19-Welle

Covid-19 In Deutschland ist die Sterblichkeit ähnlich wie in den vier Vorjahren. Nicht überall ist sie so viel höher, wie die Covid-19-Daten nahelegen.

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In dieser Woche war in den deutschen Medien und vor allem sozialen Medien die Übersterblichkeit durch Covid-10 ein großes Thema. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Politik drastische Maßnahmen mit einer mutmaßlichen oder mutmaßlich drohenden starken Sterbewelle begründet. So wenig wie die Daten des Deutschen Intensivregisters ein erhebliche Zunahme der Zahl belegter Intensivbetten zeigen – sie zeigen nur eine künstliche Verknappung der gemeldeten freien Betten – so wenig zeigt die offizielle Sterbestatistik des Statistischen Bundesamts erhebliche Sterbewellen durch Covid-19 im Frühjahr oder Herbst.

Abbildung 1 zeigt alle Tagesdaten für 2016-2020. Die auffälligsten Ereignisse waren die Grippewellen 2017 und vor allem 2018. Das auffälligste Ereignis 2020 war – wenn auch nur kurz – die Hitzewelle Anfang August. Insgesamt bewegt sich 2020 im gleichen Bereich wie die beiden Vorjahre 2018 und 2019. Trotz der erheblichen Influenzawelle im Februar und März war die Gesamtsterblichkeit 2018 nur wenig höher als 2019. Das verwundert kaum. Hitzewellen und Infektionswellen erhöhen die Sterberate hauptsächlich bei Menschen, die bereits stark geschwächt sind. Wenn die Wellen nicht extrem stark sind, kompensiert sich das in der Statistik weitgehend in den Folgemonaten. Insgesamt kann festgehalten werden, dass in Deutschland 2020 knapp eine Million Menschen gestorben sein werden, wie man das am 1. Januar erwartet hätte, als man noch nichts davon wusste, dass eine Covid-19-Pandemie bevorstand. Die genaue Zahl wird vermutlich diejenigen von 2018 und 2019 leicht überschreiten und damit den Trend der letzten Jahrzehnte fortsetzen, der aus der Alterung der deutschen Bevölkerung resultiert.

Es gibt Länder – auch in Europa – in denen, anders als in Deutschland, der Effekt der Pandemie auf die Sterbezahlen signifikant ist, so wie 2018 Deutschland stärker als die meisten anderen europäischen Länder von der Grippewelle betroffen war. Der Gedanke liegt nahe, das anhand der Todesfälle zu diskutieren, die offiziell Covid-19 zugeordnet werden. Diese Daten sind viel eher verfügbar als offizielle Sterbestatistiken, anhand derer man Übersterblichkeiten berechnen kann. Andererseits ist jedoch bekannt, dass die Zuordnung von Todesfällen zu Covid-19 in mehrfacher Hinsicht methodisch falsch betrieben wird. Weder wird dafür festgestellt, dass Covid-19 ursächlich für den Todesfall war, noch auch nur, dass überhaupt eine schwere Covid-19-Erkrankung vorlag. Stattdessen erfolgt die Zuordnung nach dem Ergebnis eines PCR-Tests, der nicht sicher spezifisch ist und zudem noch sehr lange vor dem Sterbedatum positiv gewesen sein kann. Es stellt sich daher die Frage, ob Fehlzuordnungen die Daten erheblich beeinflussen.

Das kann man anhand eines Vergleichs mit Übersterblichkeitsdaten diskutieren, denn dort, wo eine signifikante Übersterblichkeit Covid-19 zugeordnet werden kann, müssen bei korrekter Zuordnung der einzelnen Fälle die Kurvenverläufe der Covid-19 zugeordneten Sterbefälle und der Übersterblichkeit übereinstimmen. Dabei kann es zu einer zeitlichen Verzögerung (Meldeverzögerung) kommen, die allerdings kaum sichtbar sein sollte, wenn die Daten nur wöchentlich ausgewertet werden, wie es bei Übersterblichkeitsdaten auf EUROMOMO der Fall ist. Insbesondere müssen die relativen Amplituden der beiden Covid-19-Wellen zwischen beiden Datensätzen übereinstimmen.

Wie Abbildung 2 zeigt, fällt in mehreren Ländern die Amplitude der Covid-19 zugeordneten Sterbefälle (rote Kurven) in der zweiten Welle höher aus als diejenige der Übersterblichkeit (blaue Kurven), wenn man beide Kurven in der ersten Welle in Übereinstimmung bringt. Zu beachten ist dabei, dass man nicht auf den gelb unterlegten Bereich der Kurven schauen sollte, der sich bei künftigen Korrekturen der Daten noch ändern kann. Änderungen des ersten Punkts im gelben Bereich sind allerdings bei den meisten Ländern nur sehr gering. Vor allem aber sind für einige Länder, vor allem die Niederlande, Spanien und extrem England die Abweichungen der Covid-19 zugeordneten Sterbefälle schon in Wochen signifikant, deren Übersterblichkeitszahlen bereits stabil sind. Bei England muss man beachten, dass die Covid-19-Daten für das gesamte Vereinigte Königreich gelten. England hat aber sowohl die erste als auch die zweite Welle stark dominiert, so dass die Schlussfolgerung davon unabhängig ist.

Es lohnt sich, die Daten noch etwas näher zu diskutieren. Der Fall Belgiens entspricht völlig der Erwartung. Die beiden Kurven überlagern sich in beiden Wellen fast perfekt. Das ist keine hinreichende Bedingung, um festzustellen, dass die Zuordnung in Belgien im Rahmen der statistischen Ungenauigkeit korrekt ist. Sie könnte auch durchweg um einen konstanten Faktor zu hoch oder zu niedrig gewesen sein. Dass die Kurven, von denen die Übersterblichkeitskurve die per se zuverlässigere ist, relativ gut übereinstimmen ist aber eine notwendige Bedingung dafür, dass die Zuordnung der Sterbefälle zu Covid-19 korrekt sein kann.

In dieser Hinsicht sind die Daten der Schweiz und Frankreichs gerade noch unverdächtig, weil es möglich ist, dass die Kurven durch Nachmeldungen auf EUROMOMO noch in hinreichende Übereinstimmung kommen. Das wird sich bequem verfolgen lassen. Im Fall Schwedens mit einer relativ kleinen Bevölkerung ist der eine zu hohe Punkt in den Covid-19 zugeordneten Sterbefällen in Woche 45 wohl noch im Bereich der statistischen Unsicherheit. Bei Frankreich wie auch in den Niederlanden, in Spanien in der Schweiz und in etwas geringerem Maße in England fällt aber schon in der ersten Welle auf, dass die Kurve der Covid-19 zugeordneten Sterbefälle sehr viel langsamer abfällt als diejenige der Übersterblichkeit. Es ist – gerade wegen der hektischen Meldeaktivität bei Covid-19 – nicht wahrscheinlich, dass es sich um Meldeverzögerungen bei den Covid-19-Daten handelt. Wahrscheinlicher sind Fehlzuordnungen ganz normaler Sterbefälle zu Covid-19. In Italien scheint es in der zweiten Welle bei den Covid-19 zugeordneten Sterbefällen eine Meldeverzögerung zu geben, die es in der ersten Welle nicht gab.

Zum Schluss ist noch zu bemerken, dass die Daten nicht benutzt werden sollten, um zu vergleichen, wie stark verschiedene Länder betroffen sind. Der von EUROMOMO verwendete z-Score zeigt zwar sehr gut an, was statistisch signifikant ist, fällt aber bei gleicher Zahl von Sterbefällen je 100‘000 Einwohner für Länder mit kleinerer Bevölkerung kleiner aus. Solche Vergleiche waren allerdings auch nicht das Ziel dieses Blogbeitrags. Was man in den Daten sehr wohl sehen kann, ist Folgendes: Es gibt kein stabiles Muster der relativen Höhe der ersten und zweiten Covid-19-Welle. Alle Relationen treten auf: Eine relativ hohe zweite Welle praktisch ohne erste Welle (Österreich), eine etwas höhere zweite Welle bei signifikanter erster Welle (Schweiz) und niedrigere zweite Wellen (die meisten Länder). Es gibt auch das völlige Ausbleiben der zweiten Welle und das völlige Ausbleiben beider Wellen im Sinne einer fehlenden Übersterblichkeit. Daten solcher Länder sind in Abbildung 2 nicht gezeigt. Die beiden deutschen Bundesländer Berlin und Hessen zeigen dieses Muster völlig ausgebliebener erster und zweiter Wellen.

Nachtrag (14.12.2020, 21:00 Uhr)

Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass Abbildung 1 eine höhere Covid-19-bedingte Übersterblichkeit in Deutschland nahelegt, als es sie tatsächlich gegeben hat. Zu sehen ist das in Abbildung 3. Dort sind die Sterblichkeitsdaten 2020 (blassrote Punkte) zusammen mit der Basislinie 2019 (Anpassung eines Polynoms 4. Grades an die Zeiträume außerhalb von Wellen, rote Linie) dargestellt. Die offiziell Covid-19 zugerechneten Sterbefälle habe ich zu dieser Basislinie addiert und als dunkelgraue Punkte dargestellt. Zu sehen ist, dass ein erheblicher Anteil der „Frühjahrswelle“ nicht durch Covid-19 bedingt war.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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