Der Fall von Mariupol und was daraus folgt

Ukraine In den kommenden Tagen wird sich die militärische Lage in der Ostukraine wohl grundlegend ändern.

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Gegenwärtig dominiert die Versenkung des Raketenkreuzers Moskwa die Nachrichten über den Ukrainekrieg. Zweifellos ist der Untergang des Flaggschiffs der Schwarzmeerflotte ein herber Verlust für die russische Kriegsmarine und gleichzeitig ein prestigeträchtiger Erfolg des ukrainischen Militärs. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Ereignis kaum eine Bedeutung für den weiteren Kriegsverlauf haben wird. Die für den weiteren Verlauf des Kriegs wesentlichen Ereignisse waren die Einnahme des Handelshafens von Mariupol durch die russische Seite, die von den Separatisten am 11. April vermeldet wurde und Einnahme des Stahlwerks namens Iljitsch, die vom russischen Verteidigungsministerium am 15. April vermeldet wurde. Die ukrainische Seite hat beide Ereignisse nicht offiziell bestätigt, es gibt aber starke Hinweise darauf, dass die Meldungen zutreffen. Zum gleichen Zeitpunkt, an dem die Separatisten die Einnahmen des Hafens meldeten, berichtete UNIAN von der Beschlagnahme eines Handelsschiffes im Hafen von Mariupol durch die russische Seite. Inzwischen ist das Bild eines russischen T72B3-Panzers im Hafen von Mariupol im Umlauf. Der morgendliche ukrainishe Situationsbericht von heute (16. April) erwähnt Mariupol mit keinem Wort. Stattdessen sind Artikel im Umlauf, die betonen, wie stark Mariupol zerstört sei und dass der von Russland installierte Bürgermeister die Männer zum Beräumen der Trümmer zwingen würde und ihnen dafür Lebensmittel verspräche. Besonders erhellend ist ein Artikel, der den russischen Sturm auf den Hafen und auf „Asowstahl“ ankündigt und in dem etwas defensiven Satz gipfelt „Alles deutet darauf hin, dass es unmöglich ist, die Stadt ohne ein Höchstmaß an Unmenschlichkeit und den Einsatz von Massenvernichtungswaffen einzunehmen“. So bereitet man eine sehr schlechte Nachricht vor, die man demnächst nicht mehr wird unterdrücken können. Da der Hafen und das Stahlwerk die Hauptpunkte des noch verbliebenen ukrainischen Widerstands waren, ist Mariupol zu diesem Zeitpunkt entweder bereits gefallen oder wird sehr bald fallen. Hier diskutiere ich, was daraus folgt. Der Fall Mariupols leitet die zweite Phase des Krieges ein.

Gefecht der verbundenen Waffen

Westliche Militärbeobachter sind sich einig, dass die Operationen der russischen Truppen in der ersten Kriegsphase nicht den Erwartungen an die russische Kriegsdoktrin entsprachen, insbesondere, was das Zusammenwirken der Kräfte betraf. Was in dieser Phase auch ausblieb, war eine Feuerwalze als Angriffsvorbereitung. Die Angriffsoperationen an den verschiedenen Fronten (Norden, Osten, Süden) schienen fast unabhängig voneinander zu laufen und die Frontabschnitte standen nicht unter dem Kommando eines namentlich bekannten Kommandeurs. Über diese Befunde wurde viel gerätselt. Einige Beobachter verstiegen sich zu der Annahme, die russischen Kräfte seien nicht in der Lage koordinierter zu handeln, was angesichts der Operationen in Syrien unwahrscheinlich ist. Wahrscheinlicher ist, dass die erste Phase als „Spezialoperation“ deklariert wurde, weil sich ein Krieg gegen die Ukraine im Rahmen der üblichen Doktrin der eigenen Bevölkerung schwer hätte verkaufen lassen. Um eine Stimmung zu erzeugen, die einen solchen Krieg ermöglicht, musste es zunächst Verluste auf russischer Seite geben. Wer das für zynisch hält, hat menschlich gesehen durchaus Recht, versteht aber womöglich nicht, wie Militärführungen in einem Krieg grundsätzlich handeln, weil sie bei Strafe des eigenen Untergangs nicht anders handeln können. Die letzte Entscheidung, bei der noch Rücksichten gelten, ist diejenige, ob man einen Krieg beginnt. Sie wird übrigens von beiden Seiten gefällt, dem üblicherweise stärkeren Angreifer und dem üblicherweise schwächeren Verteidiger. Der Verteidiger fällt die Entscheidung, lieber einen Krieg zu riskieren, als sich kampflos den Forderungen des potentiellen Angreifers zu beugen. Dem Verteidiger ist in der Regel auch klar, dass das Risiko bei nahezu 100% liegt.

Was nun das Gefecht der verbundenen Kräfte angeht, also die enge Koordination der Teilstreitkräfte und der Waffengattungen innerhalb der Teilstreitkräfte, so ist genau damit in der zweiten Phase des Krieges zu rechnen, die in diesen Tagen beginnt. Die russische Seite hat Anfang dieser Woche mit Alexander Dwornikow den bisherigen Kommandierenden des erfolgreichsten, südlichen Frontabschnitts zum Oberkommandierenden aller Streitkräfte in der Ukraine ernannt. Dwornikow hat in der Anfangsphase der russischen Operationen in Syrien dort unter schwierigeren Bedingungen die Koordination syrischer Bodentruppen mit russischen Luftstreitkräften organisiert. Gestern vermeldete die ukrainische Seite, dass Russland in Mariupol TU-22M Langstreckenbomber eingesetzt habe. Aus taktischer Sicht ergibt das keinen Sinn. Sieht man es aber als Demonstration – wir zeigen Euch die Instrumente – und als Test des Zusammenwirkens von strategischen Luftstreitkräften und Bodentruppen auf engem Raum, dann ergibt es sehr viel Sinn.

Die von allen erwartete, möglicherweise bereits angelaufene, Großoffensive Russlands im Donbass wird als Gefecht der verbundenen Kräfte geführt werden. Die dort liegenden ukrainischen Truppen werden dem vermutlich nicht lange standhalten können. Die ukrainische Seite scheint eine großräumige Operation zu erwarten oder bereits wahrzunehmen. Der Bürgermeister von Losowa hat die Bevölkerung aufgerufen, die Stadt zu evakuieren. Als Begründung gibt er eine hohe Wahrscheinlichkeit von Raketen- und Luftangriffen an. Diese Begründung wirkt vorgeschoben. Es ist unmöglich, alle ukrainischen Städte zu evakuieren, in denen diese Gefahr groß ist. Anzunehmen ist vielmehr, dass Angriffe von Bodentruppen oder sogar ein Abschneiden der Verbindung der Stadt zur Zentralukraine befürchtet werden. Losowa befindet sich etwa 100 Kilometer westlich von Kramatorsk und etwa 50 Kilometer von der derzeit auf liveuamap.com eingezeichneten russischen Frontlinie, die möglicherweise, wie wiederholt in Mariupol geschehen, zu optimistisch angezeigt wird. Falls russische Truppen von Nordosten und gleichzeitig von Südosten auf Losowa vorstoßen sollten, besteht die Gefahr, dass die kampfstärksten Kräfte der Ukraine im Donbass weiträumig eingekesselt werden. Aufgrund der drückenden Luftüberlegenheit Russlands wäre einen Entsatz oder an ein Ausbrechen kaum zu denken.

Der Krieg um den Treibstoff

Derweil gehen die russischen Angriffe gegen Öl- und Treibstofflager, von der ukrainischen Seite gern als Infrastruktureinrichtungen bezeichnet, unvermindert weiter. Das dürfte einer der Hintergründe der wiederholten Aufrufe an die Bevölkerung sein, nicht in die Städte wie Kiew zurückzukehren, die jetzt weitab der Frontlinien liegen. Die Versorgung dieser Städte ist problematisch, vermutlich ist die Treibstoff-Logistik in der Ukraine inzwischen hochproblematisch. Diese russische Strategie wird einerseits die ukrainische Wirtschaftskraft weiter verringern und damit die Kosten des Kriegs für den Westen weiter erhöhen. Des Weiteren muss ein erheblicher Teil des von der Ukraine benötigten Treibstoffs demnächst aus westlichen Nachbarländern zugeführt werden. Dieser Treibstoff wird aus russischem Erdöl hergestellt, zum Teil von Unternehmen, die sich in russischer Hand befinden.

Für den Westen noch gefährlicher dürfte allerdings sein, dass Putin bei Notwendigkeit die Erdgaslieferungen stoppen kann. Ein möglicher Zeitpunkt dafür läge Anfang Mai, wenn EU-Länder die Zahlungen für die im April gelieferten Mengen nicht in Rubel leisten. Russland hatte einen Monat Zeit, eine Abschaltung technisch vorzubereiten. Ob das geschieht, wird vom weiteren Kriegsverlauf abhängen, möglicherweise auch davon, wie Putin die Situation bezüglich der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am 10. Mai einschätzt oder welchen Schluss er aus dem Ergebnis dieser Wahlen zieht. Sicher ist, dass ein Stopp der Erdgaslieferungen Deutschland und in der Folge die EU in eine schwere Wirtschaftskrise stürzen würde. Russland müsste in diesem Szenario ebenfalls erhebliche Opfer bringen, jedoch nicht ganz so große wie der Westen.

Wer regiert die USA?

In einer solchen Situation wäre eine Koordination, ein politisches Vorgehen mit verbundenen Kräften auf westlicher Seite essentiell. Bereits vor dem Krieg lagen Interessengegensätze im Westen deutlich zutage. Der Krieg hat sie verschärft, schon wegen der unterschiedlichen Abhängigkeit westlicher Staaten von russischen Energieträgern. In dieser Situation wäre eine Führungspersönlichkeit auf Seiten der unbestrittenen Hauptmacht des westlichen Bündnisses wichtig. John Biden ist diese Führungspersönlichkeit nicht. Selbst die Pressesprecherin des Weißen Hauses lässt sich mit dem Satz ertappen: „Wir schicken den Präsidenten nicht in die Ukraine“. Nachdem andere führende Politiker gerade des Außenministeriums mehrfach Aussagen Bidens dementiert hatten, nährt das weitere Zweifel, ob Biden eigentlich der Herr im Hause ist. Wenn stattdessen ein Beraterteam die Fäden zieht, mag das so lange einigermaßen laufen, wie dieses Beraterteam einig ist. Sobald es in diesem Team zu Meinungsverschiedenheiten kommt, wird es im Desaster enden, dass der Mann in der eigentlichen Machtposition nicht durchsetzungsfähig und auch nicht einschätzungsfähig ist.

Während der letzten Arbeiten an der Niederschrift dieses Blogbeitrags hat ntv berichtet, dass die russische Seite nun die Einnahme von Mariupol gemeldet hat. Die ukrainische Seite hat das indirekt bestätigt, indem sie vermeldete, dass das Vorgehen Russlands in Mariupol das Ende der Verhandlungen bedeuten könne.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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