Nationenbildung und Nationalismus

Ukraine Ohne Kenntnis der Geschichte bleibt die Gegenwart unverständlich und die Zukunft trifft uns unvorbereitet.

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Am Anfang von Michail Bulgakows Hauptwerk “Der Meister und Margarita” steht der junge Dichter Iwan Hauslos, der sich in einer neuen Zeit, den 1920er Jahren in der jungen Sowjetunion, aus allen historischen Verstrickungen gelöst hat, wenn auch nur aus Naivität. Wer nirgends herkommt, wird nirgends hinfinden. Das Studium der Geschichte ist lang und sie ist voller Widersprüche, also nichts für Menschen, die nach einfachen Antworten suchen. Der kürzestmögliche Abriss der Vorgeschichte des Ukrainekriegs geht bis ins 17. Jahrhundert zurück und wird Seiten füllen. Ich habe es nicht billiger, weil es nicht billiger zu haben ist.

Weil der Text ohnehin lang wird, kann ich ihn geradesogut mit drei Anekdoten aus meinem eigenen Leben beginnen. Die erste davon spielt im Februar 1990 in Minsk. Im Herbst 1989 hatte ich bei einem kleinen wissenschaftlichen Wettbewerb für Studenten den Hauptpreis gewonnen, eine “Freundschaftszugreise” in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, genauer nach Kiew, Moskau und Minsk. Die Union war gerade im Zerfall begriffen, in Minsk wehten weiß-rot-weiße Flaggen. Der Stadtführer hatte uns stolz ein mit Hilfe polnischer Restauratoren wiedererstandenes Altstadtviertel gezeigt. Ich hatte Hunger, Durst und Rubel in der Tasche. Das Angebot im Supermarkt war etwas eintönig, aber ausreichend. Nur fand die Frau an der Kasse, dass sie mir keine Milch verkaufen könne. Ich sprach damals fließend russisch, wenn auch mit Akzent. Trotzdem verstand ich nicht, was sie mir sagen wollte. Die Frau in der Schlange hinter mir verstand es schon: “Das ist kein Russe, sondern ein Deutscher. Verkaufen Sie ihm doch die Milch.” Und ich bekam meine Milch.

Die zweite Anekdote führt noch etwas weiter zurück. Ich mag vielleicht 15 oder 16 Jahre alt gewesen sein, als ich Maxim Gorkis Erzählung “Konowalow” las, die bereits 1930 ins Deutsche übertragen worden war. Der Hauptheld lebt bei der zweiten Begegnung mit dem Ich-Erzähler in Feodossia auf der Krim in einer Art Höhle zusammen mit einem Kleinrussen. Was bitte, ist ein Kleinrusse? Das Internet gab es damals noch nicht. Ich brauchte damals Tage, um es herauszufinden. Kleinrussland war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine völlig neutrale Bezeichnung für die Ukraine. Es gab eben Russen, Weißrussen und Kleinrussen, nicht gerade Angehörige einer einheitlichen Nation, aber keineswegs Angehörige verschiedener Nationen.

Die dritte Anekdote führt uns ins Jahr 2013. Ich war auf einer Konferenz in Kasan gewesen, Hauptstadt der Republik Tatarstan innerhalb der Russischen Föderation. Auf dem Rückflug hatte ich mehrere Stunden Zeit, vom Moskauer Flughafen Wnukowo im Norden zum Flughafen Scheremetjewo im Süden zu wechseln. Ich reise mit Rucksack und entschloss mich zu einer Wanderung quer durch den Moskauer Stadtkern. Staryi Arbat, Kremlmauer, Roter Platz, aber nicht Café Puschkin, obwohl ich wieder Hunger, Durst und Rubel in der Tasche hatte. Stattdessen fiel mir ein Restaurant der Kette Korchma Taras Bulba ins Auge. Ich aß wundervollen Borschtsch mit Knoblauchbrot und erst zu Hause in Zürich klärte mich ein Mitarbeiter auf, dass das natürlich ukrainischer Borschtsch gewesen sei und der sei überhaupt ganz anders als russischer und klar der allerbeste. Sie werden die Nationalität des Mitarbeiters erraten. Verheiratet ist er mit einer Russin und Ende Februar 2014 waren dann beide Elternpaare gleichzeitig zu Besuch in Zürich. Soweit ich weiß, hat es seitdem keine solchen gleichzeitigen Besuche mehr gegeben.

Die Vorgeschichte der Ukraine

Taras Bulba gehört in die ukrainische Vorgeschichte. Diese Erzählung von Nikolai Gogol, einem, nun ja, Kleinrussen, der es in Moskau zu Weltruhm brachte, bringt uns in die Zeit des Chmelnyzkyj-Aufstands der Saporoger Kosaken gegen die polnisch-litauische Adelsrepublik. Ein Sohn Taras Bulbas verliebt sich in ein polnisches Mädchen und läuft über, Taras erschießt seinen Sohn. Später gerät Taras Bulba in polnische Gefangenschaft und wird lebendig verbrannt. Dieser Aufstand führte zum ersten Staatsgebilde, das im Ausland als Ukraine bezeichnet wurde, sich selbst aber “Heer der Saporoger Kosaken” nannte. Die ukrainischen Nationalfarben tauche im Banner des Hetmanats erstmals auf. Um Autonomie zu erlangen, suchten die Kosaken zunächst ein Bündnis mit dem russischen Zaren gegen Polen. Dieser wollte aber keinen Krieg führen. Sie fanden dann mit den Krimtartaren andere Bündnispartner und drängten die Polen zurück. Im Jahr 1651 verloren sie jedoch eine große Schlacht und es kam zu einem ausgleichenden Friedensschluss in Bila Tserkva, mit dem keine der beiden Seiten zufrieden war. Es waren nur beide erschöpft. Das polnische Parlament, der Sejm, ratifizierte den Vertrag nicht. Darauf griffen die Kosaken erneut an und entschieden 1652 erneut mit tatarischer Hilfe die Schlacht von Batikh für sich. Sie kauften den Tartaren die polnischen Gefangenen ab, die diese gemacht hatten und brachten sie ausnahmslos um. Es geschieht nichts Neues unter der Sonne, wie bereits der Prediger Salomo im Alten Testament bemerkte.

Der Krimkhan verriet hernach die Kosaken, auf dass diese nicht zu stark würden. Auch das war schon damals nichts Neues, die Kurden hätten also gewarnt sein können, als sie vor ein paar Jahren in Nordsyrien auf ein Bündnis mit den USA vertrauten. Die Kosaken suchten daraufhin wieder in Moskau um Hilfe nach. Sie schworen einen Treueeid auf den Zaren, woraufhin dieser dem geschwächten Polen den Krieg erklärte. Der Krieg verlief wirr, ein Teil der Kosaken wechselte auf die polnische Seite, mit der sich inzwischen auch die Krimtartaren verbündet hatten. Am Ende standen 1686 ein Remis und der Abschluss eines “Ewigen Friedens” – auch das Ende der Geschichte ist also nichts Neues. Die Ukraine entstand erstmals als Staat und sogleich als geteilter Staat. Die linksufrige Ukraine, östlich des Dnjepr aber einschließlich Kiews, wurde ein autonomer Teil des Zarenreiches. Die rechtsufrige Ukraine, westlich des Dnjepr, wurde ein autonomer Teil des polnisch-litauischen Staats. Keiner der Teile hatte Seezugang. Die Krim und die gesamte heutige Südukraine blieben unter der Herrschaft des Khans, also im Osmanischen Reich. Das ändert sich durch eine Reihe russisch-türkischer Kriege, infolge derer das Krim-Khanat zunächst unter russischen Einfluss geriet und 1782 von Fürst Potemkin erobert wurde.

Auf Ratschlag von Potemkin annektierte Sophie von Anhalt-Zerbst, besser bekannt als russische Zarin Katharina die Große, im April 1783 die Krim. Das Osmanische Reich akzeptierte das zunächst nicht, verlor aber zehn Jahre später auch den Russisch-Österreichischen Türkenkrieg und musste die Annexion der Krim dann anerkennen. Potemkin ging sehr rauh mit den Kosaken um, die er nach den Erfolgen nicht mehr als Grenztruppen brauchte. Er gründete die Städte der Südukraine, Cherson, Jekaterinburg (heute Dnipr), Mikolaiv und auf der Krim Simpferopol. Das von den Türken eroberte Odessa hat er umgestaltet. In Deutschland ist Potemkin hingegen vor allem als Erfinder des Fassadendorfs mit zum Glücklichsein vergatterten Schaubewohnern bekannt. Diese Geschichte steht allerdings im Ruch, selbst eine groteske Übertreibung der Geschehnisse beim Besuch von Katharina der Großen im neuen Süden Russlands zu sein.

Die Entstehung der Ukraine

Sieht man von nationalistischen Legenden ab, ist die Ukraine in annähernd ihrer heutigen Ausdehnung erst in Folge des 1. Weltkriegs entstanden. Im Zarenreich kam es 1917 zu zwei Revolutionen, von denen die zweite freundliche Unterstützung von deutscher Seite erfahren hatte. Der Oberkommandierende der russischen Truppen weigerte sich trotz Verlangen der Regierung, in Waffenstillstandsverhandlungen mit den Mittelmächten einzutreten. Daraufhin wandte sich Lenin direkt an die Offizieren der Truppen und rat denen, regionale Waffenstillstände auszuhandeln. Damit offenbarte er eine Schwäche der russischen Seite. Die Bolschewisten, zu dieser Zeit Strategen von der Qualität der heutigen ukrainischen Regierung, fanden die daraus resultierenden Forderungen der Mittelmächte unverschämt und brachen die Friedensverhandlungen am 10. Februar 1918 einfach ab. Bereits am 9. Februar hatte die ukrainische Rada einen Separatfrieden abgeschlossen und war damit aus dem russischen Staatsverband ausgetreten. In der darauffolgenden Großoffensive “Faustschlag” besetzten die Mittelmächte innerhalb weniger Wochen Estland, Lettland, Teile der Belarus und die gesamte heutige Ukraine. Dann diktierten sie einen Raubfrieden. Die glänzenden Strategen unter den Bolschewiki wollten auch diese noch größere Unverschämtheit ablehnen, aber Wladimir Iljitsch Uljanow teilte mit, dass er dann eben zurückträte. So nahm Russland den Frieden von Brest-Litowsk an und verlor die Ukraine.

Die deutsche Seite setzte am 28. April 1918 mit Waffengewalt die von der ukrainischen Rada unterstützte Regierung ab und installierte eine Marionettenregierung, die die Besatzungskosten zahlte. Unter Bruch des Friedensvertrags besetzte Deutschland am 1. Mai auch die Krim. Die russische Schwarzmeerflotte zog sich zunächst nach Noworossisk zurück und versenkte sich Mitte Juni in auswegloser Lage selbst. Nach der Revolution in Deutschland und dem Waffenstillstand mit den Westmächten wurde die Lage der deutschen Truppen in der Ukraine und auf der Krim unhaltbar. Am 14. Dezember wurde eine nationale ukrainische Regierung eingesetzt. Sie hielt sich bis Januar 1919, als die Rote Armee Kiew wieder besetzte.In den zuvor zu Österreich-Ungarn gehörenden Gebieten bildete sich, ebenfalls im Dezember 1918, eine Westukrainische Volksrepublik. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns verlor sie 1921 einen Krieg um ihr Gebiet mit Polen. Nur ein Teil Wolhyniens blieb bei der nun entstehenden Sowjetukraine. Diese war 1922 Gründungsmitglied der Sowjetunion.

Stepan Bandera, Andrij Melnyk, Roman Schuchewytsch

Der ukrainische Nationalismus, der bis zum Ende des 1. Weltkriegs nur schwach entwickelt war, hat seinen Ausgangspunkt in den Teilen der Westukraine, die 1921 unter polnische Kontrolle gekommen waren. Dort bildete sich die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die von Stepan Bandera und Andrij Melnyk geleitet wurde und Anschläge auf polnische Politiker verübte, denen unter Anderen 1934 Innenminister Pieracki zum Opfer fiel. Ob zwischen dem OUN-Führer Melnyk und dem heutigen ukrainischen Botschafter in Deutschland ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, habe ich nicht herausfinden können.Beide stammen aus dem Raum Lwiw bzw. Lwiw selbst. Der letztere ist 85 Jahre jünger. Bandera und Melnyk verstritten sich, was zu Spaltung der OUN in die OUN-B und die OUN-M führte. Die Vereinigung der beiden Terroristen in einer Organisation gelang der deutschen Abwehr unter Admiral Canaris, die sie als Konsul I (Melnyk) und Konsul II (Bandera) anwarb.

Das Ziel Stepan Banderas nach dem Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion war die Gründung eines mit Hitler verbündeten ukrainischen Nationalstaats. Am 30. Juni proklamierte sein Stellvertreter in Lwiw eine unabhängige Westukraine. Anfang Juli verhafteten die Milizen der OUN-B in Lwiw 3000 Juden, die am 5. Juli durch die Einsatzgruppe C der deutschen Sicherheitspolizei ermordet wurden. Bereits später im Juli 1941 sah Nazideutschland in der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung eine Gefahr für ihre Pläne und deportierte Bandera ins KZ Sachsenhausen, wo er, wie der ehemalige österreichische Kanzler Schuschnigg als Ehrenhäftling eine möblierte Zelle mit getrenntem Schlaf- und Wohnbereich bekam. Melnyk wurde zunächst unter Hausarrest gestellt und erst 1944 nach Sachsenhausen deportiert, von dort aber bald nach Hirschegg im Kleinwalsertal (heute Österreich, deutsches Zollanschlussgebiet) verbracht, wo er bis zum Kriegsende im Hotel Ifen interniert blieb. Stepan Bandera wurde hingegen am 25. September 1944 aus der Haft entlassen, in der Hoffnung, dass er in der Ukraine Widerstand gegen die Sowjearmee organisieren würde. Dazu kam es nicht mehr.

Roman Schuchewytsch dagegen, der ebenfalls der OUN angehörte, kämpfte als Kommandeur im Bataillon Nachtigall der Legion Ukrainischer Nationalisten auf Seiten der deutschen Wehrmacht. Nachdem es zu Kämpfen zwischen nationalukrainischen und deutschen Einheiten gekommen war, wurde Schuchewytsch von der Gestapo verhaftet, konnte aber wieder fliehen. Er war ein hoher Kommandeur der Ukrainischen Aufständischen Armee, deren Führung er 1944 übernahm. Diese kämpfte auch gegen die Polnische Heimatarmee. Im Jahr 1943 massakrierte die Ukrainische Aufständische Armee unter Verantwortung der OUN-B in Wolhynien und Galizien einige zehntausend Polen, zumeist Frauen und Kinder und trieb etwa eine halbe Million zur Flucht.

Nach dem 2. Weltkrieg blieb Bandera in Deutschland. Der Bundesnachrichtendienst, Nachfolger der Organisation Gehlen, die ihrerseits Nachfolger der Abteilung Fremde Heere Ost beim Generalstab des Heers der Deutschen Wehrmacht war, warb Bandera an. Im Auftrag des sowjetischen Geheimdiensts KGB wurde er 1959 in München mit eine Blausäurepistole ermordet.

Melnyk lebte nach dem 2. Weltkrieg in Luxemburg, von wo aus er versuchte, einen ukrainischen Exilwiderstand zu organisieren. Er starb 1964 in einem Krankenhaus in Köln im Alter von 74 Jahren. Schuchewytsch hingegen ging in der Sowjetukraine in den Untergrund und organisierte Guerillaaktionen gegen die, in seinen Augen, sowjetische Besatzungsarmee und auch Terroranschläge gegen Beamte und ukrainische “Kollaborateure”. Dem sowjetischen Geheimdienst gelang schließlich die Infiltration der Organisation. Nach dem Verrat seines Aufenthaltsorts wurde er am 5. März 1950 bei einem Gefecht in der Nähe von Lwiw im Alter von 42 Jahren getötet. In der Ostukraine gibt es Denkmäler für Opfer der Ukrainischen Aufständischen Armee. In der Westukraine gibt es Denkmäler für die Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee. Die Flagge dieser Armee bestand aus einem roten Streifen oben und einem schwarzen Streifen unten.

Am 22. Januar 2010 verlieh der damalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko, Held der Orangenen Revolution von 2004, Stepan Bandera den Titel “Held der Ukraine”. Dagegen protestierten neben der russischen Regierung die polnische Regierung und das Simon-Wiesenthal-Zentrum. Das Europäische Parlament drückte die Hoffnung aus, Juschtschenko möge den Erlass wieder zurücknehmen. Im Juli 2016 benannte der Kiewer Stadtrat den Moskauer Prospekt in Stepan-Bandera-Prospekt um.

Bereits 2007 hatte Juschtschenko Roman Schuchewytsch zum “Held der Ukraine” ernannt. Auch dagegen protestierte die polnische Regierung. Die Ernennung wurde 2011 von Viktor Janukowitsch rückgängig gemacht. Am 1. Juni 2017 benannte der Kiewer Stadtrat den Watutin-Prospekt in Schuchewytsch-Prospekt um. Watutin war ein General der Roten Armee, der 1944 durch einen Überfall der Ukrainischen Aufständischen Armee ums Leben kam.

Maidan und Anti-Maidan

Wiktor Janukowytsch hatte mit einer Partei der Regionen versucht, zwischen den Teilen der Ukraine zu vermitteln und gewann mit diesem Programm Anfang 2010 die Präsidentschaftswahlen gegen Julija Tymoschenko. Sein außenpolitisches Programm war Blockfreiheit der Ukraine bei einem Fortbestand der Zollunion mit Russland, wobei er aber eine Schaukelpolitik betrieb und auch ein Assoziierungsabkommen mit der EU anstrebte. Gegen Julija Tymoschenko kam es zu einem Strafprozess, mit dem Vorwurf, dass sie als Energieministerin mit Russland ein Abkommen zum Erdgasimport zu überhöhten Preisen abgeschlossen habe. Die EU setzte daraufhin die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens aus. Die Ukraine war in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Russland verweigerte weitere Kredite mit dem sachlich richtigen Hinweis, dass eine gleichzeitige Zollunion mit der EU und mit Russland unmöglich sei. Die EU verweigerte Kredite mit dem Hinweis auf Julija Tymoschenko. In dieser Situation wandte sich Janukowytsch von der EU ab und Russland zu. Die Regierung Asarow suspendierte am 21. November 2013 die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens ihrerseits, wobei Janukowytsch eine spätere EU-Perspektive der Ukraine jedoch nicht ausschloss.

Die große Enttäuschung vor allem unter der studentischen Jugend mündete in Straßenproteste, die sehr bald von westlichen Politikern und von der nationalistischen Opposition instrumentalisiert wurden. Die Mehrheit der Demonstranten war weder nationalistisch noch gar nationalsozialistisch und sie war friedlich. Ab Anfang 2014 jedoch tauchten Bewaffnete unter dem Banner des Rechten Sektors unter den Demonstranten auf. Dieses Banner besteht aus einem roten Streifen oben und einem schwarzen unten, mit der weißen Aufschrift Прaвий сeктор und einem weißen ukrainischen Dreizack darauf.Die Ähnlichkeit zur Flagge der Ukrainischen Aufständischen Armee ist kein Zufall. Der Rechte Sektor arbeitete an einer gewaltsamen Eskalation. Am 18. Februar 2014 kam es zum Tod von 100 Demonstranten. Bis heute ist unklar, von welcher Seite sie erschossen wurden. Klar ist hingegen, welche Seite die Verantwortung trägt, dass es nie ermittelt wurde. Am 21. Februar 2014 traten die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs als Garanten eines Abkommens auf, das die Krise durch eine Verfassungsreform, eine Allparteienregierung und vorgezogene Präsidentschaftswahlen beenden sollte. Der Maidan – und das heißt in diesem Fall, der Rechte Sektor – nahm das nicht an, obwohl alle politischen Oppositionsführer unterzeichnet hatten. Janukowytsch blieb nur die Flucht, wenn er sein Leben retten wollte. Am 22. Februar setzte das Parlament unter bewaffneten Druck des Rechten Sektors auf Abgeordnete Janukowytsch als Präsidenten ab. Allerdings wurde dabei die eigentlich notwendige Dreiviertelmehrheit verfehlt. Der von der US-amerikanischen Diplomatin Victoria Nuland als “unser Mann” apostrophierte Arsenij Jazenjuk wurde Regierungschef. Der Sohn des damaligen amerikanischen Vizepräsidenten, Hunter Biden, wurde in den Aufsichtsrat des ukrainischen Erdgasunternehmens Burisma berufen. Nach eigenen Aussagen ist er niemals in der Ukraine gewesen.

Parallel zu den Demonstrationen in Kiew war es in der Westukraine zur Besetzung von Rathäusern gekommen. Nun bildete sich in der Ostukraine ein Anti-Maidan aus Ukrainern, die mit diesem Umsturz und der Politik der neuen Regierung nicht einverstanden waren und der die gleiche Taktik von Rathausbesetzungen und Demonstrationen anwandte. Während die von Janukowytsch eingesetzte Regierung Asarow nur zögerlich und mit leichter Hand gegen die Besetzung öffentlicher Gebäude vorgegangen war und das ukrainische Militär völlig herausgehalten hatten, beschloss der neue Innenminister Arsen Awakow, bewaffnet dagegen vorzugehen. Gleichzeitig fuhren bewaffnete Trupps des Rechten Sektors in die Ostukraine und gingen dort gegen die Demonstranten vor. Am 2. Mai trieben sie prorussische Demonstranten in ein Gewerkschaftshaus in Odessa. Nachdem das Gebäude brannte, ließen sie niemanden entkommen. Die Polizei griff nicht ein, die Feuerwehr erschien erst 40 Minuten nach der Alarmierung. 42 Menschen starben. Ermittlungen wurden nur gegen prorussische Aktivisten eingeleitet. Der Europarat und das Hohe Komissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte haben die Ukraine für die einseitigen und verschleppten Ermittlungen gerügt.

Awakows erster Versuch, das Rathaus von Sloviansk zu räumen, scheiterte noch vor der Stadtgrenze an einem Kontrollpunkt, den die Besetzer errichtet hatten. Auch diese waren nun bewaffnet. Daraufhin versuchte die Regierung, das Militär einzusetzen. Dieses war zunächst unwillig. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Maidan-Seite und der Anti-Maidan-Seite wurden anfangs mehrheitlich von rechtsextremen und nationalistischen Freischärlern getragen. Nach und nach wurde aber auch die reguläre Armee in die Eskalation hineingezogen. In Donezk und Luhansk übernahm der Anti-Maidan die Macht und gründete separatistische “Volksrepubliken”.

Im Laufe der nächsten Monate gewann allmählich die Koalition aus nationalistischen Freischärlern und den auf Seiten der Regierung verbliebenen Einheiten des ukrainischen Militärs die Oberhand. Mitte August 2014 standen sie am Stadtrand von Luhansk und der Fall der Separatistenrepubliken schien kurz bevorzustehen. Am 18. August schien die ukrainische Seite auch die Schlacht um Ilovaisk, wenige Kilometer südöstlich von Donezk gelegen, für sich entschieden zu haben. Russland erzwang einen “humanitären” Hilfskonvoi für Luhansk. Die ukrainische Regierung entschied sich für den 24. August 2014, dem Unabhängigkeitstag der Ukraine für eine Militärparade in Kiew, für die sie auch schwere Waffen von der Front abzog. An diesem Tag traten die Separatisten, wahrscheinlich koordiniert vom russischen Generalstab und russischen Militärberatern und unter Einbeziehung mindestens eines russischen Luftlanderegiments (die russische Beteiligung wird dort als Северный ветер, «Nordwind» bezeichnet) zur Gegenoffensive an. Es gelang ihnen schnell, große ukrainische Kräfte einzukesseln, was auch an Meinungsverschiedenheiten zwischen Freischärlern (in Ilovaisk bleiben) und regulärem Militär (wir müssen hier weg) lag. Im Ergebnis war die ukrainische Front durchbrochen. Bereits am 5. September 2014 musste die ukrainische Regierung angesichts einer desaströsen militärischen Lage das erste Minsker Abkommen unterzeichnen, das zumindest eine Teilautonomie des Donbass festlegte. Stattdessen wurden rechtsextreme Regimenter, wie das Asow-Regiment und die Kräfte des Rechten Sektors in die ukrainische Armee eingegliedert.

Verlorene Jahre

In den folgenden Jahren ging der Kampf gegen die weit verbreitete Korruption in der Ukraine nur langsam voran. Das EU-Assoziierungsabkommen war zwar noch 2014 unterzeichnet worden, trat aber wegen der Folgen durch die dann drohenden russischen Importzölle verzögert in Kraft. Am 1. März 2016 äußerte der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor einem Referendum in den Niederlanden, dass die Ukraine mit Sicherheit in den kommenden 20 bis 25 Jahren kein EU-Mitglied werden könne. Das Gleiche gelte für die NATO. Ein Referendum in den Niederlanden ging mit 61% gegen das Abkommen aus. Daraufhin erwirkte die niederländische Regierung einige Änderungen und unterzeichnete im Mai 2017 doch. Unter den Änderungen waren der Ausschluss von Sicherheitsgarantien, militärischer Unterstützung und Freizügigkeit.

Die Ukraine ihrerseits konnte sich nicht durchringen, den Prozess zur Schaffung einer Teilautonomie des Donbass in Gang zu bringen. Die Unzufriedenheit mit dem ersten nach dem Maidan-Umsturz gewählten Präsidenten, Petro Poroschenko, äußerte sich in der nächsten Präsidentschaftswahl im April 2019. Der politisch unerfahrene Schauspieler Wolodymyr Selenskyj entschied den ersten Wahlgang mit 30.24% für sich, vor Poroschenko mit 15.95% und Julija Tymoschenko mit 13.40%. Den vierten Platz belegte ein ehemaliger Minister Janukowytschs. Der Chef des rechten Sektors, Oleh Ljaschko, brachte es auf 5.48%. Die zweite Runde gegen Poroschenko gewann Selenskyj mit überwältigenden 73.22%. Die Bundeszentrale für politische Bildung hatte ihn kurz zuvor als Populisten kategorisiert. Ein detailliertes Programm hatte er so wenig wie Olaf Scholz 2021 eines hatte. Unter den Punkten, die er vertrat, war allerdings Frieden in der Ostukraine. Die Einschätzung enthält einen bemerkenswerten Satz, an den heute gewiss niemand in der Bundeszentrale erinnert werden möchte: “Viele Kritiker Selenskyjs weisen darauf hin, dass ein Staat am Rande des Bankrotts und mit einem Krieg auf eigenem Territorium sich keine Anfängerfehler oder Experimente erlauben kann.” Die Meinung Heiko Pleines vom 22.5.2019 endet mit der Empfehlung, Selenskyj solle doch einfach tun, was der IWF und die EU verlangen. Angesichts des heutigen Geredes über die Selbstbestimmung der Ukraine, muss auch das als toxischer Satz erscheinen.

Wer regiert die Ukraine?

Ein weitere richtige Schlussfolgerung von Heiko Pleine ist diejenige, dass ein Präsident ohne Parlamentsmehrheit begrenzte Handlungsspielräume hat. Selenskyj löste das Parlament auf, erreichte vorgezogene Neuwahlen und errang mit seiner aus dem Nichts kommenden Partei “Diener des Volkes” eine komfortable absolute Mehrheit. Auch das ist ein Kommentar über die verlorenen Jahre. Die mit einer vereinigten Liste angetretenen Rechtsextremen verloren gegenüber der Wahl 2014 4,3% Stimmanteil und überwanden die 5%-Hürde nicht mehr. Selenskyj hatte ein klares Mandat. Im März 2020 begann Selenskyj Konsultationen mit den Führern der Separatistenrepubliken. Sofort kam es zu Vorwürfen, dass er diese damit legitimieren würde. Im Juni 2020 gab Selenskyj das Vorhaben auf. Der Friedensprozess für die Ostukraine war gescheitert.

Es stellt sich die Frage, wie viel faktische Macht in Händen von Kräften liegt, die kein Mandat der Bevölkerung haben. Am 2. November 2021 gab der Führer Dmitry Jarosch des Rechten Sektors, einer kleinen Splitterpartei mit weit unter 5% Stimmenanteil, bekannt, dass er zum Berater des Oberkomandierenden der Ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschni, ernannt worden sei. Von der Ukrainska Pawda zur Rede gestellt, gab der Generalstab den Kommentar ab, keinen Kommentar abgeben zu können, dass es sich um vertrauliche Angelegenheiten handle. Die Mitteilung Jaroschs hat aber erhebliche Kredibilität, denn er hat ein Bild das zeigt, wie dicke er mit Saluschni ist. Wenn wir von Bildern reden, ist auch ein Videobericht der britischen Sun vom 6. April von Interesse. Es geht um Borodjanka, der Bericht vertritt die Position der ukrainischen Seite. Uniformierte Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdiensts SBU (СБУ) treten auf. Bei Minute 1:04 kommt erstmals kurz ins Bild, worum es hier geht. Sie halten das Video aber besser bei 1:17 an, indem Sie auf den Pause-Button klicken. Falls Sie nicht sehen sollten, was ich da sehe, ist hier eine Hilfestellung.

Die Geschichte ist nie vergangen. Und nirgends ist sie ganz schwarz oder ganz weiß.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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