Verstreutes

Covid-19 Seit September und über ganz Europa gesehen gibt es keine statistisch signifikante Evidenz dafür, dass die Maßnahmenpakete der Regierungen wirken.

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Vor zwei Wochen hatte ich anhand der Testdaten einiger Länder argumentiert, dass Lockdowns keine auffälligen Effekte auf den Verlauf der Epidemie zu haben scheinen. Diese Argumentation konnte zeigen, dass Lockdowns oder Einschränkungen nicht grundsätzlich die Infektionsrate verrigern, die aus dem zeitlichen Verlauf der Zahl positiver SARS-Cov2-Tests abgeschätzt werden kann. Es könnte aber immer noch sein, dass die wenigen Beispiele, die ich angeführt hatte, eher Ausnahmen sind, als die Regel und dass im Mittel ein eindeutig vorteilhafter Effekt auftritt. Dieser Frage will ich hier nachgehen.

Ereignisse, Verschärfungen, Erleichterungen

Zunächst muss ich die Regierungsmaßnahmen quantifizieren, wofür ich den Oxford Stringency Index (OSI) verwende, dessen Validität für den Vergleich verschiedener Länder allerdings im Dezember mit guten Argumenten in Zweifel gezogen worden ist. Hier benutze ich den OSI nur zur Analyse des Zeitverlaufs einzelner Länder. Auch in dieser Hinsicht hat er Schwächen. So machen sich zum Beispiel zwei Maßnahmenpakete des Schweizer Bundesrats darin überhaupt nicht bemerkbar. Diese haben Schließungen von Restaurants und Sporteinrichtungen und sogar eine bedingte Homeoffice-Pflicht beinhaltet. Deshalb treibe ich die Quantifizierung nicht sehr weit, sondern benutze den OSI nur, um größere Maßnahmenpakete zu erkennen und deren Ausmaß grob abzuschätzen. Ich definiere ein Ereignis als eine Veränderung der Kategorie Government Response Index des OSI um einen Schwellwert von 5 Punkten oder mehr innerhalb von sieben Tagen. Die Ergebnisse sehen sehr ähnlich aus, wenn ich die Kategorie Stringency Index verwende. Ein Ereignis ist charakterisiert durch diese Veränderung und den Tag der stärksten Änderung innerhalb dieses 7-Tage-Intervalls. Ereignisse, bei denen der Government Response Index ansteigt, nenne ich Verschärfungen, solche, bei denen er sinkt, Erleichterungen.

Veränderung der Infektionsrate

Um ein Maß für die Infektionsrate zu erhalten, gehe ich davon aus, dass in den meisten Fällen die Teststrategie und mittlere Zahl der täglichen Tests über einen Drei-Wochen-Zeitraum einigermaßen stabil war. Ich kenne ein Gegenbeispiel – den Leopoldina-Lockdown in Deutschland, der relativ kurz vor Weihnachten kam. Dort fällt mein unten beschriebener Auswertungszeitraum für den Effekt auf die Feiertage, während derer die Infektionsrate nur scheinbar sank, weil weniger Tests durchgeführt wurden. Solche Ereignisse sind aber im gesamten Datensatz selten. Deshalb kann ich davon ausgehen, dass der zeitliche Verlauf der Zahl positiver SARS-Cov2-Tests in einem Land dem zeitlichen Verlauf der tatsächlichen Zahl von Infektionen proportional ist - zumindest in brauchbarer Näherung. Wenn dem so ist, ist der Anstieg des Logarithmus der Zahl positiver SARS-Cov2-Tests proportional zur momentanen Infektionsrate (beziehungsweise zum momentanen mittleren R-Wert). Wegen des starken Wochengangs der Daten verwende ich ein gleitendes 7-Tage-Mittel. Dieser Teil der Methodik ist der gleiche wie vor zwei Wochen.

Allerdings benötige ich hier ein quantitatives Maß für die Veränderung der Infektionsrate nach dem Inkrafttreten eines Maßnahmenpakets. Ich schreibe absichtlich nicht „infolge des Inkrafttretens“, weil eine eventuelle Änderung auch andere Ursachen haben kann. Wir suchen hier eine Korrelation. Ob Kausalität besteht, wäre zu klären, wenn wir eine solche finden. Die Änderung quantifiziere ich wie folgt. Als Basiswert der Infektionsrate verwende ich eine lineare Anpassung an die Daten in den ersten sieben Tagen ab dem Inkrafttreten der Maßnahmen. In diesem Zeitraum kann es noch keinen Einfluss der Maßnahmen auf die beobachtbare Infektionsrate geben - wegen der Inkubationszeit und der Zeit zwischen Auftreten von Symptomen und der Meldung eines positiven Tests. Dann lasse ich eine Woche vergehen, in der sich der Effekt entfalten kann. Die Infektionsrate nach dem Maßnahmenpaket ermittle ich durch eine lineare Anpassung in den Tagen 14 bis 20 ab Inkrafttreten. Diese Methode ist in Abbildung 1 am Beispiel Deutschlands illustriert.

Verwendete Daten

Die Zahl der täglich gemeldeten positiven Tests habe ich von der Johns Hopkins University bezogen. Ich betrachte den Zeitraum ab dem 1. September 2020 bis zum 20. Februar 2021 für Europa. Damit ist die gesamte zweite Welle erfasst. San Marino und Monaco habe ich ausgeschlossen, weil die Fallzahlen dort für diese Analyse zu gering sind. In diesem Datensatz finden sich 81 Ereignisse, von denen 58 Verschärfungen und 23 Erleichterungen sind.

Ergebnisse

Im Mittel über alle 58 Verschärfungen finde ich eine leichte Verringerung der Infektionsrate (Abbildung 2, links, blaue Linie). Diese Verringerung scheint im Mittel auch bei einer stärkeren Erhöhung des Government Response Index etwas stärker auszufallen. Statistisch signifikant ist dieses Ergebnis allerdings nicht. Die Nullhypothese liegt innerhalb einer Standardabweichung. Das 95%-Vertrauensintervall ist zwei Standardabweichungen breit. In Bezug darauf ist die Abweichung des Mittelwerts von Null klein.

Im Mittel über alle 23 Erleichterungen ist eine Erhöhung der Infektionsrate nicht zu beobachten (Abbildung 2, rechts, blaue Linie). Zwar liegt der Mittelwert ganz knapp über Null, diese Beobachtung ist aber nicht robust gegen auch nur kleine Änderungen des Schwellwerts von 5 oder leichte Verschiebungen des Analyseintervalls. Die Abweichung von Null ist auch im Vergleich zur Standardabweichung vernachlässigbar klein.

In beiden Fällen habe ich geprüft, ob die Ergebnisse gegen moderate Änderungen der Modellannahmen (Schwellwert, Zeitintervalle der Anpassung der Infektionsraten) robust sind. Das ist der Fall.

Diskussion

Auch eine kleine Verringerung der Infektionsrate könnte von Bedeutung sein, wenn sie sicher durch Maßnahmenpakete erzielt werden könnte. Das hat damit zu tun, dass eine nachhaltige Verringerung der Rate zu exponentiell weniger Infektionen führen würde. Abgesehen von der statistischen Insignifikanz ist allerdings auch eine systematische Überschätzung des Effekts von Verschärfungen zu erwarten. Verschärfungen werden aus politischen Gründen in der Regel nur dann eingeführt, wenn die Infektionsrate hoch und in der Regel schon über mehrere Wochen hoch ist. Dann ist es aber im Mittel wahrscheinlicher, dass sie (aus anderen Gründen) in der nächsten Zeit sinken wird als dass sie weiter ansteigt. Wie groß dieser systematische Fehler ist, ist freilich mit der bisher durchgeführten Datenanalyse nicht quantifizierbar.

Was statistisch allerdings hochsignifikant ist, sind die Kosten der Verschärfung von Maßnahmen. Dabei sind Kosten aller Art gemeint, nicht nur die wirtschaftlichen, die sich am leichtesten beziffern lassen. Zu den statistisch hochsignifikanten Effekten gehören zum Beispiel die geringere Zahl von Herz- und Krebsdiagnosen infolge der bei der Bevölkerung erzeugten Angst vor Arztbesuchen. Dazu gehört aber auch die größere Zahl erfasster psychischer Probleme von Kindern und Erwachsenen. Weniger gut zu beziffern, aber sicher ebenfalls signifikant, ist der geringere Lernfortschritt von Schulkindern, besonders derjenigen, die ohnehin bereits Lernprobleme haben.

Wir haben es also mit einer Situation zu tun, in der die schädlichen Nebenwirkungen signifikant sind, der Nutzen es aber nicht ist. In einer solchen Situation sollte man die Maßnahmen so bald wie möglich zurückfahren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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