Völlig losgelöst

Covid-19 Die offiziellen Corona-Daten mehrerer europäischer Länder haben keinen plausiblen Bezug zur Realität mehr.

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In einer Epidemiewelle einer potentiell tödlichen Krankheit erwartet man eine bestimmte Abfolge der Ereignisse. Zunächst kommt es zu einem Anstieg der Infektionen. Etwas später steigt die Anzahl der Krankenhauspatienten und Intensivpatienten. Noch später steigt die Zahl der Sterbefälle. Während des Abfalls der Epidemiewelle wiederholen sich diese Ereignisse mit umgekehrtem Vorzeichen und etwas größerer Verzögerung. Wie lang die jeweiligen Verzögerungen sind, hängt von der Krankheit ab. Die in Abbildung 1 gezeigten britischen Daten entsprechen in der 2. Welle (September 2020-April 2021) genau diesem Muster. Um zu dieser Darstellung zu gelangen, musste ich lediglich ein gleitendes 7-Tage-Mittel über die Testdaten und Daten der Covid-19 zugeordneten Sterbefälle laufen lassen. Die tagesaktuellen Zahlen beatmeter Patienten im britischen Gesundheitssystem sind als Rohdaten so glatt. Die Übersterblichkeitsdaten von EUROMOMO liegen nur wöchentlich vor. Ich habe alle Daten auf das Maximum der 2. Welle normiert.

In der 1. Welle gibt es gewisse Abweichungen. Zunächst einmal wurde sehr viel weniger getestet. Zweitens trat kaum eine Verzögerung zwischen der Welle beatmeter Patienten und der Sterbewelle auf. Drittens war das Verhältnis zwischen der Übersterblichkeit und den Covid-19 zugewiesenen Sterbefällen um fast zwei Drittel höher. Die wahrscheinlichste Erklärung für all das ist die damals fehlende Erfahrung mit dieser Krankheit. Nicht alle durch Covid-19 bedingten Todesfälle dürften im Frühjahr 2020 in Großbritannien tatsáchlich der Krankheit zugeordnet worden sein. Die Sterbefälle traten sehr bald auf, weil man noch wenig über die bestmögliche Behandlung der Patienten wusste.

In der 2. Welle fällt vor allem der schnellere Abfall der Übersterblichkeit im Vergleich zu demjenigen der Covid-19 zugewiesenen Sterbefälle auf. Zudem gibt es eine deutliche Untersterblichkeit ab etwa Mitte März. Beides dürfte zusammenhängen. In der heftigen 2. Welle sind, wie allgemein bei Covid-19, vor allem ältere Menschen mit Vorerkrankungen verfrüht gestorben. Statistisch betrachtet wäre eine gewisse Zahl dieser Menschen ohne Covid-19 einige Wochen oder Monate später an einer anderen Ursache verstorben. Sobald diese Zahl verfrühter Sterbefälle höher ist als diejenige der durch Covid-19 bedingten zusätzlichen Todesfälle, beobachtet man eine Untersterblichkeit.

Auch der schnelle Abfall ist plausibel. Hier fiel der natürliche Abfall der 2. Welle mit einer schnellen und massiven Impfkampagne zusammen, die zudem die am stärksten gefährdeten Personen zuerst schützte. Mit dem Fortschreiten der Impfkampagne dürfte sie schließlich sogar den Abfall der Infektionswelle beschleunigt haben.

Der Unterschied zwischen Europa und Großbritannien

In allen europäischen Ländern hätte man einen ähnlichen Verlauf erwartet wie gerade beschrieben. Der Abfall der 2. Welle kann dabei etwas langsamer sein, wo die Impfkampagnen langsamer gelaufen sind. Einen qualitativen Unterschied sollte es jedoch nicht geben.

Tatsächlich beobachtet man aber einen solchen qualitativen Unterschied, wie Abbildung 2 klar zeigt. EUROMOMO gibt für den Gesamtpool, zu dem seit kurzer Zeit auch Deutschland gehört, absolute Zahlen an. Daher konnte ich in der linken Grafik direkt die Übersterblichkeit (rote Symbole und Linie) für 22 europäische Länder mit den Covid-19 zugeordneten Sterbefällen vergleichen. Die Übereinstimmung ist bis Anfang Februar so gut, wie man es erwarten kann. Dann fällt die Übersterblichkeit in Europa schnell ab und erreicht bereits Ende Februar etwa Null. Den Grund habe ich bereits diskutiert, er liegt in den erfolgreichen Impfkampagnen.

Die Covid-19 zugeordneten Sterbefälle folgen dem Fall der Übersterblichkeit mit deutlich stärkerer Verzögerung als in Großbritannien, das übrigens sogar Teil des Pools ist. Vor allem aber fallen sie nicht gegen Null sondern gegen ein Plateau, das etwa einem Drittel der maximal beobachteten Sterbefälle entspricht. Das ist nicht plausibel. In all diesen Ländern ist inzwischen der größte Teil der Risikogruppen durch die Impfung geschützt. Die wahrscheinlichste Erklärung ist eine Fehlzuordnung von Sterbefällen. In Großbritannien werden Sterbefälle nur dann Covid-19 zugeordnet, wenn die Infektion weniger als 28 Tage zurückliegt. In anderen Ländern ist es sehr schwer, in Erfahrung zu bringen, wie das gehandhabt wird. Es deutet aber alles darauf hin – und für Deutschland gibt es entsprechende Aussagen – dass jeder Sterbefall Covid-19 zugeordnet wird, bei dem irgendwann in der Vergangenheit ein positiver Test vorlag. Falls dem so ist, kann man für Deutschland die Zahl erwarteter Fehlzuordnungen grob abschätzen. Es liegen etwa 3,4 Millionen positive SARS-Cov2-Tests vor. Teilt man das durch eine Einwohnerzahl von 83 Millionen und multipliziert mit den täglich erwarteten 2600 Sterbefällen, so erwartet man immerhin etwa 100 Fehlzuordnungen täglich.

Wie die rechte Grafik in Abbildung 2 zeigt, ist die Zahl der in Deutschland derzeit Covid-19 zugeordneten Sterbefälle etwa doppelt bis zweieinhalb Mal so groß. Zu beachten ist, dass in Deutschland selbst Sterbefälle ohne positiven Test Covid-19 zugeordnet werden können, wenn es eine Kontaktmöglichkeit gab und die Symptome einigermaßen passen. Gleichwohl mag es, wie in Großbritannien auch, sehr wohl noch einzelne durch Covid-19 verursachte Sterbefälle geben. Es ist jedoch keine plausible Annahme, dass sie noch einen erheblichen Anteil der täglichen Sterbefälle ausmachen.

Dass es in Deutschland in erheblichem Maße Fehlzuordnungen gibt, machen auch Daten des Statistischen Bundesamts sehr wahrscheinlich (Abbildung 3). Ich habe dazu eine Basislinie (Polynom 5. Grades) aus den Sterbefalldaten des Jahres 2016 berechnet (orangene Linie). Diese Basislinie ist eine konservative Abschätzung, das heißt, sie liegt eher zu tief. Im Jahr 2016 gab es keine wesentlichen Epidemiewellen und keine starke Hitzewelle und das Durchschnittsalter der Bevölkerung war noch geringer. Zu der Basislinie habe ich die Covid-19 zugeordneten Sterbefälle addiert. Bis Ende Januar 2021 liegt das Ergebnis (magenta Linie 2020, hellgrüne Linie 2021) unter der Zahl der tatsächlich beobachteten Sterbefälle (rote Linie 2020, dunkelgrüne Linie 2021). Wegen der konservativen Abschätzung der Basislinie erwartet man das auch. Von Ende Februar bis Mitte April liegt die Zahl der Covid-19 zugeordneten deutlich über der tatsächlich beobachten Übersterblichkeit.

In Abbildung 2 (rechts) ist eine weitere Inkonsistenz zu sehen. Ab Anfang bis Mitte März steigen die Testzahlen und die Zahl der auf Intensivstationen Covid-19 zugeordneten Patienten deutlich an. Dem entspricht kein signifikanter Anstieg der Covid-19 zugeordneten Sterbefälle. Bezüglich der Zahl positiver Tests ist das plausibel, weil die Risikogruppen ja inzwischen geschützt sind. Bezüglich der Zahl von Covid-19-Patienten auf Intensivstationen ist es nicht plausibel. Hier ist davon auszugehen, dass entweder Personen mit positivem SARS-Cov2-Test aus anderen Gründen auf der Intensivstation liegen oder dass Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt werden, die in früheren Epidemiephasen nicht intensivbehandelt worden wären. Letzteres könnte medizinisch vernünftig sein oder ökonomische Gründe haben. Auch wenn es in diesen Fällen vernünftig sein sollte, begründet es doch keine Panik bezüglich der Auslastung der Intensivstationen.

Ist die 3. Welle ein Phantom?

Inwieweit die in Deutschland zu beobachtenden Inkonsistenzen speziell oder allgemein sind, diskutiere ich anhand von Abbildung 4. Die Daten von Großbritannien sind hier noch einmal mit besserer Auflösung für die zweite Welle als Referenz gezeigt (links oben). Außerdem arbeite ich hier mit der absoluten Zahl der täglichen Sterbefälle (schwarz), wie sie in der Datenbasis der Johns-Hopkins-University angegeben wird (ich wende ein gleitendes 7-Tage-Mittel an). Die Übersterblichkeitsdaten von EUROMOMO musste ich willkürlich skalieren, da sie für einzelne Länder nur als z-Score angegeben werden. Ich habe mich dafür entschieden, den Maximalwert in der 2. Welle mit demjenigen der Covid-19 zugeordneten Sterbefälle in Übereinstimmung zu bringen, was anhand der als Absolutwerte gegebenen Pooldaten (Abbildung 2 links) vernünftig erscheint.

Wie bereits gesagt, ist der britische Datensatz unauffällig. Die anderen fünf Datensätze sind alle auffällig. Ein nur kurioses Phänomen ist der in Frankreich, Italien, Belgien und der Schweiz auftretende „Testberg“ Anfang bis Mitte November, der keine Entsprechung in Realdaten hat. In gewissem Ausmaß ist das gleiche Phänomen in Abbildung 2 rechts für Deutschland zu beobachten, wo es eine Schulter gibt, die keine Entsprechung in Sterbefällen und in der Intensivstationsbelegung nur eine abgeschwächte Entsprechung findet. Verschwörungstheoretiker würden hier eine koordinierte Propagandaaktion vermuten, um vor Weihnachten Maßnahmeverschärfungen zu begründen. Dazu würde es sogar passen, dass das Phänomen in Schweden nicht auftritt.

Überall sichtbar, wenn auch in verschiedenem Ausmaß, ist das Auseinanderklaffen von Übersterblichkeit und Covid-19 zugeordneten Sterbefällen ab spätestens Anfang Februar. Allenfalls in Italien könnte diese Inkonsistenz durch eine andere Skalierung der Übersterblichkeitsdaten beseitigt werden, allerdings nur auf Kosten einer dann extremen Inkonsistenz im Oktober und November.

Allen Datensätzen außer dem britischen ist auch gemein, dass es ab etwa Anfang März eine ausgesprochene Diskrepanz zwischen dem Anstieg der Zahl positiver Tests und der Zahl von auf Intensivstationen Covid-19 zugeordneten Patienten auf der einen Seite und der Entwicklung der Zahl der Sterbefälle auf der anderen Seite gibt. Dieser Anstieg wird allgemein als 3. Welle bezeichnet. Außer in Italien gibt es keine solche 3. Welle in den Covid-19 zugeordneten Sterbefällen und in der Übersterblichkeit. Was die Sterblichkeit angeht, ist die 3. Welle also bisher ein Phantom, wie man das anhand des Impfstatus auch erwarten würde. Es ist vielmehr so, dass es in Belgien, der Schweiz und Schweden eine Untersterblichkeit gibt, die aufgrund ihrer Kontinuität über mehrere Wochen auch statistisch signifikant ist.

Immer wieder Covid-19-Daten

Ich kritisiere die Art und Weise, wie Covid-19-Daten erhoben werden, seit mittlerweile mehr als einem Jahr. Die Situation hat sich in dieser Zeit nicht verbessert. Wie die heutige Betrachtung zeigt, hat sie sich selbst in den letzten drei Monaten weiter verschlechtert. Die in deutschen Medien täglich diskutierten Daten haben vermutlich keinen Bezug zur Realität mehr, in jedem Fall aber nicht annähernd den Bezug, der in dieser Diskussion implizit unterstellt wird. Es ist Zeit, die Propagandastrategie zu ändern, ehe ihre Absurdität offensichtlich wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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