Wacklige Wissenschaft schafft Panik

Covid-19 Die Behauptung einer schnellen Verbreitung der britischen Mutante widerspricht den verfügbaren Daten.

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Während in den meisten europäischen Ländern die Zahl positiver SARS-Cov2-Tests und inzwischen auch diejenige der Sterbefälle zurückgeht, wird über weitere Grundrechtseinschränkungen diskutiert. Als Begründung werden Virus-Mutanten angeführt, die wegen ihrer höheren Übertragbarkeit so gefährlich seien, dass ohne scharfe Maßnahmen eine katastrophale 3. Welle von Covid-19 zu erwarten sei. Dieser These werde ich hier nachgehen. Dabei beschränke ich mich aus zwei Gründen auf die „britische Mutante“, die auch als B.1.1.7 bekannt ist (so bezeichne auch ich sie). Mitunter wird sie auch 20B/501Y.V1 und etwas häufiger VOC-202012/01 genannt. Ich diskutiere diese Mutante, weil es nur dazu überhaupt eine Studie gibt, die über nicht nachprüfbare Pressemitteilungen hinausgeht. Es sind sogar die Basisdaten dieser Studie öffentlich zugänglich (sie werden in der Veröffentlichung als Referenz 5 zitiert). Ferner ist diese Studie von Leung et al. der Ausgangspunkt des Narrativs von den gefährlichen Mutanten.

Leung et al. behaupten darin, dass B.1.1.7 eine um 75% höhere Übertragbarkeit als das Vergleichsvirus aufweist und geben ein 95%-Vertrauensintervall von 70-80% an. Eine spätere, nur als Preprint verfügbare Studie eines Londoner Instituts gibt 56% an (Vertrauensintervall 50-74%), obwohl sie sich auf etwa den gleichen Zeitraum und die gleichen Basisdaten bezieht. Das niederländische Gesundheitsministerium schätzt 36% (23-40%) ab, das dänische Statens Serum Institut ebenfalls 36% (19-53%). Die neueste Abschätzung stammt von der belgischen Universität in Leuven, sie beträgt 11%. Die Vertrauensintervalle überlappen nicht. Irgendetwas stimmt hier also nicht. Allen Studien ist eines gemeinsam. Sie schließen aus einem wachsenden Anteil von B.1.1.7 an der Gesamtzahl der Fälle auf eine höhere Übertragbarkeit. Dieser Schluss ist nicht zulässig, wie ich im Folgenden zeige.

Die Studie von Leung et al. geht von einem Modell aus, das ein Teil der Autoren 2017 entwickelt hatte, um die relative Ausbreitung von zwei Influenza-Virentypen zu beschreiben, von denen einer resistent gegen ein antivirales Medikament ist, der andere aber nicht. Das Modell setzt voraus, dass beide Virenstämme gleichzeitig zirkulieren (darauf komme ich zurück) und, mechanistisch, dass sie miteinander in Konkurrenz um die gleichen infizierbaren Individuen stehen („competition transmission model of two viruses“). Die letztere Annahme ist für Covid-19 in Großbritannien von September bis Dezember 2020 nicht plausibel. Die 14-Tage-Inzidenz auf 100‘000 Einwohner hat im gesamten Zeitraum nie den Wert von 1200 überschritten. Es ist daher nicht sehr wahrscheinlich, dass sich Infektionsketten zweier beteiligter Virusstämme gekreuzt haben und es ist völlig unwahrscheinlich, dass diese seltenen Begegnungen von Infektionsketten die Übertragung der Stämme deutlich beeinflusst hätten.

Wesentlicher ist jedoch, dass der eigentliche Befund – die Zunahme des Anteils der Mutante B.1.1.7 unter den insgesamt beobachten Fällen – erklärt werden kann, ohne dass man eine höhere Übertragbarkeit der Mutante annimmt. Dazu zeige ich in Abbildung 1 die numerische Realisierung eines einfachen Gedankenexperiments. Ich nehme an, dass zwei Virenstämme exakt die gleiche Übertragbarkeit haben und auf exakt die gleichen Ausbreitungsbedingungen treffen, so dass die beiden Epidemiewellen genau gleich aussehen. Der einzige Unterschied ist, dass die Mutante sich später verbreitet. Die Wellen beeinflussen einander nicht, was bei weniger als 1.5% Infizierten in der Gesamtpopulation eine vernünftige Annahme ist. Für die Form der Wellen habe ich ein früheres Modell von mir verwendet, das die 1. Covid-19-Welle in vielen Ländern gut anpasste. Qualitativ hängt das Ergebnis aber nicht von der Wellenform ab. Der Anteil der später auftretenden Mutante nimmt für eine gewisse Zeit rasant zu, danach dominiert er. Das muss so sein, weil während einer Welle die Reproduktionsrate R tendenziell abnimmt – und in der früheren Welle eben eher. Das später auftretende Virus hat also scheinbar eine höhere Reproduktionsrate, tatsächlich ist sie nur zu einem gegebenen Zeitpunkt höher.

Nun kann man viele Gedankenexperimente anstellen. Die Frage ist, ob sie einen Bezug zur Realität haben. Diese Frage kann man beantworten, indem man Referenz 5 der Studie von Leung et al. ansieht – eine Visualisierung der in Großbritannien im zeitlichen Verlauf detektierten Virusgenome. Besonders anschaulich ist die Baumdarstellung rechts oben (Tree). Die zuletzt auftretende Welle ist diejenige von B.1.1.7 (hellgrün), während davor verschiedene rot gekennzeichnete Varianten dominierten.

Auch die Basisdaten dieser Visualisierung sind öffentlich zugänglich. Allerdings enden sie am 17. Dezember 2020 – Leung et al. haben ihr Manuskript am 20. Dezember eingereicht. Es handelt sich um einen reichen Datensatz. Jede einzelne Genom-Sequenzierung ist mit dem Analysedatum, der gefundenen Virusvariante und dem administrativen Bezirk vermerkt, aus dem sie stammt. Vermerkt ist sogar in jedem Fall, welche Mutationen in den einzelnen Varianten auftreten. Wir interessieren uns hier nur für den zeitlichen Verlauf der Gesamtepidemie und der gefundenen B.1.1.7-Sequenzen. Das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild, es gäbe eine Normalform und eine „britische Mutation“ stimmt zwar nicht – es sind sehr viele Varianten im Umlauf. Das macht für die weitere Diskussion aber nichts aus.

Zunächst sehen wir im linken Teil von Abbildung 2, der die jeweils für eine Woche summierten Daten zeigt, etwas, das wir bereits wissen. Die Welle der Mutante B.1.1.7 beginnt deutlich später als die 2. Welle in Großbritannien. Interessanter ist hingegen schon, dass sie nach einem ersten Anstieg über mehrere Wochen auf einem Plateau verharrt, was bei der 2. Welle durch die anderen Varianten nicht der Fall war. Diesen Effekt sieht man noch besser im rechten Teil der Abbildung. Tendenziell nimmt die Zahl der detektierten B.1.1.7-Sequenzen nach dem 15. November wieder ab. In der linken Abbildung wird das nur durch einen Ausreißer verschleiert, der am 10. Dezember auftrat (fast 800 Fälle, während es an anderen Tagen nie deutlich mehr als 200 gab). Fast alle Fälle am 10. Dezember sind einem einzigen administrativen Bezirk (SANG) zugeordnet und nach dem 10. Dezember setzt sich das zuvor beobachtete Verhalten mit einer tendenziellen Abnahme fort.

Was immer das Modell von Leung et al. wert ist, die zugrundeliegenden Daten stützen die Schlussfolgerung nicht, die von den Autoren aus ihrer Modellrechnung gezogen wurde (ich habe nachgeprüft, dass ich die Datenpunkte in den Abbildungen 2 und 3 ihrer Studie für Variante 2 aus den von mir verwendeten Basisdaten reproduzieren kann). Wenn Mutante B.1.1.7 so gefährlich ist, warum fällt die Welle ihrer Verbreitung dann so flach aus und geht so schnell in ein Abklingen über?

Dieser Befund enthält eine wichtige Lehre, die alle Covid-19-Modellierer beachten sollten, aber nur wenige beachten. Vor dem Modellieren sollte man genau überlegen, was die Basisdaten bereits ohne ein Modell aussagen. Nachdem man modelliert hat, sollte man die aus dem Modell abgeleiteten Schlussfolgerungen wieder mit den Basisdaten konfrontieren. So hat man eine gute Chance zu erkennen, ob man beim Modellieren eine ungerechtfertigte Annahme getroffen hat. Das ist hier offenbar unterblieben.

Nun ist es auch richtig, dass es in Großbritannien – wie auch in dem uns vor Weihnachten von der Leopoldina als Vorbild gepriesenen Irland – nach Weihnachten zu einem starken erneuten Anstieg der Fallzahlen gekommen ist. Leider sind die Genom-Sequenzierungsdaten für diesen Zeitraum nicht veröffentlicht worden (Honi soit qui mal y pense). Der irische Anstieg nach Weihnachten kann aber ganz sicher nicht hauptsächlich der Variante B.1.1.7 zugeordnet werden – er hat andere Ursachen. Die Ursachen dürften in Großbritannien ähnlich wie in Irland sein. In beiden Ländern nehmen übrigens die Zahlen positiver Tests inzwischen wieder rasant ab.

Insgesamt kann man sagen, dass es keine belastbare Evidenz für die Annahme gibt, dass die Variante B.1.1.7 signifikant gefährlicher wäre als andere Virusvarianten von SARS-Cov2.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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