Warum Mark Rutte falsch liegt

Rotterdam Im niederländischen Wahlkampf setzt der Ministerpräsident auf ungebremste Konfrontation mit der Türkei. Das hilft keinem.

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Wir brauchen hier nicht darüber zu diskutieren, dass die gegenwärtige Rhetorik türkischer Politiker, insbesondere Erdoğans, aus unserer kulturellen Perspektive unterirdisches Niveau hat. Darin dürften sich alle einig sein, die in der BRD oder DDR sozialisiert wurden. Diskutiert werden muss aber die Frage, wie man darauf am besten reagiert.

Was ist geschehen?

In den Niederlanden findet am 15. März, also am kommenden Mittwoch, eine Parlamentswahl statt. Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Partei des gegenwärtigen Ministerpräsidenten Mark Rutte (VVD) und der rechtsgerichteten und anti-islamischen Partei von Geert Wilders (PVV) erwartet. Dabei handelt es sich um ein reines Prestige-Duell. Wilders wird keine Koalition bilden können, selbst wenn seine Partei stärkste Kraft werden sollte (dann mit etwa 24% der Sitze im Parlament). Rutte wird wieder Ministerpräsident, sofern nicht der Christlich-Demokratische Aufruf (CDA) etwas überraschend oder die Grün-Linke (stärker überraschend) stärkste Kraft wird. Es gibt also keinen tieferen politischen Grund für Rutte, Wilders-Positionen zu übernehmen. Er tut es dennoch, aber nicht aus wohl überlegter Strategie, sondern aus Eitelkeit.

In der Türkei findet am 16. April ein Referendum statt, bei dem es um eine Machterweiterung für den Präsidenten Erdoğan geht. Erdoğan riskiert dabei mehr politisches Kapital, als Rutte am kommenden Mittwoch verlieren könnte. Ein nicht unerheblicher Teil der türkischen Wähler lebt im EU-Ausland. Erdoğan und seine Entourage versuchen, dort so viel Werbung für ihre Position beim Referendum zu machen wie irgend möglich. Die Verfassungsreform selbst, die zur Abstimmung steht, scheint nicht überwältigend populär zu sein. Erdoğans Strategie ist daher eine nationalistische Mobilisierung, bei der unpatriotisch erschiene, wer die Verfassungsreform ablehnen würde. Die EU-Länder haben keinerlei Interesse, dass Erdoğan das Referendum gewinnt, im Gegenteil. Daraus folgt zwingend, dass sie rational betrachtet kein Interesse haben, seiner Strategie in die Hände zu spielen. Wo sie es dennoch tun, handeln ihre Regierungen nicht kühl überlegt, sondern emotional oder- hier passt das Wort- populistisch.

Die niederländische Regierung hat sich ohne Not und aus Wahlkampfgründen als erste EU-Regierung sehr dezidiert gegen jegliche Auftritte türkischer Regierungsvertreter zur Werbung für ihre Position in den Niederlanden ausgesprochen. Die Türkei hat daraufhin die taktisch brillante Entscheidung getroffen, eine solche Veranstaltung im Konsulat in Rotterdam durchzuführen. Dieses ist exterritorial und unterliegt nicht der niederländischen Jurisdiktion. Die Niederlande hatten keine Handhabe, die Veranstaltung zu verhindern.

Um der Veranstaltung ein hohes Profil zu geben, wollte die Türkei ihren Außenminister Cavosoglu entsenden. Die Niederlande fanden, dass eine Einreiseerlaubnis für diesen nur nach vorherigen Verhandlungen erteilt werden könne. Während dieser Verhandlungen drohte die Türkei den Niederlanden öffentlich Sanktionen an, falls Cavosoglu die Einreise verwehrt werde. Daraufhin erteilten die Niederlande keine Landeerlaubnis für Cavosoglus Flugzeug, mit der Begründung, man lasse sich nicht erpressen. In deutschen Medien war zu hören und zu lesen, es habe Sicherheitsbedenken gegeben. In der ARD-Tagesschau geschah das sogar, obwohl Ruttes Aussage, es sei um Erpressung gegangen, wörtlich wiedergegeben wurde. Die Information durch deutsche Mainstream-Medien, es sei um Sicherheitsfragen gegangen, ist unter Beachtung der ersten von Rutte abgegebenen Erklärung schlicht falsch. Sicherheitsfragen waren bezüglich einer zuvor geplanten und untersagten öffentlichen Demonstration diskutiert worden, nicht aber bezüglich der Veranstaltung im Konsulat.

Daraufhin kündigte die Türkei öffentlich an, sie werde Cavosoglu bei der Veranstaltung durch die Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya ersetzen, die sich bereits im Schengen-Territorium (Deutschland) befand und daher legal nach Rotterdam fahren konnte. Die niederländische Polizei hinderte die Ministerin am Betreten des Konsulats ihres Heimatlandes in Rotterdam. Sie blieb über Stunden in ihrem blockierten Auto sitzen und schließlich von niederländischen Sicherheitskräften zurück an die niederländisch-deutsche Grenze eskortiert.

Das türkische Außenministerium bestellte daraufhin den Geschäftsführer der niederländischen Botschaft ein, denn der Botschafter war außer Landes. Sie teilte diesem mit, die Rückkehr des Botschafters in die Türkei sei nicht erwünscht.

Was ist die völkerrechtliche Lage?

Durften die Niederlande öffentliche Auftritte türkischer Politiker auf politischen Demonstrationen in den Niederlanden verbieten? Ja. Durften sie Cavosoglu die Landeerlaubnis verweigern, obwohl dieser nic hat mehr wegen einer öffentlichen Demonstration kommen wallte? Ja. Durften sie Kaya am Betreten des türkischen Konsulats hindern? Die Antwort darauf hängt davon ab, ob Kaya zuvor im völkerrechtlichen Sinne zur persona non grata in den Niederlanden erklärt worden war. Die niederländische Regierung hat um 2 Uhr in der vergangenen Nacht eine diplomatische Erklärung abgegeben, nach der sie vor der Einreise türkischen Behörden vermittelt hätte, Kaya sei in den Niederlanden nicht willkommen. Der in der Wiener Konvention völkerrechtlich definierte Term persona non grata taucht in dieser Regierungserklärung allerdings nicht auf.

Wenn die niederländische Polizei Kaya festgesetzt und somit eine türkische Staatsbürgerin am Betreten des türkischen Konsulats gehindert hat, ohne dass diese offiziell persona non grata war, so haben die Niederlande der Wiener Konvention zuwidergehandelt. Das Empfängerland ist verpflichtet, freien Zugang zu Konsulaten zu gewährleisten. Die ausweichenden Darstellungen in westlichen Mainstream-Medien sprechen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dafür, dass genau dieser Vertragsbruch vorgefallen ist. Damit hat sich ein EU-Land auf diplomatischem Gebiet gegenüber der Türkei ins Unrecht gesetzt und das wäre dann unabhängig davon der Fall, welcher Rhetorik sich türkische Regierungsvertreter zuvor bedient hatten.

Durfte die Türkei die Wiedereinreise des niederländischen Botschafters verbieten. Ja. Diplomatisches Personal kann laut Wiener Konvention sogar ohne Angabe von Gründen des Landes verwiesen werden. In einer Situation wie dieser, bewegt sich die türkische Reaktion im Rahmen des Üblichen.

Was kann nun geschehen?

Wenn die Türkei die Lage nicht durch weitere „Sanktionen“ gegen die Niederlande eskaliert, hat die niederländische Regierung drei (genau genommen vier) Handlungsmöglichkeiten. Die deeskalierende ist, der Türkei einfach einen neuen Botschafter vorzuschlagen, von dem man annehmen darf, dass er in der Türkei auf Wohlwollen stößt. Die neutrale ist, die Botschaft bis auf Weiteres in den Händen des Geschäftsführers zu belassen. Zumindest bis nach der Wahl und Regierungsbildung wird das wohl der Fall sein. Die eskalierende ist, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen. Der Erbsenzähler kennt noch eine maximal eskalierende, bei der die Niederlande außer den diplomatischen auch die konsularischen Beziehungen abbrechen würden (denn das sind zwei verschiedene Paar Schuhe).

Analyse

Es liegt nicht im Interesse des Westens im Allgemeinen und der Niederlande im Besonderen, dass sich die Türkei völlig aus dem westlichen Bündnis löst. Die Gründe dafür sind die geografische Lage der Türkei, die einen Austritt aus der NATO zu einem schweren geostrategischen Schaden werden ließe, die wirtschaftlichen Beziehungen und die Anwesenheit vieler, zumeist patriotisch gesinnter Türken in westlichen Ländern, auch den Niederlanden. Kurzfristig wäre eine Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens durch die Türkei ein schwerer Schaden für die EU. Zunächst bekäme Griechenland ein großes Problem, könnte dieses aber nicht lösen und in der Folge gäbe es einen riesigen Streit in der EU. Nun streiten Institutionen intern schon mal, sonst stagnieren sie, aber in der EU gibt es bereits gegenwärtig mehr Streit als gut ist.

Ob Erdoğan ein völliges Herauslösen der Türkei aus der westlichen Allianz anstrebt und dafür Vorwände sucht oder nur das Verhältnis neu verhandeln will, wissen wir nicht. So, wie der Westen derzeit allerdings auftritt, wäre das auch ziemlich egal. Wenn sich nicht prinzipiell etwas ändert, wird ein Austritt oder Ausschluss der Türkei aus dem westlichen Bündnis irgendwann unvermeidlich.

Wie schon gesagt, gibt es für Mark Rutte keinen zwingenden oder auch nur guten Grund, objektive politische Interessen seines Landes und der EU zugunsten seiner eigenen politischen Interessen hintanzustellen. Seine eigenen Interessen und die seiner Partei sind in dieser Sache nur sehr geringfügig berührt.

Was nun die emotionale Aufgeregtheit und den Wunsch betrifft, gegen Erdoğan die Oberhand zu behalten, so ist das Verhalten Ruttes und der niederländischen Regierung ausgesprochen kontraproduktiv. Erdoğan bekommt genau das, was er möchte und was ihm in Hinblick auf das Referendum nutzen wird.

Die Niederlande haben sich noch in eine andere schwierige Lage manövriert. Sie haben eine Ministerin der türkischen Regierung zur persona non grata erklärt. Das ist ein ganz anderes Kaliber, als dasselbe mit einem Diplomaten zu tun, denn dieser wird ausgetauscht, die Ministerin aber nicht. Die Türkei könnte das mit etwas Phantasie als Hebel benutzen. Natürlich können die Niederlande diese Einstufung rückgängig machen, aber nur unter Gesichtsverlust.

Umgekehrt kann die Türkei die Sache an diesem Punkt nicht ohne eigenen Gesichtsverlust auf sich beruhen lassen. Die Ausweisung des Botschafters (in dessen Abwesenheit) entspricht nicht ganz den vollmundigen Ankündigungen von „Sanktionen“. Wenn Rutte die Wahl gewinnt, wird die Türkei wohl mehr folgen lassen müssen.

Wir leben in politisch interessanten Zeiten, leider.

Nachtrag (22:10 Uhr):

Im ZDF heute journal wurde gerade ein Video-Ausschnitt gezeigt, indem Polizisten, laut Aussage von Anne Gellinek "europäisch korrekt", der Familienministerin erklären, sie sei eine in den Niederlanden unerwünschte Person und werde nun zur Grenze zurück eskortiert.

Dabei handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine propagandistische Verzerrung der Situation. Der Video-Ausschnitt wurde sehr wahrscheinlich aufgenommen, nachdem der Wagen der Ministerin bereits mehrere Stunden blockiert war. Zumindest entspricht das einer Darstellung der Situation, die heute früh durch die F.A.Z. online verbreitet wurde. Es ist auch im Einklang mit Claus Klebers Anmoderation dieses Beitrags von Anne Gellinek.

Wenn dem aber so ist, war das Auto im Gegensatz zu Gellineks Darstellung stundenlang widerrechtlich blockiert und es widerspricht der Wiener Konvention, dass der Ministerin der Zugang zum Konsulat verwehrt wurde, bevor sie offiziell zur persona non grata erklärt worden war.

Korrektur (14.3.2017, 6:45 Uhr)

Die Türkei hat den niederländischen Botschafter nicht zur persona non grata erklärt. Nach einem neuen Regierungsbeschluss ist dessen Wiedereinreise nur vorläufig nicht erwünscht. Desweiteren wurden alle Kontakte auf Ministerebene und höher vorerst eingetellt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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