Was folgt aus dem Abschlussbericht zu MH-17?

Gilze-Rijen Am 13. Oktober hat der Niederländische Sicherheitsrat seinen Abschlussbericht zur Absturzursache von MH-17 vorgelegt. Ist er stichhaltig?

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Der Niederländische Sicherheitsrat (NSR, auch Dutch Safety Board, DSB) hat vom 23. Juli 2014 bis zum 13. Oktober 2015 unter hochkomplizierten politischen Rahmenbedingungen untersucht, welche Faktoren zum Absturz von MH-17 am 17. Juli 2014 geführt haben. Ziel der Untersuchung war es, Empfehlungen zu erarbeiten, wie das Risiko solcher Abstürze in Zukunft verringert werden kann. Es war ausdrücklich kein Ziel der Untersuchung, die Schuldfrage im strafrechtlichen Sinn und die Frage der finanziellen Haftbarkeit im rechtlichen Sinn (Englisch: liability) zu klären, wohl aber diejenige der Verantwortlichkeit (Englisch: responsibility). Weil aber die Ursachenbestimmung die Schuldfrage berührt und die Frage der Verantwortlichkeit die Frage der Haftbarkeit, war der NSR politischem Druck von allen Seiten ausgesetzt. Zudem sind viele der vom NSR herangezogenen Beweismittel gleichzeitig Beweismittel in der Untersuchung des Joint Investigation Teams (JIT), das am 8. August 2014 mit der Klärung der Schuldfrage und der Vorbereitung einer strafrechtlichen Verfolgung beauftragt wurde.

Von der NSR-Untersuchung waren Transparenz und Neutralität zu verlangen, während das JIT zum Teil aus nachvollziehbaren Gründen und zum Teil wegen bestehender Geheimverträge auf eine möglichst weitgehende Geheimhaltung der Untersuchungsergebnisse dringen musste. Zudem ist das JIT sicher nicht neutral. Vom 8. August 2014 bis zum 30. November 2014 gehörten ihm mit den Niederlanden, Belgien und Australien nur westliche Länder an, deren Regierungen die vorgefasste Meinung einer direkten Schuld der Separatisten in der Ostukraine und einer indirekten Schuld Russlands bereits öffentlich geäussert hatten. Zudem ist mit der Ukraine ein Land beteiligt, dessen Streitkräften der Abschuss möglicherweise zuzuschreiben ist. Nach mehrfachen Protesten, auch in der niederländischen Presse, gehört seit dem 1. Dezember 2014 wenigstens auch das direkt betroffene Malaysia zum JIT.

Gemessen an diesen Begleitumständen ist der am 13. Oktober 2015 veröffentlichte Abschlussbericht des NSR eine ausgesprochen positive Überraschung. Der NSR bemüht sich augenscheinlich, den Eindruck von Transparenz und seiner Unabhängigkeit von der niederländischen Regierung zu vermitteln. Dazu gehört, dass auch die während der Diskussion des Entwurfs von verschiedenen Seiten angebrachten Änderungsvorschläge, die dafür vorgebrachten Argumente und die entsprechenden Antworten des NSR dokumentiert wurden (Anhang V zur Absturzursache und Anhang W zum Luftraummanagement). Auf die Punkte, in denen augenscheinlich dennoch keine Transparenz gegeben ist, gehe ich weiter unten gesondert ein.

Der Abschlussbericht kommt zu zwei zentralen Schlussfolgerungen, von denen nur die erste in den westlichen Medien diskutiert wurde. Im Teil A zur Absturzursache lautet die Schlussfolgerung, dass MH-17 in etwa 10‘000 Metern Höhe durch den Treffer einer 9M38- oder 9M38M1-Rakete zum Absturz gebracht wurde, die mit einem 9N314M- (kyrillisch: 9H314M) Gefechtskopf ausgerüstet war. Diese Rakete gehört zum Buk-Luftabwehrsystem. Im Teil B zum Luftraummanagement lautet die Schlussfolgerung, dass die Ukraine für die Luftraumsicherheit und eine eventuelle Luftraumsperrung voll verantwortlich war und dass sie nach der eigenen Bekanntgabe von Abschüssen zweier Kampfflugzeuge in 6200 bis 8500 Metern Höhe den Luftraum hätte sperren müssen. Nach der Lektüre des Berichts und eines Teils der Anhänge stimme ich mit diesen zentralen Schlussfolgerungen weitgehend überein. Weiter unten erkläre ich, warum.

Die Details der Untersuchung, der Darstellung der Ergebnisse und der Änderungsvorschläge verschiedener Seiten sind über diese zentralen Schlussfolgerungen hinaus von Interesse, weil sie Licht auf das politische Tauziehen und auf die weiterhin ungeklärte Schuldfrage werfen.

In meiner Diskussion des Abschlussberichts wende ich mich zuerst dem Luftraummanagement zu, bei dem die Argumente klar auf der Hand liegen und Zweifel kaum möglich sind und danach der Absturzursache, bei der es noch einige offene Fragen gibt. Wenn ich mich auf eine Seite im englischsprachigen Bericht beziehe, gebe ich das als B-185 für Seite 185 an. Beziehe ich mich auf eine Seite in einem der Anhänge, so gebe ich das als A-W-6 an, wenn es sich um Seite 6 im Anhang W handelt. An zwei Stellen beziehe ich mich auch auf die Beschreibung der Untersuchung und ihrer Komplikationen, wobei U-61 die Seite 61 in diesem Dokument bezeichnet.

Warum war der Luftraum nicht gesperrt?

Am 14. Juli 2014 gab der ukrainische Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat bekannt, gegen 12 Uhr sei ein Transportflugzeug der „Anti-Terror-Operation“ (ATO) in 6500 Metern Höhe mit einem leistungsfähigen Luftabwehrsystem abgeschossen worden (B-183). Als wahrscheinliche eingesetzte Waffensysteme wurden ein in Russland befindliches System Pantsir (20 km Reichweite, 15 km Gipfelhöhe) oder eine Luft-Luft-Rakete X-24 angegeben. Gegenüber ausländischen Diplomaten sprach Aussenminister Klimkin von einer Flughöhe von 6200 Metern. Beide Systeme können auch die Flughöhen von Verkehrsmaschinen um 10‘000 Meter erreichen. Daraus hat der NSR geschlossen, es sei aufgrund der in der Ukraine vorliegenden Information geboten gewesen, den Luftraum über dem Kampfgebiet für den zivilen Flugverkehr zu schließen.

Stattdessen hat die Ukraine ab dem Abend des 14. Juli die Mindestflughöhe über dem Gebiet nur von FL260 (7900 Meter) auf FL320 (9750 Meter) angehoben. Diese nicht nachvollziehbare Entscheidung wurde während der Untersuchung so begründet, dass diese Anhebung schon vor dem 14. Juli von der zivilen Luftverkehrsbehörde beantragt worden war, um einen größeren Sicherheitsabstand zwischen dem zivilen und militärischen Flugverkehr zu erreichen und nach dem Abschuss am 14. Juli nur beschleunigt in Kraft gesetzt wurde.

Am 17. Juli 2014 um 10:18 Uhr UTC gab das ukrainische Verteidigungsministerium bekannt, dass am 16. Juli eine Su-25 Erdkampfmaschine vermutlich mit einer Luft-Luft-Rakete durch ein Flugzeug der russischen Luftwaffe abgeschossen worden sei, das sich auf einer Grenzpatrouille befand. Als Abschusshöhe wurden am 18. Juni 8250 Meter genannt, auf spätere Nachfragen des NSR aber 6250 Meter. Die Kombination beider Vorfälle hat nach ukrainischen Angaben zu der taktischen Entscheidung geführt, am 17. Juli 2014 keine Militärflugzeuge über dem Kampfgebiet einzusetzen, nicht aber zu einer Sperrung des Luftraums für den zivilen Flugverkehr. Daraus hat der NSR geschlossen, das ukrainische Luftraummanagement habe sich primär an militärischen Interessen orientiert und die Sicherheit des zivilen Luftverkehrs vernachlässigt.

Alle betroffenen Seiten haben eine Streichung oder starke Änderung dieser Passagen und der Schlussfolgerungen verlangt. Russland (A-W-11,15) ging es darum, nicht die Schuld für die Abschüsse am 14. und 16. Juli zugewiesen zu bekommen. Die russische Seite argumentierte, es gäbe keine Beweise für Abschüsse in diese Höhe, vielmehr handele es sich um Desinformation der ukrainischen Seite. Der NSR hielt dagegen, von dieser Information sei die Ukraine aber zum Entscheidungszeitpunkt ausgegangen und daher habe sie den Luftraum schließen müssen.

Die ukrainische Seite argumentierte (A-W-23), man sei nicht für die Aktionen einer ausländischen Macht verantwortlich und habe nicht wissen können, dass diese auch auf zivile Flugzeuge schieße. Dem hielt der NSR entgegen, erstens, dass die Ukraine voll für die Sicherheit ihres Luftraums verantwortlich sei und, zweitens, dass es bereits in der Vergangenheit irrtümliche Abschüsse von zivilen Maschinen gegeben habe, obwohl sich die Einsätze eigentlich gegen Militärmaschinen der Gegenseite gerichtet hätten.

Am Interessantesten jedoch sind die Argumente des Niederländischen Außenministeriums. Einerseits bat das Ministerium (A-W-6) um die Umformulierung eines Satzes, um die Ukraine vor zivilrechtlichen Forderungen zu schützen. Da sich die Struktur des Dokuments zwischen Entwurf und Veröffentlichung geändert hat und dieser Satz nicht mehr genau so formuliert ist, ist die entsprechende Stelle im Bericht nicht auffindbar. Das NSR hat dem Argument aber jedenfalls entgegengehalten, dass mögliche zivilrechtliche Konsequenzen nicht in Erwägung zu ziehen seien, wenn die Schlussfolgerung des NSR aufgrund der Faktenlage gerechtfertigt sei.

Andererseits, und jetzt wird es interessant, argumentiert das Ministerium (A-W-2,3), nach Ermittlungen des niederländischen Militärgeheimdienstes MIVD sei die An-26 gar nicht in dieser Höhe und auch nicht von einem leistungsfähigen Luftabwehrsystem abgeschossen worden. Insofern habe kein Grund bestanden, den Luftraum zu sperren. Bemerkenswerterweise stützt das Ministerium damit die Argumentation Russlands und wirft de facto der Ukraine vor, drei Tage vor dem Abschuss von MH-17 eine Falschmeldung über den Abschuss einer eigenen militärischen Transportmaschine verbreitet zu haben, um Russland zu diskreditieren. Da die niederländische Regierung ein erklärter Verbündeter der Ukraine und ein erklärter Gegner Putins ist, muss dafür ein tieferer Grund vorliegen. Der NSR argumentierte wie im Falle Russlands: Die Ukraine sei am 14. Juli von einem Abschuss in 6500 Metern Höhe mit einem leistungsfähigen System ausgegangen und habe daher auch den Luftraum schließen müssen.

In der Tat wird aber auch die MIVD-Untersuchung dieses Abschusses im Bericht zitiert (B-185,239). Aufgrund von Bildern der Schäden (ein Triebwerk getroffen), der Fallschirmabsprünge von 6 der 8 Besatzungsmitglieder und von Augenzeugenberichten schloss der MIVD, die An-26 sei mit einer schultergestützten Luftabwehrrakete abgeschossen worden und daher in viel geringerer Höhe (maximal 4000 Meter). Der NSR kritisiert die Schlussfolgerung insofern, als der Einsatz einer [kleineren] Luft-Luft-Rakete [als der X-24 und mit einem Infrarotsuchkopf] ebenfalls zu diesem Schadensbild geführt hätte und nicht in Erwägung gezogen worden sei.

Das Beharren des NSR auf einer Verantwortungszuweisung an die Ukraine in diesem Punkt und mit diesen Argumenten gegen alle Seiten fällt auf. Dem NSR muss bewusst sein, dass die ukrainische Regierung sich danach bei einem Schadenersatzprozess in einer Zwickmühle befindet. Entweder gibt sie dann doch zu, dass die Meldungen vom 14. Juli abends und 17. Juli vormittags über die Abschüsse in großer Höhe absichtliche Falschmeldungen waren und deshalb kein Anlass bestand, den Luftraum zu sperren. Oder aber sie wird wegen grober Fahrlässigkeit Entschädigungen an die Hinterbliebenen zahlen müssen. Ich gehe davon aus, dass sich die ukrainische Regierung für die zweite Option entscheidet. Noch vernünftiger wäre es, wenn sie es gar nicht zum Prozess kommen ließe und versuchen würde, sich mit den Hinterbliebenen außergerichtlich zu einigen. Anzeichen einer derartigen Vernunft ließen sich allerdings bei den beiden Jazenjuk-Regierungen bislang nicht beobachten.

Ist der Abschuss durch eine Buk nun nachgewiesen?

Der NSR stellt den Abschuss durch eine Buk als gesicherte Tatsache dar. Russland behauptet, der NSR habe keinen vollständigen Beweis geführt. Beide Seiten haben meiner Ansicht nach Recht. Dieses Paradoxon muss ich wohl erklären.

Die Beweisführung des NSR ist zweigleisig. Einerseits wurde versucht, andere Szenarien auszuschließen. Andererseits wurde versucht, einen Buk-Treffer direkt nachzuweisen. Beide Zweige haben ihre wunden Punkte, aber in der Zusammenschau ist die Aussage wohl so eindeutig, wie man das in einem solchen Fall erwarten darf. Zudem besteht der Verdacht, dass der NSR mehr weiß, als er schreibt oder schreiben darf (U-66), und dass Russland genau deshalb Kritik übt, weil es die fehlende Information veröffentlicht sehen will. Darauf werde ich im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen.

Der NSR hat alle öffentlich diskutierten Szenarien in Erwägung gezogen (B-126-136, Anhang X) und dazu noch so unwahrscheinliche wie einen Treffer durch einen Meteoriten oder durch Weltraumschrott (B-100). Den Beschuss mit einer Bordkanone, den auch ich einmal für möglich hielt, konnte die Untersuchung sicher ausschließen. Dazu gibt es zu viele Einschläge von außen, auch die Größe der Löcher stimmt nicht, wie man sieht, wenn beim Fotografieren ein Maßstab neben der Cockpitwand steht. Der Ausschluss einer Luft-Luft-Rakete ist etwas weniger sicher und gibt Russland Anlass zur Kritik. Hier wurden nur Modelle in Erwägung gezogen, die in der Region üblich sind und dann wurde aufgrund von Formen gefundener schmetterlingsförmiger Metallfragmente geschlossen, dass keines dieser Modelle in Frage käme, weil keines solche vorgeformten Fragmente enthalte. Dem kann man entgegenhalten, dass auch eine andere Luft-Luft-Rakete hätte eingesetzt werden können, was Russland auch tut. Andererseits gibt es aber auch keinen Radarbeweis für ein Flugzeug, das MH-17 hätte mit einer Luft-Luft-Rakete abschießen können. Auf die dubiose Radarinformationslage komme ich weiter unten zu sprechen. Ich halte es aber für sicher, dass Russland über Radarinformation zu dem Ereignis verfügt, schon weil dieser Luftraum wegen der Kampfhandlungen und des Risikos eines (versehentlichen) Eindringens ukrainischer Kampfflugzeuge in den russischen Luftraum überwacht worden sein muss. Hätte Russland Beweise für ein Kampfflugzeug in Schussweite zu MH-17, dann hätte es diese wohl vorgelegt oder wäre in der Konsultation zum Entwurf darauf eingegangen.

Das überzeugendste Argument für einen 9N314M-Gefechtskopf eines Buk-Systems sind vier schmetterlingsförmige Fragmente (Englisch: Bow-tie) von denen drei in den Leichen von Besatzungsmitgliedern gefunden wurden, die sich zum Zeitpunkt des Abschusses im Cockpit befanden und eines in Wrackteilen des Cockpits (B-136). Keine Luft-Luft-Rakete oder andere Boden-Luft-Rakete russischer Bauart benutzt solche vorgeformten Fragmente, ja, nicht einmal andere Buk-Gefechtsköpfe. Dadurch lässt sich auch der Raketentyp eingrenzen. Der Kopf 9N314M kann nur von den Raketen 9M38 und 9M38M1 getragen werden. Desweiteren ist das Schadensbild mit der Explosion eines 9N314M-Gefechtskopfes wenige Meter vom Cockpit nach links oben konsistent und ein solcher Treffer kann die Sequenz des Auseinanderbrechens der Maschine erklären, die aus der Verteilung der Trümmerteile am Boden folgt.

Dem Vernehmen nach waren die russischen Experten bei einem Treffen mit dem NSR ursprünglich auch mit dieser Schlussfolgerung einverstanden. Russland hat dann aber die Beweisführung kritisiert, als der NSR den Entwurf des Berichts vorgelegt hat und die These einer Luft-Luft-Rakete wieder aufgebracht. Um zu sehen warum, müssen wir untersuchen, ob es doch noch Anzeichen einer Vertuschung gibt.

Wird hier etwas vertuscht?

Russland kritisiert insbesondere, dass Ergebnisse der Metallanalyse der Fragmente fehlen, was auch mir übel aufstößt (A-V-4). Tatsächlich wurden die Fragmente analysiert, aber dann wurden die Ergebnisse von 20 ausgewählten Fragmenten (darunter nur zwei der vier charakteristischen schmetterlingsförmigen) zusammengeworfen und mit einer Software (Principal Component Analysis, fragen Sie mich in einem Kommentar, wenn Sie wissen wollen, was das ist) in zwei Gruppen geteilt. Nur die Durchschnittswerte für diese Gruppen werden in Tabelle 12 (B-12) angegeben. So ein Vorgehen ist hochgradig dubios und ich würde es keinem meiner Studenten oder Doktoranden durchgehen lassen.

Es liegt klar auf der Hand, dass die genaue Zusammensetzung der vier schmetterlingsförmigen Fragmente von höchstem Interesse ist. Die Analysen sind weder so schwierig noch so teuer, dass sie nicht hätten angestellt werden können; sehr wahrscheinlich wurde sogar jedes der 72 Fragmente analysiert. Eine Tabelle aller 72 Ergebnisse hätte den Rahmen eines 279-seitigen Berichts mit fast 400 Seiten Anhängen keineswegs gesprengt, noch viel weniger eine der 4 schmetterlingsförmigen Fragmente. Im Entwurf hätte es sich noch um Inkompetenz handeln können. Dass die Ergebnisse aber auch auf Anforderung der russischen Seite im Abschlussbericht nicht gezeigt werden, kann man nur als absichtliches Zurückhalten relevanter Information bewerten.

Interessant ist deshalb das Argument des NSR für die Nichtveröffentlichung der Daten (A-V-4). Die Information sei eben doch nicht relevant, lesen wir dort, denn die Fragmente würden aus nichtlegiertem Stahl hergestellt, der aus unterschiedlichen Chargen und verschiedenen Quellen von verschiedenen Orten stammen würden und dessen Zusammensetzung deshalb mit der Zeit variieren würde. Genau das ist der Punkt. So, wie ich den russischen militärisch-industriellen Komplex kenne, hat der Hersteller des Systems, Almaz-Antey, die Analyseergebnisse für all diese Chargen fein säuberlich geordnet in seinen Aktenschränken. Mit dem Analyseergebnis der in MH-17-Opfern gefundenen Fragmente liesse sich der Herstellungszeitraum des Gefechtskopfes eingrenzen und es liesse sich zurückverfolgen, wohin die Köpfe in diesem Zeitraum geliefert wurden. Zumindest bei denjenigen in Russland liesse sich auch feststellen, ob und wann sie ausgemustert wurden. Wenn es eine 9M38-Rakete war, der Herstellungszeitraum also vor 1983 lag, sind sie in Russland alle ausgemustert. Hier liegt eine mögliche Spur in die Ukraine und damit ein möglicher Vertuschungsgrund vor.

Ich habe noch zwei weitere Probleme mit diesem Abschnitt, die nicht einmal Russland aufgebracht hat. Zumindest beim ersten Punkt liegt das wohl daran, dass es die entsprechende Passage im Entwurf noch nicht geben konnte. In einem Treffen im August 2015 wurden den Partnern der Untersuchung, darunter auch russischen Vertretern, Trümmerteile der Rakete gezeigt. „Um die strafrechtliche Untersuchung nicht zu erschweren, hat sich das NSR entschlossen, nicht die Bilder all dieser Teile zu veröffentlichen.“ (B-80/81). Die Logik dieser Bemerkung ist nicht nachvollziehbar. Die Schuldigen wissen ja wohl, was für eine Rakete sie abgeschossen haben und wenn sie nun erfahren, welche Teile davon in welchem Zustand gefunden worden sind, hilft es ihnen auch nicht. Auch eine Beeinflussung möglicher Zeugen durch die Veröffentlichung dieser Bilder kann ich nicht erkennen.

Irgendetwas stimmt auch hier nicht. Entweder kann durch diese Bilder die Rakete auf einen Besitzer zurückgeführt werden, auf den sie nicht zurückgeführt werden soll. Oder aber die Bilder stehen in Widerspruch zu anderer Evidenz, würden also eine absichtlich gelegte Spur (Fälschung von Beweismitteln) nahe legen, wie der Raketenhersteller Almaz-Antey angedeutet hat. Natürlich könnte es noch andere Möglichkeiten geben, warum die Öffentlichkeit diese Information nicht sehen darf. Mir fällt nur derzeit keine ein, die zugleich plausibel und lauter ist.

Schließlich hat der NSR noch die Farbschichten auf den Raketenteilen untersuchen lassen (B-94). Für die Untersuchung wurde neben einer visuellen Inspektion die beste verfügbare Methode, die Fourier-Transformations-Infrarot-Spektroskopie herangezogen (B-94). Der NSR behauptet, die Zahl, Farbe und chemische Zusammensetzung der Farbschichten sei in den Raketenteilen, die neben der Maschine gefunden wurden und in den Fragmenten, die aus Wrackteilen extrahiert wurden, gleich. Wichtig ist das deshalb, weil es belegen würde, dass die neben der Maschine gefundenen Teile nicht als falsche Spur gelegt wurden.

Belege für diese Behauptung des NSR fehlen allerdings, sowohl im Bericht als auch in den Anhängen. Auch hier liegt eine mögliche Spur zu den Schuldigen. Nur die originale Farbschicht stammt vom Hersteller. Farbschichten aus Sowjetzeiten und kurz danach sind in Russland und der Ukraine sicherlich gleich, aber seitdem müssen diese doch recht alten Raketen mehrfach neu gestrichen worden sein. In den letzten Jahren wurde dabei mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit in Russland und der Ukraine verschiedene Farbe benutzt. Mit diesen zurückgehaltenen Daten ließe sich also vermutlich sehr schnell bestimmen, ob die Rakete aus dem Bestand der ukrainischen oder der russischen Streitkräfte stammte.

Die fehlende Radarinformation

Die Tabelle 8 (B-38) macht einen niederschmetternden Eindruck. Der NSR hat nur ein Minimum an Radardaten erhalten. Russland hat aus der Station in Rostow-am-Don nur die Videoaufzeichnung des Radarschirms geliefert. Die Originaldaten seien nicht gespeichert worden, was ich in diesem Falle für unwahrscheinlich halte, es sei denn, sie werden nie gespeichert. In Dnjepropetrowsk in der Ukraine funktionierte wegen einer planmäßigen Instandsetzung das zivile Primärradar nicht, in der Tat angeblich in der ganzen Region nicht. Dnjepropetrowsk hatte daher nur das Sekundärradar zur Verfügung, das mit Signalen arbeitet, die von den Verkehrsmaschinen selbst ausgesandt werden. Eine Militärmaschine mit ausgeschaltetem Transponder (oder ein Verkehrsflugzeug mit ausgefallenem Transponder) hätte Dnjepropetrowsk gar nicht auf dem Radarschirm gesehen. Entsprechend verschwand dort das Radarsignal von MH-17 exakt zum Zeitpunkt des Raketentreffers.

Das Ukrainische Verteidigungsministerium gab an, dass die militärischen primären Radarstationen in diesem Gebiet auch nicht angeschaltet gewesen seien, weil in diesem Sektor keine ukrainischen Militärmaschinen unterwegs gewesen seien (B-38). Dem entsprechenden Satz sieht man an, dass der NSR diese Aussage nicht glaubt. Das fiele auch schwer. In den Wochen zuvor hatte die Ukraine wiederholt behauptet, russische Kampfflugzeuge hätten den ukrainischen Luftraum verletzt. Die Ukraine hatte behauptet, am 14. und 16. Juli zwei Flugzeuge verloren zu haben, in beiden Fällen wurde Beschuss durch russische Systeme angenommen. In diesem Gebiet lief eine Militäroperation. Schon in Friedenszeiten überwacht das Militär jedes entwickelten Landes ununterbrochen jeden Winkel seines Luftraums. Wenn die ukrainischen Militärradarstationen am 17. Juli 2014 wirklich abgeschaltet waren, muss es dafür einen sehr ungewöhnlichen Grund gegeben haben. Wenn nicht, muss man annehmen, dass in den entsprechenden Daten Dinge zu sehen sind, welche die Ukraine in einen Erklärungsnotstand bringen würden.

Ob das russische Militär überhaupt nach Radardaten gefragt wurde, geht aus dem Bericht nicht explizit hervor. Man muss das wohl dahingehend interpretieren, dass es eine solche Anfrage gar nicht gab.

Aus dem Bericht über die Untersuchung selbst geht hervor, dass die russische Seite sofort einer Herausgabe der zivilen Radardaten zustimmte, nicht aber die ukrainische (U-61). Es waren diplomatische Kontakte auf hoher Ebene erforderlich, damit der NSR diese Daten erhielt. Die NATO hat sich geweigert, ihre Daten aus der Beobachtung des Konfliktgebiets herauszugeben (U-62).

Aus der Videoaufzeichnung aus Rostow-am-Don in Russland geht allerdings hervor, dass im beobachteten Bereich (bis 30-60 km südlich der Abschussposition, bis 90 km nördlich und bis 200 km westlich) kein weiteres unidentifiziertes Flugzeug zu sehen war (B-39-40). Rostow-am-Don hätte ein Kampfflugzeug ohne Transponder gesehen, weil das Primärradar dort funktionierte, eine Buk-Rakete aber möglicherweise nicht. Wenn überhaupt, wäre das Primärsignal der Buk-Rakete wohl nur in den Originaldaten zu finden gewesen, die nicht zur Verfügung standen. Trotz der dürftigen Datenlage kann man aber wohl doch einen Abschuss durch eine Luft-Luft-Rakete ausschliessen. Keine Militärmaschine war dafür nahe genug an MH-17.

Von wo aus wurde die Rakete abgeschossen?

Dieser Teil des Berichts (B-137-147) ist für die Öffentlichkeit wohl der interessanteste, weil er die Schuldfrage berührt. Unter der Annahme, dass ein von einer 9M38- oder 9M38M1-Rakete getragener Gefechtskopf 9N314M die Schäden verursacht hat, haben zwei niederländische Institute (TNO und NLR), das Kyiv Research Institute for Forensic Evidence und der Hersteller Almaz-Antey bestimmt, wo der Gefechtskopf explodiert ist. Die Übereinstimmung der Ergebnisse in Tabelle 20 (B-142) ist fast atemberaubend. Allerdings muss man sagen, dass TNO zunächst eine andere Position berechnet hatte und diese dann aufgrund zusätzlicher Daten von Almaz-Antey zum Gefechtskopf korrigiert hatte. Dennoch darf man wohl sagen, dass der Detonationspunkt mit einer für ein solches Problem geringen Unsicherheit bestimmt wurde und das dieses Ergebnis vertrauenswürdig ist.

Aufgrund des Detonationspunkts wurde dann eine Anfluganalyse angestellt, mit der man den Startpunkt der Rakete viel genauer einschränken konnte, als nur auf den Reichweitenumkreis um den Abschusspunkt. Liest man zunächst nur den Bericht, und das habe ich getan, so macht Abbildung 65 (B-146) den gleichen vertrauenerweckenden Eindruck wie Tabelle 20. Bis auf die Unsicherheit in der Bestimmung des Startpunktes scheinen die Rechnungen des NLR, aus Kiew und von Almaz-Antey ausgesprochen gut übereinzustimmen. Nun sind Unsicherheiten, in diesem Fall die Größe des Gebiets, viel schwerer zu bestimmen als Mittelwerte, so dass die stark verschiedene Größe der Gebiete nur ein kleiner Schönheitsfehler ist. Die angebliche Genauigkeit der Kiewer Rechnung erscheint bei dem gestellten Problem zwar absurd, während das NLR wohl einen eher inkompetenten Richtschützen angenommen hat, aber insgesamt ist die Übereinstimmung unabhängiger Analysen auch hier überraschend gut.

Es ist nur so, dass die Ergebnisse von Almaz-Antey verfälscht dargestellt werden und dass nicht ganz sicher ist, ob die anderen Analysen unabhängig waren. Der Bericht sagt, sie seien mit den Materialien, die Almaz-Antey zur Verfügung gestellt habe, „validiert“ worden, was immer das in diesem Zusammenhang heißen mag. Bei der Darstellung der Ergebnisse von Almaz-Antey (Abbildung 64, B-46) fällt schon im Bericht die völlig unzureichende Bildunterschrift ins Auge. Mir ist bewusst, dass ein so langes Schriftstück nie perfekt ist. Aber dass in einem Dokument von solcher Tragweite an einem Punkt von solcher Tragweite eine Bildunterschrift auftaucht, aus der man nicht erfährt, was eigentlich was ist, bestürzt mich. Almaz-Antey zeigt zwei wahrscheinlichste Punkte und um beide Punkte herum je zwei Gebiete unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit. Das ist die beste Analyse von allen dreien. So muss man das machen. Wir erfahren aber weder, was das rote und was das blaue Gebiet ist, noch was die Wahrscheinlichkeitsgebiete bedeuten. Aus dem Text erfährt man, dass eine Simulation für eine 9M38-Rakete und die andere für eine 9M38M1-Rakete durchgeführt wurde. Man kann erraten, aber nicht sicher sein, dass erstere dem roten und letztere dem blauen Gebiet entspricht.

Der eigentliche Skandal ist aber etwas Anderes. Die ursprünglichen Daten des NLR und aus Kiew basierten auf einem angenommenen Begegnungswinkel zwischen Rakete und Flugzeug, der aus Vermutungen über die Funktion des Gefechtskopfes herrührte. Aufgrund dieses ursprünglich vom NLR angenommenen und an die Partner weitergegebenen Begegnungswinkels hatte auch Almaz-Antey seine erste Anfluganalyse gemacht, die im Bericht dargestellt ist. Berücksichtigt man allerdings, dass der Gefechtskopf einen Verzögerungszünder hat, so ergibt sich aus dem Detonationspunkt ein anderer Begegnungswinkel. In dem ursprünglich angenommenen Winkel hätte der Kopf durch die Verzögerung etwa 3-5 Meter weiter in Richtung Flugzeugende detonieren müssen (A-V-14). Der korrigierte Begegnungswinkel führt dann in der Anfluganalyse zu einem anderen Startgebiet (A-V-15). Ausschließlich Almaz-Antey hat seine Anfluganalyse tatsächlich auf der Basis dieser Information wiederholt. Diese aktualisierte Analyse wird, man kann es wirklich nicht anders sagen, im Abschlussbericht unterschlagen.

Das erklärt, warum die Firma Almaz-Antey , die ursprünglich vorbildlich mit der Untersuchung kooperiert hatte, am 13. Oktober eine separate Pressekonferenz durchgeführt hat. Klar ist auch, warum die neue Anfluganalyse nicht ins Konzept passt. Sie deutet auf ein Gebiet nahe Zaroshchenskoye (A-V-16), wo nach einem russischen Satellitenbild vom 17. Juli, 11:32 Uhr Ortszeit zwei Abschussrampen einer ukrainischen Buk-Batterie und ein Schützenpanzer disloziert waren. Der Abschusszeitpunkt war 16:02 Uhr Ortszeit. Die USA verfügen über Satellitenbilder besserer Qualität, was Russland auch bewusst ist, weigern sich aber, diese zu veröffentlichen.

Russland hat versucht, die Aufnahme der eigenen Satellitenbilder in den Bericht zu erreichen (A-V-6). Daraus und aus der Aufforderung an die USA, deren eigene Bilder zu veröffentlichen, kann man sicher schließen, dass die russischen Bilder authentisch sind. Der NSR bezweifelt in seiner Antwort auch nicht diese Authentizität. Den Kommentar zu diesem Änderungsvorschlag lohnt es, aus dem Englischen zu übersetzen: „Der Bericht befasst sich nicht mit der Anwesenheit und Verfügbarkeit von Waffensystemen im fraglichen Gebiet; er versucht nur, die Absturzursache zu ermitteln. Die Frage, welche Seite im Besitz welchen Waffensystems war und der Ort des Raketenstarts sind Gegenstand der strafrechtlichen Untersuchung.“ (Hervorhebung von mir). Das ist ein möglicher Standpunkt. Nur steht er im Widerspruch zur Veröffentlichung des gesamten Abschnitts 3.8.6 des Berichts, denn der befasst sich gerade mit der Bestimmung des Orts des Raketenstarts und das in einer inadäquaten Art und Weise. Immerhin enthält er den Satz (B-147), dass weitere forensische Untersuchungen zu diesem Punkt nötig sind. Wie wir gleich sehen, hat der Vorsitzende der NSR-Untersuchung sich in einem Fernseh-Interview in einer Weise geäußert, die dieser Schlussfolgerung des von ihm selbst unterschriebenen Berichts widerspricht.

Und ein Bonbon zum Schluss

Bezüglich des Abschussortes sagte Tjibbe Joustra, der Vorsitzende des NSR, in einem Fernsehinterview am 13. Oktober, so als ob dieser sicher bestimmt worden wäre: "It is an area where borders were shifting. But it is an area where pro-Russian rebels had control." (Er befindet sich in einem Gebiet, in dem sich die Grenzen verschoben. Aber er befindet sich in einem Gebiet, in dem die pro-russischen Rebellen die Kontrolle hatten). Diese beiden Sätze präsentierten uns auch ARD und ZDF, ohne dass ein Journalist zu bemerken schien, dass sie einander widersprechen. Entweder, oder. Die Grenzen verschoben sich oder das Gebiet war unter Kontrolle einer Seite. Beides geht nicht zusammen.

Der Deutschen Presse-Agentur (dpa) ist das mittlerweile aufgefallen oder sie wurde darauf hingewiesen. Wenn man die Meldung derzeit googelt (area shifting control MH17, 17. Oktober, 21:55 Uhr MESZ, Screenshot), findet man im Google-Anriss noch den ersten Satz von Joustra, und der oben verlinkte Artikel gibt diese ursprüngliche dpa-Meldung wieder. In der jetzigen Version der Meldung fehlt er bereits. Dort heißt es nun: „The board's head, Tjibbe Joustra, said the missile came from an area under the control of pro-Russian rebels.” (Der Chef des Rats, Tjibbe Joustra, sagte die Rakete kam aus einem Gebiet unter der Kontrolle der pro-russischen Rebellen). Auch die Information in der usrprünglichen dpa-Meldung, dass diese Bemerkung im Widerspruch zur Darstellung während der Präsentation des Abschlussberichts stand, ist entfernt worden.

Willkommen in der Welt von George Orwell!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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