Wie gefährlich ist Covid-19?

Corona-Krise Die Pandemie ist nicht vorüber, aber es gibt keinen Anlass mehr, das Handeln an fiktiven Horrorszenarien auszurichten.

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Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen. - Epiktet

Die WHO, ihre Propaganda und der wahre Kern

Die Weltgesundheitsorganisation hat am Freitag mit einem Unterton der Verzweiflung bekanntgegeben, dass die Zahl der weltweit täglich laborbestätigten Covid-19-Infektionen so hoch sei wie noch nie. Das stimmt. Es ist aber eine irreführende Aussage, wie ich unten zeigen werde.

Die WHO hat laut Schweizer Radio DRS auch verlautbart, dass die zweithöchste Zahl täglich gemeldeter Todesfälle aufgetreten sei. Dieser Punkt ist in der linken Grafik in Abbildung 1 mit einem Pfeil bezeichnet. Der Kurvenverlauf und das gleitende 7-Tages-Mittel in der gleichen Grafik legen nahe, dass es sich um einen statistischen Ausreißer handelt. Wir bewegen uns gegenwärtig bei etwa 83% der täglichen Todesfälle am bisherigen Höhepunkt (Tag 110, 19. April).

Mir stellt sich die Frage, warum die WHO nicht sachlich informieren kann oder will. Die eigentliche Aussage, die den WHO-Vertretern wichtig war, ließe sich ja auch ohne verzerrte Darstellung machen. Tatsächlich steigt weltweit seit Anfang Juni die Zahl der Todesfälle wieder. Die Pandemie ist nicht vorbei. Warum betreibt man darüber hinaus gehende Propaganda?

Ich fürchte, dass die Vertreter der WHO sowie Vertreter von Gesundheitsbehörden gar nicht anders können, als die Dinge zu „framen“. Sie denken, sie würden den Tatsachen damit einen Rahmen zu geben, der beim Adressaten zur gewünschte Interpretation führt. Solches „Framing“ von Nachrichten ist ein postmodernes Konzept. Im Englischen bedeutet „to frame somebody“ aber auch, jemanden hereinzulegen. Meistens fällt beides zusammen. Hier ist das nicht anders.

Die rechte Grafik in Abbildung 1 zeigt, warum die hohen Zahlen laborbestätigter Neuinfektionen nicht mit den Zahlen aus der Anfangsphase mit dem Höhepunkt der Epidemie in Europa vergleichbar sind. Damals sind im weltweiten Mittel um die 20% der positiv getesteten Menschen verstorben. Jetzt sind es 2,6 bis 2,7% (schwarze Kurve). In Ländern, in denen die Epidemiewelle vorüber ist, nähert sich dieser Anteil dem Bereich von 0,05% bis 1% (blassgrün), den John Ioannidis bereits am 17. März für die USA abgeschätzt hatte, wie die rote Kurve für Deutschland zeigt. Allerdings hatte sich dessen Abschätzung auf die Gesamtzahl der Infektionen bezogen. Das legt nahe, dass die Testabdeckung der tatsächlichen Infektionen in entwickelten Länder bereits sehr gut ist und im weltweiten Durchschnitt mindestens gut.

Wie groß ist die Letalität von Covid-19-Infektionen?

Wir überprüfen jetzt die Abschätzung von Ioannidis detaillierter. Einen zweiten Vergleichspunkt liefert das Ergebnis der Heinsberg-Studie einer Gruppe um Hendrik Streeck. Diese hatte eine Letalität von 0,36% bezogen auf Infektionen ermittelt, etwas unterhalb der Mitte des von Ioannidis für die USA abgeschätzten Bereichs. Vor dem Vergleich sollte ich noch erklären, wie die Letalitätskurven und die entsprechenden Unsicherheitsbänder zustande kommen. Sowohl für die gemeldeten positiven Tests als auch die Todesfälle habe ich gleitende 7-Tages-Mittel berechnet, um die Streuung zu verringern und den Wochenendeffekt (weniger Tests) zu kompensieren. Dann habe ich die mittleren Todesfälle durch die mittleren Zahlen positiver Tests dividiert und mit einhundert multipliziert. Dabei musste ich noch berücksichtigen, dass die Todesfälle verzögert eintreten. Frühere Auswertungen haben eine mittlere Verzögerung von 10 Tagen nahegelegt. Da die Verzögerung aber zwischen Ländern variiert, habe ich einen Bereich zwischen 6 und 14 Tagen angenommen, aus dem die Fehlerbänder resultieren.

Wir betrachten typische Kurvenverläufe. Dabei beginnen wir erst am 1. Mai, weil zuvor die Testabdeckung schlecht war und in einigen Ländern wohl auch grassierende Krankenhausinfektionen zu hohen Letalitäten geführt haben. Die Letalitäten je positivem Test waren vor dem 1. Mai in vielen Ländern sehr hoch und streuten sehr stark. Nach der Anpassung des Krankenhausbetriebs gab es bisher nur noch moderate Therapiefortschritte bei Covid-19. Wir erwarten daher, dass die Letalität bezogen auf Infektionen mit der Zeit nur leicht abfällt. Dieser Erwartung entspricht in einer Reihe von Ländern auch die Letalität bezogen auf die Zahl positiver SARS-Cov2-Tests. In Abbildung 2 ist das links oben für Mexiko gezeigt. Dieser Kurventyp ist auch in Italien, Großbritannien, Moldawien und mit etwas stärkerem Abfall in Kanada zu beobachten. Er ist aber insgesamt eher selten.

Der häufigste Kurventyp, der auch das weltweite Mittel dominiert, ist in Abbildung 2 rechts oben an den Niederlanden illustriert. Die Letalität je positivem Tests sinkt seit Mitte Mai oder Anfang Juni drastisch. Das ist nur durch eine massive Ausweitung der Testzahlen zu erklären, also durch einen höheren Grad der Erfassung tatsächlicher Infektionen. In den Niederlanden und einer ganzen Reihe anderer westlicher Länder hat die Letalität mittlerweile das Vorhersageband aus dem berühmten Ioannidis-Artikel vom 17. März (0,05-1%) für die Letalität je Infektion in den USA erreicht. Besonders ausgeprägt ist dieser Kurventyp in Luxemburg, Österreich, der Schweiz, Mauretanien, Nigeria, Puerto Rico, Frankreich, Deutschland, Belgien, Schweden, den USA und Brasilien. In Frankreich und Deutschland fluktuieren die Werte in letzter Zeit etwas oberhalb von 1%. In Frankreich und Belgien nähern sie sich 1% von oben stark an. In Schweden gab es nach dem Abfall auf 1% eine Wiederanstieg auf knapp 3% verbunden mit einer deutlichen Abnahme der Zahl positiver Tests. In den USA und Brasilien gab es den Abfall, er sättigte aber bei 1,5% (USA) bzw. 3% (Brasilien).

Eine leicht abgewandelte Version dieses Kurventyps beobachtet man vor allem in kleinen Golfstaaten. In Abbildung 2 (links unten) ist er an Kuweit illustriert. Seit kann zwei Monaten bewegt sich die Letalität bezogen auf positive Tests im Ioannidis-Band für Infektionen und sie strebt das Ergebnis der Heinsberg-Studie (0,36%) an. Noch ausgeprägter ist das bei noch niedrigeren Niveau im Bahrein und in Katar, ähnlich in Oman, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Tadschikistan, Usbekistan und Nepal, seit Ende Mai auch in Israel. Auf etwas erhöhtem Niveau ist das Verhalten in Ghana, Marokko, Guinea und Bangladesch zu beobachten. Nimmt man an, dass dies Länder die meisten Infektionen erfassen, so verhält sich Covid-19 dort wie eine etwas stärkere Grippe. Wenn es dort noch eine deutliche Dunkelziffer nicht erkannter Infektionen gibt, so verhält sich Covid-19 dort wie eine übliche Grippe.

Der überraschendste Verlauf zeigt sich in Singapur (rechts unten in Abbildung 2), aber auch nur dort. Das Niveau der Heinsberg-Studie ist hier seit Anfang Mai nicht einmal mehr im Blickfeld. Die Werte streifen das Ioannidis-Band an dessen unterem Ende, liegen aber zumeist sogar darunter. Statistisch gesehen sind sie valide. Die Zahl positiver Tests bewegt sich in den letzten Wochen zwischen 200 und 250 pro Tag bei einer Bevölkerung von 5,6 Millionen. Das sind 4,4 positive Tests je 100‘000 Einwohner täglich. Die Schweiz liegt bei 1,76, Deutschland bei 0,97.

Es gibt nur zwei mögliche Interpretationen des Ergebnisses für Singapur. Entweder wird dort ein hoher Anteil falsch positiver Tests gemeldet oder Covid-19 ist mit einem gut funktionierenden Gesundheitssystem, einer gut organisierten Gesellschaft und bei objektiver Betrachtung weniger letal als eine übliche Grippe.

Persönlich halte ich die erste Erklärung im Fall von Singapur für wenig wahrscheinlich. Im aktuellen Korruptionsindex von Transparency International belegt Singapur den 3. Platz. Das Land hat hervorragende Institutionen und ist für eine strenge Ordnung bekannt. Der einzige Vorwurf, den westliche Politiker und Journalisten vor der Corona-Krise an Singapur richteten, war, dass die dortige Regierung zu autoritär mit der Bevölkerung umgehen würde. Ich denke nicht, dass sie jetzt noch in einer Position sind, solche Vorwürfe zu wiederholen. Nach dem Oxford Stringency Index hat Singapur auf Covid-19 sehr ähnlich reagiert wie etwa Deutschland, wegen seiner Historie aber unter einem geringeren Rechtfertigungsdruck gegenüber der eigenen Bevölkerung.

Wahrscheinlicher ist, dass Singapur eine besonders hohe Testabdeckung der tatsächlichen Infektionen erreicht und ein gut organisiertes Gesundheitssystem hat. In Singapur macht Covid-19 deutlich unter 10% der durch Infektionen der unteren Atemwege erwarteten Todesfälle aus, wenn man mit einer weltweiten Studie von 2016 vergleicht. Was in Singapur zu beobachten ist, rechtfertigt wohl kaum die komplette Umgestaltung der Gesellschaft und unserer Arbeits- und Ausbildungpraxis, die gegenwärtig stattfindet.

Noch nie dagewesen?

Ein Vergleich mit den 2016 für 195 Länder erfassten Mortalitäten durch Infektionen der unteren Atemwege wirft Licht auf die Frage, wie einzigartig Covid-19 nun eigentlich ist. Ich erkläre meine Vorgehensweise dabei am Beispiel der Schweiz (Abbildung 3). Im Jahr 2016 wurden in der Schweiz 1805 Todesfälle durch Infektion der unteren Atemwege gezählt. Das sind im Jahresmittel knapp 5 Todesfälle täglich. Diese sind in der linken Grafik in Abbildung 3 als blaue gepunktete Linie gezeigt. Bald nach Beginn der Covid-19-Welle lagen die täglich gemeldete Zahl von Todesfällen (graue Punkte und das gleitende Wochenmittel oberhalb dieser Erwartung. Seit dem 27. Mai ist das für das gleitende Wochenmittel nicht mehr der Fall und für einzelne Tage nur noch sehr selten.

Betrachtet man die Fälle freilich kumulativ (mittlere Grafik in Abbildung 3), so sieht man, dass es seit Beginn der Epidemie deutlich mehr Todesfälle gab als erwartet. Man kann nun die Zahl der Covid-19 zugeordneten Todesfälle (graue Punkte) durch diejenige der im gleichen Zeitraum durch Atemwegsinfektionen erwarteten Todesfälle (blaue Linie) teilen. Das Ergebnis ist als rote Kurve in der rechten Grafik in Abbildung 3 gezeigt. Zum Vergleich habe ich eine analoge Analyse für die Grippewelle 2018 in Deutschland unternommen (blaue Kurve). Dafür habe ich auf die Sterbedaten des deutschen Statistischen Bundesamts zurückgegriffen, von diesen die saisonale schwankende Basissterberate auf Basis der Zahlen von 2016 abgezogen und einen verbleibenden leichten Abwärtstrend über das Jahr 2018 korrigiert, ähnlich wie in einem früheren Blogbeitrag beschrieben. Ich habe dann den Beginn der Welle identifiziert, was aus Übersterblichkeitsdaten schwieriger ist, weil diese in Abwesenheit einer Epidemie um Null schwanken. Der genaue angenommene Startzeitpunkt macht aber wenig aus, zumal die Unsicherheit nur etwa 3 Tage beträgt. Außerdem muss ich in diesem Fall ein Epidemieende deklarieren, sobald es einen Datenpunkt deutlich unter Null gibt. Tatsächlich beobachtet man für Deutschland eine leichte Untersterblichkeit zwischen der Grippewelle und der Hitzewelle Ende Juli 2018, was plausibel ist, wenn man genauer darüber nachdenkt. Eine solche Untersterblichkeit nach einer Epidemiewelle kann aber in der Zahl der per SARS-Cov2-Test zugeordneten Todesfälle nicht sichtbar sein. Ich habe daher für Deutschland 2018 angenommen, dass es nach Tag 75 der Epidemiewelle keine weiteren Todesfälle durch diese Grippeinfektion mehr gab. Das unterschätzt das Verhältnis der Grippetodesfälle zu den durch Atemwegsinfektionen erwarteten Fällen im extrapolierten Teil (gepunktete blaue Linie) etwas, aber sicher nicht stark.

Sicher ist in jedem Fall die Schlussfolgerung, dass die Grippewelle 2018 in Deutschland ernster war als die Covid-19-Welle 2020 in der Schweiz. Bezüglich Covid-19 trifft das weltweit auf die meisten Länder zu, aber nicht auf alle, wie wir weiter unten sehen werden. Relevant ist das deshalb, weil die Grippewelle 2018 in Deutschland wenig Aufsehen erregt hat und ganz sicher zu keinerlei Einschränkungen des öffentlichen Lebens und keiner Änderung der gesellschaftlichen Praxis geführt hat.

Mit dieser Analyse können wir herausfinden, welche Länder am stärksten von Covid-19 betroffen sind, wie ich im Nachtrag eines früheren Blogbeitrags erklärt habe. Gegenwärtig ist das Italien, sowohl was das maximale Verhältnis (16,35; 10,3 für Deutschland 2018) als auch, was das gegenwärtige Verhältnis (9,05; 3,7 für Deutschland 2018 nach einem gleich langen Zeitraum) betrifft. Es gibt bisher nur drei Länder, die an ihrem Covid19-Maximum stärker betroffen waren als Deutschland an seinem Grippe-Maximum 2018 (zusätzlich Spanien 14,9 und Belgien 11,2).

Betrachtet man den heutigen Stand und jeweils einen gleich langen Zeitraum nach dem Epidemiebeginn wie in Deutschland 2018, so folgen auf das von Covid-19 2,4fach so stark betroffene Italien Nordmazedonien (Faktor 1,9), Spanien und Katar (1,8), Mexiko (1,5), Belgien und Schweden (1,2), Armenien, Chile und Iran (1,1) und Panama (1,0). Dass Katar zu dieser Gruppe gehört, liegt an einer 2016 sehr geringen Zahl von Todesfällen durch Atemwegsinfektionen. Umgekehrt gehört Großbritannien nicht dazu, weil dort diese Zahl auch in normalen Jahren hoch ist. Alle anderen Länder sind bisher weniger stark betroffen als Deutschland von der Grippe 2018. Bei den USA und vermutlich bei Brasilien und einigen weiteren lateinamerikanischen Ländern wird sich das noch ändern. Bei einigen der aufgeführten Länder wird sich das Verhältnis noch erhöhen. Dennoch kann man bereits sagen, dass Covid-19 im Vergleich zu wenig beachteten Grippewellen der letzten Jahre aus der Perspektive eines einzelnen Landes keine neue Qualität darstellt.

Diese Beobachtungen sind in Abbildung 4 illustriert. Selbst im am schwersten betroffenen Italien kann man nicht davon reden, dass die um einen großen Faktor schwerer verlaufen ist als die deutsche Grippeepidemie 2018. Ägypten ist deshalb interessant, weil es vor zwei Wochen von der WHO als Beleg dafür angeführt wurde, dass Covid-19 noch sehr ernst sei. Dort gibt es im bisherigen Verlauf weniger Covid-19 zugeordnete Sterbefälle als im Mittel Sterbefälle durch Infektionen der unteren Atemwege zu erwarten waren. In den USA ist in etwa eine Schwere von Covid-19 zu erwarten, wie sie 2018 in Deutschland bei der Grippewelle zu beobachten war. Brasilien könnte diese überschreiten. Die Zunahme der Sterbefälle ist dort allerdings derzeit nur noch sehr gering.

Der Fall der USA verdient noch besondere Betrachtung. Vor zwei Wochen hatte ich auf den auffällig starken Anstieg der Zahl positiver SARS-Cov2-Tests ohne Anstieg der Sterbefallzahlen hingewiesen. Inzwischen gibt es einen Anstieg der Zahl der Todesfälle etwa in gleichem Maße wie der Testzahlen, dafür flacht nun der Anstieg der Zahl positiver Tests ab. Gibt es also doch eine zweite Welle in den USA, die allerdings bisher in der Zahl der Todesfälle deutlich geringer ausfällt? Das scheint eine Frage der Betrachtung zu sein. Man könnte auch zu der Ansicht gelangen, dass die erste Welle in den Nordstaaten dem Muster Europas und Kanadas folgte und die erste Welle in den Südstaaten demjenigen in Mexiko. Ich bin ein erklärter Gegner von Grenzschließungen. Wer allerdings in den letzten zehn Jahren mal in den Südstaaten der USA war, wird die Assoziation mit dem Infektionsgeschehen in Mexiko kaum abwegig finden.

Ein erstaunlicher Befund und seine Interpretation

Den Beweis, dass die ägyptische Kurve typischer ist als die italienische bin ich bisher schuldig geblieben. Wir benötigen dazu eine mittlere Kurve für die gesamte Welt. Dazu verwenden wir die kumulative Sterbekurve für die ganze Welt analog zu der mittleren Grafik in Abbildung 3. Bei der Bezugsgröße müssen wir etwas vorsichtiger sein. Wir dürfen mit dem Aufaddieren der mittleren erwarteten Sterbefälle durch Atemwegsinfektionen bei jedem Land erst beginnen, wenn dort der erste Covid-19 zugeordnete Todesfall auftritt. Würden wir für alle Länder bereits an dem Tag beginnen, als der erste Todesfall in China gemeldet wurde, so würden wir am Ende ein geringeres Verhältnis erhalten, das meine bisherige Diskussion besser stützen würde. Es wäre aber irreführend – und ich bin ja kein WHO-Funktionär.

Der Befund ist dennoch erstaunlich genug, wie Abbildung 5 zeigt. Seit etwa dem 1. Mai schwankt das Verhältnis zwischen den Covid-19 zugeordneten Todesfällen und seit dem jeweiligen Epidemiebeginn erwarteten Todesfällen durch Infektionen der unteren Atemwege nur noch leicht um 0,741. Auf den ersten Blick erscheint das erstaunlich, denn wie wir in der linken Grafik von Abbildung 1 gesehen haben, steigt die Zahl der täglich verzeichneten Sterbefälle seit Anfang Juni wieder an. Das geschieht aber zum Teil in Ländern wie Ägypten oder Indien, in denen das Verhältnis zu den durch Atemwegsinfektionen erwarteten Sterbefällen dennoch weit unter 1 bleibt.

Mir ist in der Vergangenheit vorgeworfen worden, ja doch nur reine Empirie zu betreiben, die nicht zu einem Verständnis der Zusammenhänge führe. Tatsächlich kann man durch eine empirische Untersuchung der Daten nur belegen, dass das öffentlich akzeptierten Narrativ zu Covid-19 falsch ist, man kann nicht erklären, was zu dem beobachteten Verhalten führt. Dennoch erscheint es mir bereits nützlich, Irrtümer als solche zu erkennen. Das ist sicher nötig, wenn man je zu einem Verständnis gelangen will.

Heute will ich darüber hinaus eine mögliche Interpretation anbieten. Diese ist natürlich spekulativ, weil mir nicht mehr zuverlässige Daten zur Verfügung stehen, als ich bereits in der Auswertung verwendet habe. Ich kann eine Hypothese also nicht überprüfen. Ich kann aber eine prinzipiell überprüfbare Hypothese formulieren.

Infektionen der unteren Atemwege sind recht häufig, führen aber relativ selten zum Tod. Das ist bei der Grippe so und auch bei Covid-19. Zum Tod führen sie vor allem in Fällen, wo die infizierte Person bereits anderweitig geschwächt war, zumeist sehr stark geschwächt. Auch das haben Covid-19 und Grippe gemeinsam. Der Effekt ist bei Covid-19 sogar stärker ausgeprägt, das heißt, die Sterbefälle konzentrieren sich noch stärker auf ältere Menschen nahe der mittleren Lebenserwartung und auf Menschen mit Vorerkrankungen. Dass die Letalität von Covid-19 dennoch ähnlich wie bei typischen Grippeviren (Singapur) oder sogar etwas höher (Heinsberg-Studie) ist, dürfte daran liegen, dass es für Grippe eine bessere Medikation gibt.

Die Hypothese ist nun, dass im weltweiten Mittel jährlich ähnlich viele geschwächte Menschen eine Infektion der Atemwege erleiden, die dann zum Tod führt. Es ist nicht entscheidend, ob das eine Grippeinfektion ist oder ein Corona-Virus. Zwischen 3 und 11% der in den USA mit Infektionen der unteren Atemwege ins Krankenhaus eingelieferten Personen waren bereits vor Covid-19 durch Corona-Viren infiziert. Es gibt eine Gruppe von Risikopersonen, die so geschwächt sind, dass sie der nächsten Atemwegsinfektion erliegen werden, die sie trifft. Einige davon sind derart geschwächt, dass sie sonst einer anderen Belastung erliegen werden, beispielsweise einer Hitzewelle oder auch einem Herzinfarkt. Den Tod dieser Menschen hinauszuzögern mag in vielen Fällen wünschenswert sein, aber die Möglichkeiten sind sehr begrenzt.

Die Hypothese kann ich noch weiter präzisieren. Wir zählen 2020 vor allem Todesfälle, die ohnehin eingetreten wären, Tage und Wochen aber in vielen Fällen nicht Monate oder Jahre später und ordnen diese Covid-19 zu. Dann erliegen wir der Illusion, wir müssten in großem Maßstab die Gesellschaft und unser Leben ändern, um diese Todesfälle zu „verhindern“.

Es mag scheinen, dass die Hypothese schwer zu überprüfen ist, zumal ich kein großes Programm der Datensammlung auflegen kann und diejenigen, die es könnten, aus ganz offensichtlichen Gründen kein Interesse haben werden. Tatsächlich muss ich aber nur warten.

Weltweite Mortalitätsdaten sammelt alljährlich die Weltbank. Sie sind derzeit bis einschließlich 2018 verfügbar. Wenn Covid-19 eine schwerwiegende Pandemie war, wie etwa die Hongkong-Grippe oder gar die Spanische Grippe, dann sollte das klarwerden, wenn die weltweiten Mortalitätsdaten für 2020 verfügbar sind. Noch genauer kann man die Hypothese überprüfen, wenn die Daten auch nach Todesursachen aufgeschlüsselt sind. Solche Daten sammelt die WHO, allerdings sind sie derzeit maximal bis 2016 verfügbar, für die meisten Länder nur bis 2015. Für eine Reihe von Ländern stellen statistische Ämter die Sterbedaten zeitnäher und detaillierter zur Verfügung als die WHO, in gewissen Fällen tun es Gesundheitsbehörden auch nach Ursachen aufgeschlüsselt. Die letzteren Daten sind schwer zwischen Ländern vergleichbar, sehr wohl aber für jedes Land von Jahr zu Jahr.

Fazit

Die bisher erhobenen Daten belegen nicht, dass Covid-19 im Vergleich zu einer mittelschweren Grippe-Epidemie etwas Besonderes ist. Der Unterschied ist lediglich, dass mittelschwere Grippeepidemien bisher keine Wirtschaftskrisen und gesellschaftlichen Verwerfungen hervorgerufen haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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