Zwei falsche Strategien

Covid-19 Aus dem Versagen in der Herbstwelle sollte Deutschland Lehren für die Omikron-Welle ziehen.

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Wie auf der Seite von EUROMOMO ersichtlich ist, hatte Deutschland im Herbst 2021 unter allen westeuropäischen Ländern mit der Ausnahme der Niederlande die höchste Übersterblichkeit zu verzeichnen. In der vergangenen Woche hatte ich gezeigt, dass diese Übersterblichkeit sich in Deutschland, den Niederlanden und in den USA nur zum Teil in den offiziell Covid-19 zugeordneten Todesfällen widerspiegelt. Vor der Herbstwelle 2021 stimmten die Covid-19 zugeordneten Todesfälle sehr gut mit der Übersterblichkeit überein, so dass hier eine absichtliche Fehlzuordnung vermutet werden muss. Mir ist nur eine plausible Erklärung eingefallen, nämlich die Unterschlagung von Sterbefällen durch Covid-19, wenn die Personen nach damaliger Definition vollständig geimpft waren. Die Diskussion des Beitrags hat keine andere mögliche Erklärung zutage gebracht.

In Abbildung 1 sind die in der Vorwoche für die USA, Deutschland und die Niederlande gezeigten Daten noch einmal für das zweite Halbjahr 2021 gezeigt (oben). Die unteren Kacheln zeigen ebenfalls für das zweite Halbjahr 2021 den Verlauf der Impfkampagnen. Zu sehen ist, dass in allen drei Ländern die Auffrischungsimpfkampagnen erst nach dem Höhepunkt der Covid-19 zugewiesenen Sterbefälle an Fahrt aufnahmen. Da es sehr gute Evidenz gibt, dass die Auffrischungsimpfung das Risiko von schweren Covid-19-Verläufen und Todesfällen unter bereits grundimmunisierten Personen deutlich verringert, muss man auch annehmen, dass frühere Auffrischungsimpfungen die Zahl der Sterbefälle deutlich verringert hätten. Die Differenz zwischen den schwarzen und roten Kurven oben dürfte eine recht gute Abschätzung für die Verluste sein, die möglicherweise vermeidbar gewesen wären. Einerseits wäre zwar ein Teil der Personen auch mit Auffrischungsimpfung verstorben, andererseits sind aber auch unter den offiziell Covid-19 zugewiesenen Sterbefällen geimpfte Personen.

Wären diese Sterbefälle tatsächlich vermeidbar gewesen? Das stellt sich für die einzelnen Länder etwas unterschiedlich dar. Die USA hatten eine sehr frühe Herbstwelle, mit einem Höhepunkt Mitte August bis Anfang September. Israel hatte erst Anfang August begonnen, das erkannte Problem eines nachlassenden Impfschutzes durch Auffrischungsimpfungen zu adressieren und vor Ende August war nicht sicher zu sagen, ob die israelische Entscheidung richtig war. Selbst wenn die USA genauso mutig vorgegangen wäre wie Israel, hätte das auf diese frühe Welle wohl kaum noch einen großen Einfluss gehabt.

In Deutschland liegen die Dinge anders. Die Auffrischungsimpfung war ab 1. September 2021 zugelassen. Danach tat sich zwei Monate lang fast nichts (Abbildung 1). Selbst wenn man die 6-Monats-Frist nach der Grundimmunisierung in Betracht zieht, für die es ihrerseits keine Begründung aus den israelischen Daten oder der israelischen Impfpolitik gab, blieb die Auffrischungsimpfquote deutlich hinter den Möglichkeiten zurück (blaue gepunktete Linie). Der um sechs Monate verschobene Verlauf der Grundimmunisierung zeigt übrigens auch, wie schleppend diese in Deutschland im Vergleich zu den USA verlaufen war. Der Höhepunkt der Covid-19 zugewiesenen Sterbefälle trat in Deutschland Mitte November auf, derjenige der Übersterblichkeit gegen Ende November. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine entschiedene Auffrischungsimpfkampagne für Risikogruppen ab September einen erheblichen Teil der Sterbefälle verhindert hätte.

Interessant ist auch der Vergleich mit Israel. Ich hatte in der Vergangenheit bezweifelt, dass Deutschland eine derart schnelle Impfkampagne organisieren könne, wie Israel. Die jetzt vorliegenden Daten zeigen, dass das durchaus möglich ist. Im Dezember verlief die dann angelaufene Auffrischungsimpfkampagne in Deutschland sogar etwas schneller als diejenige in Israel im August. Das Problem war also nur eine zu späte Entscheidung. In den Niederlanden ist die Situation so wie in Deutschland, nur, dass dort die Entscheidungen noch später getroffen wurden und die Verluste bezogen auf die Gesamtbevölkerung noch höher waren. Insgesamt muss man natürlich bemerken, dass die Übersterblichkeiten im historischen Vergleich insgesamt nicht dramatisch waren, wie in der Vorwoche gezeigt. Im Kontext der öffentlichen Covid-19-Diskussion sind sie allerdings das bei Weitem wichtigste Phänomen des Jahres 2021. Wer argumentiert, dass Covid-19 Freiheitsbeschränkungen erfordert, der muss sich der Frage dieser vermeidbaren Sterbefälle stellen.

Die institutionalisierte Verantwortungslosigkeit

Es ist heute unter Medizinern und Wissenschaftlern weitgehend unstrittig, dass die Auffrischungsimpfungen mindestens bis zur Delta-Variante von SARS-Cov2 notwendig sind; unter Politikern und Journalisten sowieso. Es ist mittlerweile auch weitgehend unstrittig, dass die ursprünglich diskutierte 6-Monats-Frist zu lang war. Die Entscheidung, nach der Zulassung vom 1. September vor der zu erwartenden Herbstwelle keine schnelle Auffrischungsimpfkampagne durchzuführen, ist also aus heutiger Sicht eindeutig falsch gewesen. Nun kommen in Krisensituationen Fehlentscheidungen vor, teilweise auch mit dramatischen Folgen. Nicht in jedem Fall kann man den Entscheidern deswegen schwere Vorwürfe machen. Die Frage ist, ob sie zum Zeitpunkt der Entscheidung wissen konnten, dass diese falsch war.

Um das zu klären, müssen wir uns die Frage stellen, wer hätte entscheiden sollen und wer entschieden hat. Ersteres ist klar. Impfpolitik ist eine nationalstaatliche Aufgabe. Die Verantwortung trug die Bundeskanzlerin und sie durfte diese Verantwortung an den Gesundheitsminister Jens Spahn delegieren. Dieser musste alle Entscheidungen treffen, die in seinem Kompetenzbereich lagen. Sofern andere Ressorts betroffen waren, musste er eine Entscheidungsgrundlage in die Regierung einbringen. Hätte es dort Uneinigkeit gegeben, so hätte die Kanzlerin von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen müssen. Bestimmte organisatorische Aspekte im Gesundheitswesen sind im föderalen System an die Bundesländer (in der Schweiz an die Kantone) delegiert. Das brauchen wir hier aber nicht zu diskutieren, denn die Entscheidung über eine nationale Impfkampagne oblag der Bundesregierung, die sich auch als einzige auf Fachbehörden von ausreichender Kompetenz stützen kann.

Der Gesundheitsminister musste sich in dieser Entscheidung vom Robert-Koch-Institut (RKI) beraten lassen, da weder er noch seine Staatssekretäre hinreichende Kenntnisse haben. Das RKI ist eine ihm nachgeordnete Behörde. Das RKI durfte eine Stellungnahme der ehrenamtlichen Ständigen Impfkommission einholen und hat das auch getan. Es durfte sich in einer Krisensituation und angesichts der Erfahrungen mit den Sommerwellen in Großbritannien und Israel aber nicht nur auf diese Stellungnahme verlassen. Die Ständige Impfkommission hat keine Mitarbeiter, die umfangreiche Daten analysieren können, das RKI hat sie sehr wohl. Einzubeziehen war auch das Paul-Ehrlich-Institut als Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, das sich tatsächlich auch mit der Frage befasst hat.

Die erste deutsche Entscheidungsempfehlung, die ich auffinden konnte, ist diejenige der Ständigen Impfkommission vom 24. September 2021. Sie wurde am 30. September im Epidemiologischen Bulletin 39/2021 der RKI veröffentlicht, man kann auch ohne Polemik sagen, versteckt. Aus der Inhaltsübersicht geht nicht hervor, dass es irgendwo um Auffrischungsimpfungen geht. Dieser Begriff oder der Begriff „Booster“ taucht auch nirgends im Dokument auf. Die Empfehlung bezieht sich nur auf Personen mit Immundefizienz, nicht auf Risikogruppen insgesamt und wurde erstmals am 24. September veröffentlicht. Man muss der Ständigen Impfkommission zugutehalten, dass sie wohl nur nach Personen mit Immundefizienz gefragt worden war.

Erst am 18. Oktober gab die Ständige Impfkommission auch eine Empfehlung für die Auffrischungsimpfung von Personen über 70 Jahre und für Pflegepersonal ab. Danach verging ein weiterer Monat, ehe die Auffrischungsimpfungen wirklich Fahrt aufnahmen. Diese Empfehlung wurde später im Epidemiologischen Bulletin 43/2021 zusammen mit ihrer wissenschaftlichen Grundlage veröffentlicht. Es wurde immer noch an der 6-Monats-Frist festgehalten. Bemerkenswert ist, dass die wissenschaftliche Begründung zwei quantitative israelische Studien zitiert, „die ein deutliches Nachlassen des Impfschutzes innerhalb der ersten 6 Monate nach Impfung zeigen“ (Originalformulierung aus der wissenschaftlichen Begründung, Hervorhebung von mir). Gleichwohl wird die Empfehlung abgegeben „Die Auffrischimpfung soll frühestens 6 Monate nach der aus 2 Impfstoffdosen bestehenden abgeschlossenen Grundimmunisierung verabreicht werden.“ (ebenfalls Originalformulierung, hier aus der Empfehlung, Hervorhebung von mir). Die Begründung und die Empfehlung sind in diesem Punkt offensichtlich nicht konsistent.

Nirgends findet man eine eigene Analyse epidemiologischer Daten aus Israel. Alle Empfehlungen werden aus den mageren deutschen Daten aus einer Zeit ohne Epidemiewelle und aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen abgeleitet, wobei letztere eine erhebliche Verzögerungszeit haben. Die Entscheidungsgrundlage war unzureichend und die Vorlage kam zu spät. Ich laste das nicht der, wie gesagt ehrenamtlich arbeitenden, Ständigen Impfkommission an. Der Fehler liegt beim RKI, das die epidemiologische Situation selbst hätte beobachten und analysieren müssen. Im Bericht der Ständigen Impfkommission vom 18. Oktober findet sich auch der bemerkenswerte Satz: „Eine Analyse der Impfquoten bei BewohnerInnen von Pflegeheimen war bis Ende März 2021 möglich, da die VertragsärztInnen, die seit dem 06.04.2021 in die Impfkampagne einbezogen wurden, keine Information zur Indikation der Impfung übermitteln.“ (Hervorhebung der Autoren). Das ist ja ganz hübsch gegendert, aber im Übrigen eine Ungeheuerlichkeit. Es geht auch so weiter: „Altersspezifische Auswertungen der Impfquoten mit einer Differenzierung der Altersgruppen in 60 – 69 Jahre, 70 – 79 Jahre und ≥ 80 Jahre waren nur bis Ende Mai 2021 möglich, da danach die Impfung durch Hausärzte stetig zugenommen hat und hierbei nur noch zwischen < 60-Jährigen und > 60-Jährigen unterschieden wurde.“ (Hervorhebung der Autoren). Die Ständige Impfkommission kann nur mit den Daten arbeiten, die in Verantwortung der Regierung erfasst werden und diese taugen nichts.

Was das Paul-Ehrlich-Institut angeht, so bezog sich dieses am 10. September auf die Verantwortlichkeit der Ständigen Impfkommission und orientierte sich an der European Medical Agency EMA). In dieser Mitteilung findet sich der Hinweis, dass die EMA und das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) „den Bedarf an Auffrischungsdosen des COVID-19-Impfstoffs in der Allgemeinbevölkerung nicht als dringend erachten“. Das ECDC ist eine EU-Behörde, die am 1. September einen Technischen Bericht zu Auffrischungen veröffentlicht hat. Das „Executive Summary“ lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Es empfiehlt als Priorität die Grundimmunisierung der Bevölkerung und behauptet, dass diese nach der vorliegenden Evidenz hochwirksam sei. Auffrischungsimpfungen werden nur für immundefiziente Personen empfohlen. Das erklärt die Entstehungsgeschichte der ersten Empfehlung der Ständigen Impfkommission.

Gleichzeitig sind wir hier an einem Punkt angelangt, an dem die Entscheidung nach damaligem Kenntnisstand eindeutig falsch war. Das Nachlassen des Infektionsschutzes mit der Zeit nach der Impfung war durch einen Preprint einer israelischen Gruppe am 31. Juli bekannt geworden. Israel reagierte sofort mit Auffrischungsimpfungen ab dem 1. August. Am Abend des 16. August veröffentlichte Science eine Warnung bezüglich der nachlassenden Impfeffizienz, in der ganz explizit steht „Am 15. August sind 514 Israeli mit ernstem oder kritischem COVID-19 hospitalisiert, ein Anstieg um 31% gegenüber der Situation vier Tage zuvor. Von diesen 514 sind 59% vollständig grundimmunisiert. Unter den Geimpften sind 87% 60 oder älter. Es gibt so viele Impfdurchbrüche, dass sie dominieren und tatsächlich die meisten hospitalisierten Patienten geimpft sind.“ (Übersetzung und Hervorhebung von mir). Die Behauptungen der ECDC einen halben Monat später widersprechen dieser Evidenz diametral.

Wie kann das sein? Ich war bis zum 19. August parallel durch eine eigene Analyse der öffentlich zugänglichen israelischen Daten zu praktisch dem gleichen Schluss gekommen, wie die Warnung in Science: „Impfstoffe funktionieren, aber nicht gut genug.“ (Text von dort, Übersetzung von mir). Wo haben sich die Autoren des ECDC-Berichts informiert? Die Warnung in Science ging sogar durch (einige) Mainstream-Medien. Immerhin identifiziert der Bericht Wissenslücken und empfiehlt eine weitere Beobachtung der Situation. Das dürfte die Entstehungsgeschichte der zweiten Empfehlung der Ständigen Impfkommission vom 18. Oktober erklären. Wie ich kürzlich gezeigt habe, war die hohe Effizienz der Auffrischungsimpfungen spätestens in den bis Mitte September aufgelaufenen israelischen Daten erkennbar.

Was wir hier sehen, ist ein System, in dem eine Institution der anderen die Verantwortung zuschiebt – das nenne ich institutionalisierte Verantwortungslosigkeit – und das viel zu träge im Vergleich zur Dynamik der Pandemie ist. Mehrere an sich kompetente Institutionen haben Schlussfolgerungen gezogen, die anhand der tatsächlichen Evidenz nicht nachvollziehbar sind. Als Ursache vermute ich ideologische Verhärtungen. Am Anfang der Pandemie wurde die Grundsatzentscheidung getroffen, dem Problem mit Maßnahmen zu begegnen, welche die Gesamtbevölkerung betreffen, statt gezielt Risikogruppen zu schützen. Diese Grundsatzentscheidung ist aus gesundheitspolitischer wie auch gesamtwirtschaftlicher Sicht falsch. Erklärbar ist sie nur, wenn die Pandemie für andere politische oder partikularwirtschaftliche Zwecke ausgenutzt werden soll. Von dieser Grundsatzentscheidung ist man bis jetzt nicht abgerückt. Sie erklärt, warum man sich im September für eine mit Druck durchgeführte Kampagne zur Erstimpfung einer unwilligen aber weitgehend auch ungefährdeten Minderheit entschieden hat, statt die notwendigen Auffrischungsimpfungen in Risikogruppen durchzuführen. Von diesem Fehlverhalten hat man sich bis jetzt nicht verabschiedet.

Was wir lernen könnten

Am Verlauf der Herbstwellen 2021 und den damit verbundenen Verlusten ist nichts mehr zu ändern. Ähnlich wie Anfang September 2021 befinden wir uns aber schon wieder in einer Situation, in der schnell fundierte Entscheidungen getroffen werden müssen. Es ist absehbar, dass sie wieder falsch sein werden und zwar aus den gleichen Gründen. Es geht um die nächste Welle, die durch die Omikron-Variante verursacht wird und sehr schnelle Entscheidungen erfordert.

Um diese Frage zu betrachten, müssen wir erstens wissen, wie gut wir aus einem Indikator, zum Beispiel der Zahl positiver Tests, andere Indikatoren, zum Beispiel die Intensivstationsbelegung oder die Hospitalisierungsrate vorhersagen können und zweitens, ob Omikron das verändert. Ich muss hier zunächst auf den ersten meiner Beiträge zu Covid-19 vom 5. April 2020 zurückkommen. Ich hatte damals dargelegt, dass man die Zahl positiver Tests unbedingt auf die Gesamtzahl durchgeführter Tests normieren muss, wenn man irgendetwas vergleichen oder vorhersagen will. Ich denke nicht, dass das unter Wissenschaftlern irgendwie strittig ist. Gleichwohl wird es in den Medien, vom RKI und von Politikern systematisch nicht getan. Man braucht eine ziemlich intrikate Verschwörungstheorie, wenn man das erklären will, ohne eine politische Absicht anzunehmen. Ich muss den Punkt hier wieder aufbringen, weil sich gegenwärtig die Gesamtzahl durchgeführter Tests stark ändert – und nicht einmal in allen Ländern in die gleiche Richtung. Das ist in Abbildung 2 gezeigt.

Um zwischen Ländern vergleichen zu können, habe ich auf die jeweiligen Bevölkerungszahlen normiert. Das wird bei der üblich gewordenen Angabe von „Inzidenzen“ (politischen Inzidenzen) auch getan. Gleichwohl sind die politischen Inzidenzen weder zwischen Ländern noch im Zeitverlauf vergleichbar, wenn die Testzahlen derart variieren, wie in der Abbildung zu sehen ist. So müsste man etwa die britische politische Inzidenz durch etwa 10 dividieren, wollte man sie mit der deutschen politischen Inzidenz vergleichen. Das Problem ist dann noch, dass dieser Faktor nicht jeden Tag gleich ist. Im Folgenden zeige ich daher den Anteil positiver Tests in Prozent der Gesamttests. Auch diese Zahl ist bei grob verschiedenen Teststrategien nicht perfekt vergleichbar, aber doch sehr viel besser als die absolute Zahl positiver Tests oder die politische Inzidenz. Abbildung 2 zeigt übrigens auch, dass Deutschland unter den sechs betrachteten Ländern das traurige Schlusslicht beim Testen ist.

Mit dieser Normierung können wir nun zunächst den Gesamtverlauf der Pandemie in den sechs ausgewählten Ländern betrachten (Abbildung 3). Um alle Indikatoren eines Landes im gleichen Diagramm unterzubringen, musste ich sie geeignet skalieren. In den meisten Ländern liegt reichlich jeder zehnte hospitalisierte Patient auf der Intensivstation und die Anzahl der Verstorbenen beträgt etwa ein Zehntel der Zahl der Intensivpatienten. Ich stelle daher die Zahl der Hospitalisierten je 100‘000 Einwohner, die Zahl der Intensivpatienten je 1 Million Einwohner und die Anzahl der Verstorbenen je 10 Millionen Einwohner dar. Der prozentuale Anteil positiver Tests an den Gesamttests fügt sich in diese Skalierung ein, wenn man ihn mit 4 multipliziert. Die einzelnen Länder müssen wir gesondert diskutieren.

Israel

In Israel verhalten sich alle vier Indikatoren ähnlich. Die Intensivstationsbelegung bleibt in einer Welle etwas länger hoch als die Zahl der Sterbefälle. Im Anstieg der Wellen ist der Zeitverzug zwischen den Indikatoren kurz. Der Vergleich zwischen 2020 und 2021 legt das Verhältnis zwischen Positivrate und anderen Indikatoren keinen hohen Impferfolg nahe.

Italien

Die Indikatoren verhalten sich zumeist ähnlich, für die Herbst-Winter-Welle 2021 ist vor Omikron die Übereinstimmung selbst von der Skalierung her fast perfekt. Es gibt im Anstieg kaum einen Zeitverzug zwischen den Indikatoren. Im Vergleich zwischen Herbst/Winter 2020 und Frühjahr 2021 legt das Verhältnis zwischen Positivrate und anderen Indikatoren keinen Impferfolg nahe.

Großbritannien

In den letzten Monaten stimmen alle Indikatoren gut überein, selbst von der Skalierung her. Zuvor hatte Großbritannien im Verhältnis zu anderen Indikatoren sehr viel mehr Sterbefälle als andere Länder.

Niederlande

Die Niederlande fallen in fast jeder Hinsicht aus dem Muster. Positivraten sind sehr hoch und fast durchgängig hoch. Der Anteil von Intensivpatienten in Bezug auf andere Hospitalisierte ist viel höher als in anderen Ländern. Die Covid-19 zugewiesenen Sterbefälle fallen gegenüber anderen Ländern etwas niedriger aus, wir wissen aber für den Herbst 2021 aus Abbildung 1, dass sie da stark unterschätzt wurden. Eine lange Verzögerung zwischen dem Anstieg der Positivraten und den anderen Indikatoren weist im Vergleich mit anderen Ländern auf starke Meldeverzögerungen hin. In Übereinstimmung damit liegt in Abbildung 1 das Maximum der tatsächlichen Übersterblichkeit vor demjenigen der Covid-19 zugewiesenen Sterbefälle.

Schweiz

Die einzelnen Indikatoren stimmen relativ gut überein. Gegenüber dem Anstieg der Positivrate sind andere Indikatoren etwas verzögert, aber die Verzögerung liegt Gegensatz zu den Niederlanden in einem Bereich, den man erwarten kann. Ab etwa März 2021 legen die Daten durchgängig eine guten Impferfolg nahe.

Deutschland

Deutschland meldet keine Hospitalisierungszahlen. In der Herbstwelle 2021 werden Verzögerungen anderer Indikatoren in Bezug auf die Positivrate sichtbar, die es in diesem Ausmaß zuvor nicht gab. Die Daten von 2021 legen einen Impferfolg nahe, wir wissen aber aus Abbildung 1, dass die Sterbefallzahlen im Herbst deutlich unterschätzt sind.

Im Wesentlichen können wir eine Analyse der anlaufenden Omikron-Welle auf Israel, Italien, Großbritannien und die Schweiz stützen. Den niederländischen und deutschen Daten ist nicht recht zu trauen, zudem fehlt für Deutschland die gerade jetzt wichtige Hospitalisierungsrate. Gleichwohl zeige ich in Abbildung 4 die Daten aller sechs Länder vom 1. Juli 2021 bis zum 9. Januar 2022. Der Anteil positiver Tests bricht in einigen Fällen eher ab, weil die Testzahlen noch nicht weit genug gemeldet sind. In dieser Abbildung zeige ich auch den ebenfalls bei Our World in Data veröffentlichten Anteil der Omikron-Variante an den gesamten positiven Tests (orangene Kreise). Diese Daten werden nur in größeren Zeitabständen erfasst, weil Sequenzierungen sehr viel teurer sind als PCR-Tests. Die für Israel und Europa relevanten Stichtage sind der 29. November, der 13. Dezember, der 27. Dezember und im Fall Großbritanniens bereits auch der 5. Januar. Wenn die anderen Länder die Daten vom 5. Januar gemeldet haben, werde ich eine aktualisierte Version der Abbildung als Nachtrag anfügen. Dass die Daten aus den Niederlanden und aus Deutschland zweifelhaft sind, spielt kaum eine Rolle, weil in beiden Ländern der Omikron-Anteil am 27. Dezember noch deutlich unter 50% lag (sofern deutsche Daten vom 27. Dezember für diesen Indikator aussagekräftig sind). Auch im Anteil positiver Tests wird die Omikronwelle noch nicht (Niederlande) oder kaum (Deutschland) sichtbar. Im Gegensatz zu den anderen vier Ländern hatten diese beiden gerade zuvor eine schwere Welle durchlaufen.

Die vier anderen Länder zeigen deutliche Omikron-Wellen. In Großbritannien dominierte Omikron am 5. Januar sehr stark (95.91%). In Israel war Omikron am 27. Dezember knapp dominant (53.76%), in der Schweiz knapp noch nicht (38.65%). Angesichts der weiteren Entwicklung der Positivrate ist anzunehmen, dass Omikron mittlerweile in Israel, Italien und der Schweiz ebenfalls stark dominiert.

Ein Anstieg der Zahl der Intensivpatienten ist bisher nur in Israel sichtbar. Er ist im Vergleich zum Anstieg des Anteils positiver Tests sehr moderat. In Großbritannien ist so ein Anstieg nicht einmal ansatzweise zu beobachten. Dort findet sich der einzige recht steile, im Vergleich zum Vorjahr allerdings nicht auffällige Anstieg der Hospitalisierung auf Normalstationen. Man kann nicht ausschließen, dass es sich hier, wie im Vorjahr auch, um einen Weihnachtseffekt anstelle eines omikron-spezifischen Effekts handelt. In Italien setzt sich die Welle etwa so fort, wie vor dem Auftreten von Omikron. Wegen der vergleichsweise hohen Qualität der italienischen Daten und des steilen Omikron-Anstiegs dürfte das ein besonders interessanter Fall sein. Falls Omikron durch Verdrängung von Delta die Pandemie abmildert, würde man das wohl in Italien zuerst beobachten.

Insgesamt ist bei den wichtigen Indikatoren nirgends eine besorgniserregende Entwicklung zu beobachten, obwohl die Positivraten und der Anteil von Omikron bereits stark angestiegen sind. Da vor allem Länder mit zuvor geringen Verzögerungen zwischen dem Anteil positiver Tests und wichtigen Indikatoren betroffen sind, besteht kein Grund zu übermäßigem Aktivismus. Aller Wahrscheinlichkeit nach verhält sich Omikron wie eine normale Erkältungswelle, milder als eine Grippewelle. Vor Covid-19 hat man in solchen Fällen keine Masken getragen, keine Tests durchgeführt, keine Kontakte nachverfolgt, keine Quarantäne erlassen, nicht geimpft und es sind sogar noch symptomatische Personen zur Arbeit gegangen. Das ging auch.

Die Gefahr von Omikron ist vor allem diejenige einer gesellschaftlichen Überreaktion. Verbleibt man im Muster von Einschränkungen für die Gesamtbevölkerung anstelle eines Schutzes von Risikogruppen, werden die Nebenwirkungen der Maßnahmen katastrophal sein, wo es sonst nur eine rapide ansteigende und rapide abfallende Welle einer mittelmäßigen Erkältungskrankheit geben würde. Denn eine Epidemiewelle, die rapide ansteigt, erreicht schnell ihren Höhepunkt und fällt dann wieder ab. Das ist in Abbildung 5 anhand der südafrikanischen Daten zu sehen.

Eine falsche Strategie in Bezug auf die Auffrischungsimpfungen hat zu erhöhten Sterbefallzahlen geführt, die der Öffentlichkeit gegenüber teilweise kaschiert werden konnten. Eine falsche Strategie in Bezug auf die Omikron-Welle könnte in einer ohnehin schon stark gereizten Bevölkerung zu erheblichen gesellschaftlichen Verwerfungen führen.

Nachtrag (12.1.2022, abends)

Inzwischen gibt es auf Our World in Data neue Zahlen zum Anteil der Omikron-Variante. Ich habe deshalb eine neue Version der Abbildung 4 gemacht, die bis zum 12. Januar jetzt so aussieht. Zu beobachten sind neu, dass der schnelle Anstieg des Positivanteils in Israel und Italien verhält, in Israel der Omikron-Anteil nahe 100% liegt (93.51%), dass der Anstieg der Hospitalisierung in Grossbritannien abflacht während Omikron dort weiterhin sehr stark dominiert (95.45%), dass er in den Niederlanden (60.32%) und der Schweiz (70.39%) noch nicht diese starke Dominanz erreicht hat und in Deutschland (26.61%) vergleichsweise niedrig ist. Die Anzahl der Covid-19 zugeordneten Intensivpatienten sinkt in Deutschland weiter. Noch niedriger als in Deutschland ist der Omikron-Anteil unter allen Nachbarländern nur in Polen (19.61%) und der Tschechischen Republik (24.59%). Während die Herbstwelle von Südosten nach Deutschland kam, kommt die Omikron-Welle von Nordwesten. Alle Behauptungen zur umgekehrten Korrelation von Infektionsquote und Impfquote oder von Infektionsquote und politischer Richtung der Bevölkerung, die in der Herbstwelle aufgestellt wurden, erweisen sich jetzt als falsch.

Nachtrag 2 (13.1.2022, 6:50 Uhr)

Während die Medien laut neue Rekorden bei den "Infektionszahlen" melden, sinken die wichtigen Indikatoren, wie die Infografiken des Robert-Koch-Instituts zeigen. Die Kachel oben links in meiner Zusammenstellung erfordert etwas Erklärung. Offensichtlich sind die Meldungen von Covid-19-Hospitalisierungen in Deutschland schon längere Zeit extrem verzögert. Deswegen werden sie wohl auch nicht international gemeldet - man würde sich lächerlich machen. Mit Überlastung ist das nicht zu erklären. Gezeigt werden deshalb die tagesaktuellen Meldungen (hellblau), diese geben die beste zeitnahe Abschätzung des Trends. Dass der Trend bei höheren Absolutwerten der blauen Kurve folgt, sieht man, wenn man auf der Seite oben zum Beispiel einen Dreimonatszeitraum ansieht. Die hellgrün/schwarze Linie oben ist eine Vorhersage tatsächlicher Werte ("Nowcast"), die allerdings nur die Vergangenheit vorhersagt. Der frühere Verlauf wird rechtzeitig ausgeblendet, ehe klar wird, was sie taugt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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