Das Versteck befindet sich an einem sicheren Ort. Alles, was Murtasa bisher erdacht und mit seinen Händen geschaffen hat, war gut und dauerhaft, ausreichend für zwei Leben.
Heute sind sie schon vor dem Morgengrauen aufgestanden. Sie haben ein kaltes Frühstück zu sich genommen und sind noch beim Schein des verblassenden Mondes und der letzten Sterne vom Hof gefahren. Im Morgengrauen sind sie an Ort und Stelle. Der zuvor schwarze Himmel ist bereits strahlend blau, die weiß verschneiten Bäume leuchten und glitzern wie Diamanten.
Im Wald herrscht noch Morgenstille, und der Schnee unter Murtasas Filzstiefeln knirscht besonders kräftig – wie frischer Kohl, wenn Suleika ihn im Trog mit dem Hackmesser schneidet. Mann und Frau kämpfen sich durch kniehohe, feste Schneewehen. Auf zwei hölzernen Spaten tragen sie wie auf einer Bahre die kostbare Last: Säcke mit Saatgut, die sie sorgsam mit Schnüren festgebunden haben. Sie bewegen sich vorsichtig, weichen spitzen Ästen und Baumstümpfen aus. Sollte die Sackleinwand reißen, dann kann Suleika etwas erleben. Seit Murtasa die Rote Horde erwartet, ist er wie von Sinnen: Er würde sie erschlagen wie gestern Kjubelek und mit keiner Wimper zucken.
Zwischen den bereiften Tannen vor ihnen lichtet sich der Wald. Die Birken bleiben zurück, klirren mit winzigen Eiszapfen an den dünnen Ästchen und geben die große, tief verschneite Lichtung frei. Da ist auch schon die krumme Linde mit dem schmalen Astloch, lang wie ein Spalt, daneben ein gefrorener Ebereschenstrauch. Sie sind da.
Auf einem Lindenzweig sitzt eine Meise. Die blaue Brust – ein Stückchen vom Himmel, die Äuglein wie schwarze Perlen. Sie hat keine Angst, beschaut Suleika aufmerksam und zwitschert.
»Schamsia!« Mit einem Lächeln streckt Suleika ihr die Hand in dem dicken Pelzhandschuh entgegen.
»Quatsch nicht rum, Frau!« Murtasa wirft eine Handvoll Schnee, das Vögelchen flattert auf und fliegt davon. »Wir sind zum Arbeiten hier.«
Erschrocken greift Suleika nach einem Spaten.
Sie gehen daran, eine Schneewehe unter der Linde wegzuschaufeln. Bald treten darunter die Umrisse eines kleinen Erdhügels hervor. Suleika nimmt die Fäustlinge ab, säubert und glättet ihn mit den vom Frost schnell rot anlaufenden Händen. Auf die Kälte des Schnees folgt die Kälte von Stein. Mit den Fingernägeln klaubt sie die Schneekruste aus den runden arabischen Lettern, ihre Finger bringen das Eis in den kleinen Vertiefungen über dem langen Schriftzug zum Schmelzen. Suleika kann nicht lesen, aber sie weiß, dass hier in Stein gehauen steht: Schamsia, Tochter des Murtasa Walijew. Und das Jahr: 1917.
Während Murtasa das Grab seiner ältesten Tochter säubert, tritt Suleika einen Schritt zur Seite und ertastet einen weiteren Stein. Mit den Ellenbogen schiebt sie die Schneedecke beiseite. Die erstarrten Finger finden von selbst, was sie suchen. Sie gleiten über die Schriftzeile: Firusa, Tochter des Murtasa Walijew. 1920.
Auf dem nächsten Stein: Sabida. 1924.
Und schließlich: Chalida. 1926.
Vier Steine in einer Reihe
»Lass die Drückebergerei!« Murtasa hat das erste Grab ganz freigelegt. Jetzt steht er da, auf den Spaten gestützt, die Augen drohend auf sie gerichtet. Sie sind gelb und kalt, die Augäpfel dunkel und von trübem Rot. Die tiefe Furche auf der Stirn bewegt sich, als sei sie lebendig.
»Ich habe sie nur alle begrüßt«, murmelt Suleika und senkt schuldbewusst den Blick.
Die vier grauen Steine stehen da, leicht schief in einer Reihe, und schauen sie schweigend an. Sie sind niedrig, von der Größe eines einjährigen Kindes.
»Hilf mir lieber!«, knurrt Murtasa und rammt den Spaten mit aller Kraft in die gefrorene Erde.
»Bei Allah, halt ein!« Suleika stürzt zu Schamsias Grabstein, legt ihre Hände darauf und kniet nieder.
Laut lässt Murtasa ein ärgerliches Schnaufen hören, zieht den Spaten aber wieder heraus und wartet.
»Verzeih uns, Sirat ijase, Geist des Friedhofs. Wir wollten dich bis zum Frühjahr in Frieden lassen, aber wir können nicht anders«, flüstert sie über den runden Schriftzeichen. »Und vergib uns auch du, Tochter. Ich weiß, du bist uns nicht böse, du bist froh, wenn du deinen Eltern helfen kannst.«
Suleika erhebt sich und nickt: Jetzt darf es geschehen. Murtasa beginnt auf die Erde neben dem Grab einzuhacken und den Spaten in einen kaum sichtbaren, zugefrorenen Spalt zu zwängen. Suleika bearbeitet das Eis mit einem Stock. Der Spalt wird langsam größer, weitet sich und gibt schließlich mit einem knarrenden Geräusch nach. Sichtbar wird ein langer Holzkasten, aus dem es nach gefrorener Erde riecht. Vorsichtig schüttet Murtasa sonnengelbes Getreide hinein, das bei dem Frost laut auf das Holz prasselt. Suleika lässt die schweren Körner durch ihre Finger rinnen.
Ihr Saatgut.
Es wird hier zwischen Schamsia und Firusa in einem Holzsarg schlafen, bis der Frühling kommt. Und wenn wieder warme Lüfte wehen, wenn die Wiesen sich vom Schnee befreien und erwärmen, dann wird es in die Erde gelegt, um zu wachsen und den Acker grün zu färben.
Das Versteck auf dem Dorffriedhof anzulegen, war Murtasas Idee. Zuerst erschrak Suleika: Die Totenruhe stören – war das nicht Sünde? Sollten sie nicht wenigstens den Mullah-Chasret um Erlaubnis fragen? Und würde ihnen der Geist des Friedhofs nicht zürnen? Aber dann stimmte sie doch zu: Die Töchter sollten ihnen in der Wirtschaft helfen. Und das taten sie mit Erfolg: Seit Jahren hüteten sie bis zum Frühjahr das Saatgut der Eltern.
Der Deckel der Kiste wird zugeschlagen. Murtasa schichtet Schnee auf das geöffnete Grab. Dann wickelt er die leeren Säcke um die Spatenstiele, wirft sich das Bündel auf den Rücken und stapft in den Wald.
Suleika wirft Schnee auf die entblößten Grabsteine, als wollte sie für die Nacht eine Decke darüber legen. Lebt wohl, meine Töchter. Wir sehen uns im Frühjahr wieder – sollte die Prophezeiung der Upyricha sich nicht vorher erfüllen.
»Murtasa«, ruft Suleika ihrem Mann leise nach. »Wenn mir etwas zustößt, dann begrabe mich hier bei den Töchtern. Rechts von Chalida ist noch Platz. Ich brauche nicht viel, das weißt du ja.«
Der Mann bleibt nicht stehen, seine hohe Gestalt verschwindet schon zwischen den Birken. Suleika murmelt den Steinen etwas zum Abschied zu und zieht die Fäustlinge über die steifen Hände.
Auf dem Lindenzweig zwitschert es. Die flinke Blaumeise sitzt wieder am gewohnten Fleck. Froh winkt Suleika ihr zu. »Schamsia, ich weiß, das bist du!« Dann läuft sie rasch ihrem Mann hinterher.
Gemächlich gleitet der Schlitten den Waldweg entlang. Sandugatsch schnauft und stößt das Fohlen vorwärts. Fröhlich springt der Kleine um sie herum, bald versinkt er mit den Beinchen in den Schneewehen am Wegesrand, bald stößt er sein Schnäuzchen der Mutter in die Seite. Er wollte unbedingt mit. Warum auch nicht: So gewöhnt er sich an die Fahrten in den Wald.
Die Sonne hat den höchsten Stand noch nicht erreicht, aber sie haben ihr Vorhaben erledigt. Allah sei Dank, dass sie niemand gesehen hat. Wenn nicht heute, dann morgen hat der Schneesturm auf dem Friedhof alle Spuren verweht.
Im Schlitten sitzt Suleika, wie immer Murtasa den Rücken zugewandt. Sie spürt genau, welch schwere, düstere Gedanken ihm durch den Kopf gehen. Sie hat gehofft, dass sich der Mann nach dem Vergraben des Getreides ein wenig beruhigen und die tiefe Falte auf der Stirn, die wie die Narbe von einem Axthieb wirkt, sich etwas glätten werde. Nein, die Falte ist nach wie vor da, sie ist eher noch tiefer geworden.
»Heute Nacht gehe ich in den Wald«, sagt er nach vorn, als spreche er mit Sandugatschs Kumt oder mit ihrem Schweif.
»Wie das?« Suleika dreht sich um und wirft einen kläglichen Blick auf den starren Rücken ihres Mannes. »Es ist Januar …«
»Wir werden viele sein. Wir erfrieren schon nicht.«
Noch nie war Murtasa in den Wald gegangen. Andere Männer hatten das bereits getan – 1920 und 1924. Sie taten sich zu Gruppen zusammen und versteckten sich vor der neuen Staatsmacht. Das Vieh schlachteten sie oder nahmen es mit. Frauen und Kinder blieben zu Hause, warteten und hofften auf die Rückkehr der Männer. Es kam vor, dass sie zurückkehrten, meist aber nicht. Manche hatte die Rote Horde erschossen, andere hatten sich davongemacht …
Der Rücken schweigt
»Vor dem Frühjahr brauchst du mich nicht zu erwarten«, fährt Murtasa fort. »Kümmere dich um Mutter.«
Suleika blickt auf den rauen, löchrigen Schafpelz, der sich über den mächtigen Schultern ihres Mannes spannt.
»Das Pferd nehme ich mit.« Murtasa schnalzt, und Sandugatsch beschleunigt gehorsam ihren Schritt. »Das Fohlen könnt ihr aufessen.«
Der Kleine eilt seiner Mutter nach, wobei er bald die Vorder-, bald die Hinterbeine lustig in die Luft wirft. Für ihn ist es ein Spiel.
»Das überlebt sie nicht«, spricht Suleika in Murtasas Rücken. »Deine Mutter überlebt das nicht, sage ich.«
Der Rücken schweigt mürrisch. Sandugatschs Hufe trappeln dumpf über den festen Schnee. Irgendwo im Wald krächzen Elstern. Murtasa nimmt die Pelzmütze ab und wischt sich über den glänzenden, höckerigen Schädel. Von der zarten rosa Haut steigt kaum sichtbar Dampf auf.
Das Gespräch ist beendet. Suleika dreht sich wieder um. Sie war noch nie im Leben allein. Wer wird ihr jetzt sagen, was sie zu tun und zu lassen hat? Wer wird sie wegen schlechter Arbeit tadeln? Wer wird sie vor der Roten Horde beschützen? Wer wird sie schließlich ernähren? Hat sich die Upyricha etwa geirrt? Wird die Alte nicht mit ihrem geliebten Sohn, sondern mit ihrer verachteten Schwiegertochter allein in dem Haus bleiben? Und, Allah, was hat das alles zu bedeuten? …
Der Gesang trifft sie abrupt wie ein Windstoß. Eben noch hatten sie das klägliche Knirschen der Schlittenkufen in den Ohren, dann ist da plötzlich eine kräftige Männerstimme. Sie klingt tief und schön irgendwoher aus dem Wald. Der Mann singt auf Russisch eine unbekannte Melodie. Suleika will zuhören, aber Murtasa gerät aus irgendeinem Grund in Aufregung und treibt das Pferd an.
»Es rettet uns kein höh’res Wesen,
kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun.
Uns aus dem Elend zu erlösen,
können wir nur selber tun!«
Suleika versteht nicht schlecht Russisch. Sie hat den Eindruck, dass es gute Worte sind – von Rettung und Erlösung.
»Verstecke die Spaten«, knurrt Murtasa durch die Zähne.
Rasch wirft Suleika Säcke über die Spaten und deckt auch noch ihren Rock darüber.
Sandugatsch ist in Trab verfallen, läuft aber nicht zu schnell, denn sie muss auf das umherspringende Fohlen Rücksicht nehmen. Die Stimme kommt immer näher.
»Leeres Wort: des Armen Rechte!
Leeres Wort: des Reichen Pflicht!
Unmündig nennt man uns und
Knechte! Duldet die Schmach nun
länger nicht!«
Das Lied eines arbeitenden Menschen, denkt Suleika. Jetzt wird ihr klar, dass der Sänger ihnen auf dem Waldweg folgt und bald zwischen den Bäumen zu sehen sein wird. Wie alt er wohl sein mag? Wahrscheinlich jung, denn seine Stimme klingt stark und hoffnungsfroh.
»Völker, hört die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!
Die Internationale
erkämpft das Menschenrecht!«
In der Ferne tauchen zwischen den Bäumen jetzt dunkle Silhouetten in rascher Bewegung auf. Auf dem Waldweg erscheint ein kleiner Trupp Reiter. Allen voran ein Mann, der sich kerzengerade im Sattel hält. Schon von Weitem ist zu erkennen: Das ist kein Arbeiter, das ist ein Soldat. Als er näherkommt, sieht man die breiten grünen Aufnäher an dem grauen Mantel. Auf dem Kopf trägt er eine spitz zulaufende Mütze mit einem roten Stern über der Stirn. Einer von der Roten Horde. Und er ist es auch, der singt.
»In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute,
wir sind die stärkste der Partei’n.
Die Müßiggänger schiebt beiseite!
Diese Welt muss unser sein!«
Allah hat Suleika ein scharfes Auge geschenkt. Bei dem hellen Sonnenlicht fällt ihr das für einen Mann ungewöhnlich glatte Gesicht des Sängers auf (weder Schnurr- noch Vollbart, ein echtes Milchgesicht). Die Augen unter dem Mützenschirm wirken dunkel, die ebenmäßigen Zähne wie aus weißem Zucker gemacht.
»Unser Blut sei nicht mehr der Raben
und der mächt’gen Geier Fraß!
Erst wenn wir sie vertrieben haben,
dann scheint die Sonn’ ohn’ Unterlass!«
Der Mann von der Roten Horde ist jetzt ganz nah. Wenn er gegen die Sonne blinzelt, laufen kleine Fältchen von seinen Augenwinkeln bis unter die Ohrenklappen der Budjonny-Mütze. Er lächelt Suleika zu, der Schamlose. Sie schlägt die Augen nieder, wie es sich für eine verheiratete Frau gehört, und zieht den Kopf tiefer in ihr Tuch.
»He, Chef, ist’s noch weit bis Julbasch?« Ohne den zudringlichen Blick von Suleika zu wenden, reitet er so nahe an den Schlitten heran, dass sie den heißen, salzigen Geruch seines Pferdes spürt.
Murtasa sitzt bewegungslos da und treibt Sandugatsch noch stärker an.
»Bist du taub?« Der Reiter presst seinem Pferd ein wenig die Fersen in die Seiten, und das setzt sich mit wenigen Sprüngen vor den Schlitten. Unvermittelt klatscht Murtasa mit dem Zügel auf Sandugatschs Rücken, die Stute zieht heftig an und prallt dabei mit der Brust gegen das Pferd des Sängers. Das wiehert erschrocken auf, weicht zurück und gerät mit den Hinterbeinen in eine Schneewehe am Wegesrand.
»Oder blind?!«, ruft der Reiter jetzt wütend.
Diesmal gebe ich nichts her
»Das Bäuerlein ist erschrocken und will schnell nach Hause zur Mama!« Der Trupp hat den Schlitten erreicht, und ein braun gebrannter Kerl mit einem Goldzahn unter der lustig hochgezogenen Oberlippe mustert den Schlitten mit frechem Blick. »Was für schreckhafte Leute!«
Wie viele sind sie wohl? Wie die Finger an beiden Händen, nicht mehr. Kräftige, gesunde Männer. Einige in Uniformmänteln, andere einfach im Tulup, der von einem breiten roten Gürtel zusammengehalten wird. Jeder hat ein Gewehr auf dem Rücken. Die Bajonette blitzen in der Sonne, dass einem die Augen schmerzen.
Ein Weib ist darunter. Mit Lippen, rot wie Preiselbeeren, und Wangen wie Äpfelchen. Kerzengerade sitzt sie im Sattel, den Kopf hoch, die Brust herausgestreckt, und lässt sich bewundern. Selbst unter dem Schafpelz kann man sehen, dass diese Brust für drei reichen würde. Mit einem Wort, ein Weib wie Milch und Blut.
Die Autorin
Gusel Jachina wurde 1977 in Kasan (Tatarstan) geboren. Dort studierte sie Germanistik und Anglistik und absolvierte folgend die Moskauer Filmhochschule. Ihr Romandebüt wurde unter anderem mit dem wichtigsten russischen Buchpreis „Bolschaja Kniga“ ausgezeichnet
Foto: Basso Cannarsa
Das Pferd hat sich endlich aus der Schneewehe herausgearbeitet und wieder festen Boden unter den Füßen. Der Reiter packt Sandugatsch beim Zaum. Der Schlitten bleibt stehen. Murtasa lässt die Zügel fahren. Er schaut die Reiter nicht an, sucht seinen grimmigen Blick zu verbergen.
»Was ist?«, fragt der Mann von der Roten Horde drohend.
»Die verstehen hier doch kein Russisch, Genosse Ignatow«, lässt da ein älterer Soldat mit einer langen Narbe über das ganze Gesicht hören.
Die Narbe ist schneeweiß und gerade, wie mit einem Lineal gezogen. Von einem Säbel, denkt Suleika.
»Kein Russisch, meinst du …« Der Mann, den sie Ignatow nennen, lässt einen prüfenden Blick über die Stute, das Fohlen, das sich unter ihren Bauch zurückgezogen hat, und Murtasa schweifen.
Der schweigt weiter. Er hat seine Pelzmütze so tief in die Stirn gezogen, dass die Augen gar nicht mehr zu sehen sind. Aus seinen kreidebleich gewordenen Nasenflügeln strömen Dampfwölkchen, die sich als Reif auf seinem Schnurrbart niederschlagen.
»Du schaust aber finster drein, Bruder«, sagt Ignatow versonnen.
»Bestimmt hat seine Frau ihm zugesetzt!«, wirft der mit dem Goldzahn ein und zwinkert Suleika zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge zu. Seine Augäpfel sind trüb wie Haferschleim und seine Pupillen klein wie Stecknadelköpfe. Die anderen lachen. »Tatarinnen haben Haare auf den Zähnen! Mit so einer leg dich lieber nicht an! Stimmt’s, Grünäuglein?«
So hat der Vater Suleika als Kind genannt. Wie lange ist das schon her. Sie hat glatt vergessen, welche Farbe ihre Augen haben.
Jetzt lacht der Trupp noch lauter. Zehn freche, spöttische Augenpaare mustern sie zudringlich. Sie zieht das Kopftuch über die Wangen, die sofort puterrot angelaufen sind.
»Streng mögen sie sein, aber nicht besonders hübsch«, lässt das Busenweib lässig fallen und wendet sich ab.
»Na ja, im Vergleich zu dir …!«, grölen die Männer.
Suleika hört, wie der Mann hinter ihrem Rücken heiser und unter höchster Anspannung atmet.
»Schluss damit!« Ignatow wendet den Blick nicht von Murtasa. »Wo bist du denn heute in aller Frühe hingefahren, Bauer? Und auch noch mit der Frau. Holz hast du nicht geschlagen, wie man sieht. Was hattest du im Wald verloren? Schau nicht weg. Ich sehe, dass du jedes Wort verstehst.«
In der Stille prusten laut die Pferde und scharren mit den Hufen. Suleika kann es nicht sehen, aber sie spürt, dass die Falte auf Murtasas Stirn immer tiefer wird, sich in seinen Schädel bohrt, und das Grübchen auf seinem Kinn zittert wie der Schwimmer über dem Angelhaken, an dem ein Fisch zappelt.
»Haben Pilze aus dem Schnee gegraben«, sagt der mit dem Goldzahn und hebt mit seinem Bajonett Suleikas Rock ein wenig an, sodass unter den Säcken die Spaten hervorlugen. »Aber viel gefunden haben sie nicht!« Dabei spießt er einen der Säcke auf sein Bajonett und wedelt damit in der Luft herum.
Der ganze Trupp hält sich die Seiten vor Lachen. Da fallen ein paar große gelbe Körner aus dem Sack in Suleikas Schoß. Das Lachen reißt augenblicklich ab.
Suleika schaut in ihren Schoß, zieht rasch den Fausthandschuh ab und sammelt die Körner in ihre Faust. Ohne ein Wort umstellen die Reiter den Schlitten. Murtasas Hand bewegt sich langsam in Richtung der Axt, die in seinem Gürtel steckt.
Ignatow wirft die Zügel dem Soldaten zu, der ihm am nächsten steht, und steigt vom Pferd. Er tritt an Suleika heran, nimmt ihre Faust in beide Hände und öffnet sie mit Gewalt. Aus der Nähe gesehen, sind seine Augen gar nicht dunkel, sondern hellgrau wie das Wasser im Fluss. Schöne Augen. Seine Finger sind trocken und unerwartet heiß. Und sehr stark. Suleikas Faust öffnet sich. Nun liegen auf ihrer Handfläche lange, glatte, in der Sonne honigfarben glänzende Getreidekörner. Saatweizen erster Güte.
»Das also sind eure Pilze …«, sagt Ignatow leise. »Aber vielleicht habt ihr Kulakenbrut etwas ganz anderes im Wald vergraben?«
Murtasa, der bisher wie ein Ölgötze dagesessen hat, fährt plötzlich auf dem Schlitten herum und starrt Ignatow hasserfüllt ins Gesicht. Er schnappt nach Luft, sein Kinn zittert. Ignatow knöpft die Pistolentasche am Gürtel auf, zieht einen schwarzen Revolver mit langem furchteinflößendem Lauf heraus, richtet ihn auf Murtasa und entsichert.
»Ich gebe nichts her!«, zischt Murtasa heiser. »Diesmal gebe ich nichts mehr her!«
Schon schwingt er die Axt. Alle Gewehre sind im Anschlag. Ignatow zieht den Abzugshahn, ein Schuss kracht und hallt als vielfaches Echo aus dem Wald zurück. Sandugatsch wiehert erschrocken auf. Von den Tannen flüchten Elstern und verschwinden mit lautem Krächzen im Gebüsch. Murtasa fällt mit dem Gesicht nach unten in den Schlitten, der heftig erbebt.
Jetzt sind alle Gewehre auf Suleika gerichtet: schwarze Mündungen unter scharfen, blitzenden Bajonetten. Aus dem Revolver steigt blauer Rauch auf. Es riecht bitter nach Pulver.
Verblüfft schaut Ignatow auf den im Schlitten liegenden leblosen Körper. Mit der Hand, die noch den Revolver hält, wischt er sich über die Oberlippe und steckt dann die Waffe in die Tasche zurück. Er hebt die Axt auf und jagt sie in den hinteren Teil des Schlittens, nur einen Fingerbreit neben Murtasas Kopf. Dann schwingt er sich in den Sattel, treibt das Pferd an und sprengt, ohne sich umzuschauen, in einer Wolke von Schnee auf dem Weg davon.
»Genosse Ignatow!«, ruft ihm der Soldat mit der Narbe nach. »Was wird mit der Frau?«
Der winkt nur ab. Was wohl bedeuten soll: Lasst sie!
Es wird Abend
Die Reiter eilen ihrem Kommandeur nach. Sie umrunden den Schlitten wie Wellen eine Insel. Pelzjacken mit kraushaarigen Kragen, zottige Pelzmützen, graue Uniformmäntel und Hosen mit roten Biesen fliegen vorbei, dem Reiter mit der Budjonny-Mütze nach. Bald ist das Hufgetrappel verstummt. Ganz allein bleibt Suleika in der Stille des Waldes zurück.
Reglos sitzt sie da, die Hände auf den Knien, die kleine Faust um die Weizenkörner geschlossen. Vor ihr liegt Murtasas mächtiger Körper. Er hat Arme und Beine weit von sich gestreckt, den Kopf zur Seite gedreht, den Bart über die Schlittenbretter gebreitet. Er liegt, wie er sonst auf dem Sjake schläft – den ganzen Raum einnehmend. Und lässt nicht einmal für die kleine Suleika Platz.
Wind fährt durch die Baumwipfel. Im Wald knarren Fichten. Nach ein paar Stunden wird das Fohlen hungrig, sucht das Euter der Mutter und trinkt. Sandugatsch senkt zufrieden den Kopf.
Ohne Eile zieht die Sonne ihre Bahn über den Horizont, bevor sie in dicke Schneewolken eintaucht, die von Osten kommen. Es wird Abend. Schnee fällt vom Himmel.
Auch ohne den gewohnten Ruf ihres Herrn und den leichten Schlag mit dem Zügel auf die Kruppe tut Sandugatsch schließlich einen unsicheren Schritt vorwärts. Dann einen zweiten und einen dritten. Knirschend setzt sich der Schlitten in Bewegung. Das Pferd geht den Weg nach Julbasch zurück, umsprungen von dem fröhlichen, satten Fohlen. Der Bock ist leer, verwaist liegen die Zügel. Im Schlitten, den Rücken zum Pferd, sitzt Suleika und schaut mit leerem Blick auf den sich entfernenden Wald.
An der Stelle, wo der Schlitten den ganzen Tag gestanden hat, bleibt ein dunkelroter Fleck von der Größe eines Brotlaibes zurück. Der fallende Schnee hat ihn bald zugedeckt.
Sosehr Suleika sich auch müht, sie kann sich später nicht daran erinnern, wie sie das Haus erreicht hat. Dass sie das Pferd eingespannt auf dem Hof zurückgelassen, ganz allein Murtasa bei den Achseln gepackt und ins Haus geschleppt hat. Wie schwer der leblose Körper des Mannes wog, wie laut seine Absätze auf den Stufen der Vortreppe polterten.
Sie hat ihm die Kissen aufgeschüttelt (weil er gern hoch schläft), ihn ausgezogen und auf den Sjake gelegt. Sich selbst daneben. Längst war das Holz niedergebrannt, das Murtasa am Morgen in den Ofen geworfen hatte, schon knarrten die Rundhölzer des im Frost abkühlenden Hauses. Das am Vortag beschädigte Fenster war vollends zersprungen, und durch die quadratische Öffnung drang heftiger Wind, mit stechendem Graupel vermischt, ins Haus. Aber sie lagen da, Schulter an Schulter und schauten mit weit geöffneten Augen zur Decke, die zunächst dunkel war, dann von fahlem Mondlicht erhellt wurde und sich schließlich wieder verfinsterte. Zum ersten Mal jagte sie Murtasa nicht in die Frauenhälfte zurück. Das war ganz erstaunlich. Und das Gefühl maßlosen Staunens wird das Einzige sein, was Suleika von dieser Nacht im Gedächtnis bleibt.
Als sich am Himmelsrand die ersten Vorboten einer frostigen Morgendämmerung zeigen, klopft es am Tor. Es ist ein Hämmern, laut, zornig und hartnäckig. So böse und unerbittlich poltert der müde Hausherr, der bei seiner Rückkehr feststellen muss, dass jemand sein Heim von innen verschlossen hat.
Für Suleika ist es ein fernes, dumpfes Geräusch, das sie wie durch ein Kissen wahrnimmt. Aber sie findet nicht die Kraft, den Blick von der Zimmerdecke zu lösen. Soll Murtasa aufstehen und öffnen. Bei Nacht ans Tor zu gehen ist nicht Frauensache.
Schließlich springt der Riegel am Tor auf, und ungebetene Gäste dringen ein. Stimmen sind zu hören, Pferde wiehern. Mehrere große Schatten schweben auf dem dunklen Hof hin und her. Dann klappt die Tür des Vorhauses, kurz darauf die Tür zu ihrer Haushälfte.
»Ist das eine Kälte hier! Sind denn alle schon tot?«
»Heiz doch mal einer den Ofen! Sonst fahren wir bald alle zur Hölle!«
Beschlagene Stiefel trampeln über die kalten Dielen. Die knarren laut und klagend. Die Ofentür klappert. Ein Streichholz wird entzündet, es riecht scharf nach Schwefel. Im Ofen beginnt ein Feuer zu knistern.
»Wo sind bloß die Hausbewohner?«
»Die finden wir schon noch, nur Ruhe. Erst einmal sehen wir uns um.«
Der Docht einer Lampe flammt auf, krumme schwarze Schatten tanzen über die Wände, und schon verbreitet sich weiches, warmes Licht im Haus. Ein Gesicht mit dicker Nase und großen Pockennarben beugt sich über Suleika. Es ist der Vorsitzende des Dorfsowjets, Mansurka aus Repje. Er hält die Petroleumlampe dicht neben seinem Kopf, wodurch die Narben tief, wie mit einem Löffel ausgekratzt, erscheinen. Für Suleika hat er nur einen gleichgültigen Blick übrig. Dann betrachtet er Murtasas eingefallenes Gesicht, prüft bestürzt den getrockneten schwarzen Fleck auf seiner Brust und lässt ein verlegenes Pfeifen hören.
»Wir wollten eigentlich zu deinem Mann, Suleika …«
Mansurkas Mund entweicht ein frostiges Atemwölkchen. Er spricht Russisch mit starkem Akzent, aber rasch und fließend. Besser als Suleika. Er hat gelernt, mit den Leuten von der Roten Horde zu labern.
»Steh auf, wir müssen reden.«
Suleika weiß nicht, ob sie träumt oder wacht. Wenn sie träumt, weshalb blendet das Licht dann so? Wenn sie wacht, weshalb kommen dann Laute und Gerüche von so weit her, wie aus dem Keller, zu ihr?
»Suleika!« Der Vorsitzende packt sie bei der Schulter und schüttelt sie, zuerst ein wenig, dann kräftiger. »Steh auf, Frau!«, ruft er schließlich laut und ungehalten auf Tatarisch.
Auf die bekannten Worte reagiert der Körper wie das Pferd auf den Schlag mit dem Zügel. Suleika stellt die Füße auf den Boden und setzt sich auf.
»Na also«, brummt Mansurka zufrieden und wechselt wieder ins Russische. »Genosse Bevollmächtigter, wir sind so weit!«
Mitten im Raum, die Hände am Koppel, steht breitbeinig Ignatow. Ohne Suleika anzuschauen, zieht er aus der harten ledernen Kartentasche ein zerknittertes Stück Papier und einen Bleistift. Gereizt blickt er sich um.
»Was für ein Haus ist das – ohne Tisch und Bank! Wie soll ich denn da ein Protokoll schreiben?«
Eilig klopft der Vorsitzende mit der flachen Hand auf den Deckel der Truhe am Fenster. »Hier geht es.«
Irgendwie richtet sich Ignatow auf der Truhe ein, die Leinendecke wird von seiner hohen Gestalt zerknüllt und rutscht schließlich auf den Boden. Er haucht in die Hände, um sie zu wärmen, spuckt auf die Spitze des Bleistifts und beginnt etwas aufs Papier zu kritzeln.
»Das sozialistische Leben haben wir ihnen noch nicht beigebracht«, murmelt Mansurka in entschuldigendem Ton. »Was kann man von solchen Heiden schon verlangen …«
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