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Neues Deutschland, Sa. 16. Oktober 1965:
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Gegen Dreck
oder: Sich gehenlassen ist nicht das Gegenteil von gegängelt werden
In einer Berliner Oberschule gab es einen jungen Mann, der sich offenbar die sogenannten Gammler, das sind ganz besondere Blüten der westlichen Lebensweise, zum Leitbild erkoren hatte. Da man nicht erwarten kann, daß ein ND-Leser, der tagsüber etwas Wichtigeres zu tun hat, als sich über alle Feinheiten der kapitalistischen Kultur zu informieren, im Bilde ist, worum es geht, sei hier noch einmal kurz erklärt, was Gammler sind: Das sind Leute, die nicht arbeiten, nichts lernen, sich nicht waschen, möglichst zerlumpt herumlaufen und sich durch einen äußerst schmutzigen, verfilzten Haarschopf auszeichnen, den sie sorgfältig vor der Schere des Friseurs hüten.
Der Schüler der oben genannten Schule hatte also seinen Ehrgeiz dareirt gesetzt, sich gleichfalls nicht mehr zu waschen und seine Haare wild wuchern zu assen.
Zunächst bedachte man ihn mit gutmütigem Spott. Doch als es in der Klasse anfing zu stinken und er gegenüber der Lehrerin unverschämt wurde und den Unterricht ernsthaft störte, entschlossen sich einige Schüler, die Mitglieder der FDJ sind, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie packten ihn und scherten ihm die Haare,
Diese Tat der FDJler verdient volle Anerkennung. Sie sollte Schule machen, damit die Manie, wie ein verwildertes Ferkel herumzulaufen, sich nicht erst in unserem sauberen Staat ausbreitet.
Es ist bekannt, daß manche Erwachsene etwas bedenklich sind, die gleichen Methoden wie die FDJler anzuwenden. Offensichtlich fürchten sie, als verkalkte Dogmatiker bezeichnet zu werden oder als Leute, die einen künftigen Hausherrn unserer Republik allzusehr gängeln und seine bemerkenswerte Persönlichkeit verbiegen.
Da liegt ein Irrtum vor: Niemand will die Jugend gängeln. Doch das Gegenteil von Gängeln heißt nicht, sich gehen-' zulassen! Ein künftiger Hausherr unseres sozialistischen Staates soll nicht be- vormundet werden. aber er bedarf durchaus noch des Belehrens und der Führung, denn er muß einmal eine große Verantwortung übernehmen. Und dazu ist wohl das Mindeste, daß man sich hin und wieder die Fingernägel schneidet. Jedenfalls haben wir es nicht notig, uns durch ihren unästhetischen Anblick ärgern zu lassen.
Man sollte also ruhig allen, die den Gammler-Dreck so hübsch finden, sagen: Liebe Jungens, da ihr nicht allein auf der Welt lebt, sondern zur Schule geht und euch von schwer arbeitenden Leuten unterrichten laßt, da ihr beabsichtigt, mitten unter uns zu arbeiten und euer Geld zu verdienen, da ihr schließlich auch Straßenbahn fahrt oder ma ins Kino geht, benehmt euch bitte so, daß es für eure Mitmenschen angenehm ist. euch zu sehen. Dabei ist nicht so wichtig, wie lang oder wie kurz ihr die Haare tragt, aber wir verbitten uns, daß ihr durch ein verkommenes Äußere und entsprechendes Gehabe eine Lebensauffassung demonstriert, die absolut nicht in unsere Zeit paßt.
Wenn ihr das nicht begreift, muß man euch leider ohne Krankenschein, einer hygienischen Behandlung unterziehen, und wenn ihr dabei allzusehr zappelt oder schreit, muß man schon etwas fest zupacken.
Übrigens: Der Junge aus der Berliner Schule hat s begriffen. Er ist dank der Hilfe der FDJler inzwischen wieder der feine Kerl, der er vorher war. Fl.
http://kyf.net/freitag/utb.php?d=28.02.2013
http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de
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